26. November 2015

Ein pseudoakademischer Luftballon

Ein Gastkommentar von Felix Schmutz zur Erneuerung des Fremdsprachenunterrichts an den Volksschulen.
"Passepartout" - ein pseudoakademischer Luftballon, Basellandschaftliche Zeitung, 21.11. von Felix Schmutz


Die Kritik am Französischlehrmittel «Mille feuilles» reisst nicht ab. Davon unbeeindruckt wird das Projekt «Passepartout» durchgedrückt. Die sechs Kantone an der französischen Sprachgrenze (BL, BS, SO, BE, FR, VS) wollen damit ihren Fremdsprachenunterricht erneuern. Die Verantwortlichen verweisen auf die angeblich «zeitgemässen» Unterrichtskonzepte. Ein genauer Blick zeigt aber, dass die Fachleute aus einseitigen Quellen schöpfen, unbewiesene Behauptungen aufstellen, Bewährtes über Bord werfen und dem Projekt reformpädagogische Ideen unterjubeln. Verbesserung des Unterrichts oder ideologiegefärbtes Methodendiktat?

Beispiel Mehrsprachigkeitsdidaktik: Das Unwort verweist auf die Annahme, es sei leichter, mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen, als sich nur auf eine neue zu konzentrieren. Es gebe Synergie-Effekte, neue Kompetenzen. Angestrebt wird eine sogenannte «funktionale Mehrsprachigkeit». Alle sollen sich in mehreren Sprachen der Spur nach ein wenig ausdrücken können. Schüler sollen die Sprachen beim Lernen ständig vergleichen.

Tatsächlich helfen Wortverwandtschaften und ähnliche Strukturen, Fremdsprachliches leichter zu verstehen und sich einzuprägen. Ist das neu? Nein, solche Beobachtungen gehörten schon immer zum Unterricht. Ist damit viel gewonnen? Nein, denn die Ähnlichkeit sagt noch nichts aus über den Gebrauch der Wörter in den jeweiligen Sprachen. Dieser folgt spracheigenen Regeln, die unabhängig gewachsen sind. In unkundigen Händen führen Sprachvergleiche leicht zu Irrtümern und Verwechslungen. Im besten Fall entsteht theoretisches Wissen, das sich nicht in die praktische Anwendung übertragen lässt. Der Weg über die «Mehrsprachigkeit» dürfte eher überfordern. Das Ganze ist ein pseudoakademischer Luftballon.

Ein anderes Konzept von «Passepartout» ist der Konstruktivismus, wonach nur gelernt werden kann, was jedes Gehirn sich selbst zusammenbaut, indem es das Neue mit Bekanntem verknüpft. Das Eintauchen in die Fremdsprache («Sprachbad») soll diese Konstruktion anregen. Authentische Texte, offene Arbeitsaufträge für Gruppenaktivitäten und wenig direkte Intervention der Lehrperson genügten, um die Sprache quasi automatisch zu lernen, wobei Fehler als natürliche Schritte auf dem Lernweg stehen bleiben dürfen.

Dies ist aus mehreren Gründen illusorisch: Erstens ist im Schulalter die Zeit des «natürlichen» Lernens der Muttersprache längst vorbei, es muss jetzt bewusst gelernt werden. Zweitens besteht das Handicap, dass Kinder die Fremdsprache nicht im Sprachgebiet, sondern hier im Klassenzimmer unter ihresgleichen während nur zwei bis drei Lektionen pro Woche lernen müssen. Drittens besteht das Lernen nicht nur aus Konstruieren. Der Zusammenbau der neuen Kenntnisse ist zwar ein wichtiger Teil des Prozesses, aber nicht der ganze: Es müssen auch neue klangliche Wortformen und Satzmuster aufgenommen werden, die Lernende mit nichts Bekanntem verknüpfen können.

Das Neue muss ferner memoriert und vielfältig geübt werden, damit sich im Gehirn Gedächtnisspuren bilden können, die erst flüssiges Reden ermöglichen. Viertens sollen die Lernenden die Sprache nicht neu konstruieren, sondern eine existierende Sprache übernehmen, sich in sie hineindenken, sich an sie anpassen. Das bedeutet Erweiterung der eigenen Identität. Fünftens können sich Fehler einbrennen und sind kaum mehr wegzukriegen, wenn sie nicht sofort verständnisvoll, aber konsequent korrigiert werden.
Die Didaktiker von «Passepartout» sind der Meinung, es brauche kein grammatikalisches Gerüst, da sich die Formen nach universal gültigen Prinzipien mit der Zeit von selbst einstellten. Tatsache ist jedoch, dass in der Forschung die Meinung vorherrscht, eine sorgfältig aufgebaute Instruktion vom Einfachen zum Schwierigen unterstütze und beschleunige diese mentale Eigentätigkeit. Instruktion heisst nicht stures Büffeln, sondern Erklären und inhaltlich sinnvolles Üben. Das alleine böte genügend Stoff für Unterrichtsverbesserung.

Schliesslich ergänzt «Passepartout» die genannten Konzepte durch modische Reformpädagogik: individualisiertes Lernen, Vermeidung des gemeinschaftlichen Unterrichts (verteufelt als Frontalunterricht), Abgabe der Unterrichtsverantwortung an interaktive Lerngruppen, Propagierung des Medieneinsatzes und der Selbstbeurteilung. All dem ist gemeinsam, dass Lehrpersonen nicht mehr in direkten Kontakt mit der ganzen Gruppe treten sollen, obwohl man weiss, dass Sprache sich am besten von kompetenten Vorbildern lernen lässt.


Der Autor (64) war 38 Jahre Lehrer für Deutsch, Französisch und Englisch an der Sekundarstufe I in Basel (bis 2011). Er verfasste eine Analyse zur Schulreform in Basel.

1 Kommentar:

  1. Mir aus der Seele gesprochen! Insbesondere die Bezeichnung "pseudoakademischer Luftballon" trifft den Nagel auf den Kopf. Da werden nicht mehr ganz junge Thesen zur Didaktik der Mehrsprachigkeit plötzlich zu Studienergebnissen befördert und die Schulen einer ganzen Sprachregion zu Versuchslabors.

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