16. Oktober 2015

Unterrichtsideologien und der Lehrplan 21

Was macht man mit einem «Lehrplan», der keiner ist? – Was sollen Lehrplan 21-kompatible Lehrmittel, wenn sie hauptsächlich für die Verlage hilfreich sind? – Was machen Lehrpersonen, wenn sie aufgrund einer verordneten Unterrichtsdoktrin nicht mehr eigenverantwortlich unterrichten dürfen? – Es sind genau solche, auf den ersten Blick aberwitzige, Fragen, welche die Problematik des Lehrplans 21 andeuten.
Lehrplan 21 - Die Krux mit der Debatte, Blog Südostschweiz, 14.10. von Fritz Tschudi


Moderne Lehrpläne sind komplexe Gebilde. Längst sind die Zeiten vorbei, wo einfache Stoffsammlungen den Lehrern die Richtung wiesen und den Gehalt ihres Unterrichts bestimmten. Der Lehrplan 21, welche nach dem Willen der Regierung auch in Graubünden eingeführt werden soll, umfasst 470 Seiten und weit über 1000 «Kompetenzen».
Mit dem neuen Konzept der Kompetenzorientierung stellte sich der Lehrplanforscher Rudolf Künzli die Frage, ob diesem Werk überhaupt die Bezeichnung «Lehrplan» zusteht. Der Zürcher Bildungsforscher Urs Moser, bestätigte denn auch freimütig, dass dieser Lehrplan nicht für die direkte Verwendung durch die Lehrer, sondern als Basis für die nationale Kontrolle des Bildungssystems, zur Datengenerierung für die Vermessung des Leistungsstandes an den einzelnen Schulen gedacht sei. Die Initianten der kürzlich lancierten Volksinitiative und mit ihnen viele besorgte Bürger, Eltern, Fachleute, aber auch manche Politiker erachten das Konzept dieses Lehrplans als Schritt in die falsche Richtung.
Die Debatte um den Lehrplan 21 ist demnach eine demokratische Notwendigkeit.
In  diesem Zusammenhang interessiert der Artikel von Redaktor Stefan Bisculm in der «Südostschweiz» vom 5.Oktober 2015. Unter dem Titel «Die meisten Kantonsschüler kommen aus dem Montalin» ist nach Angaben der Churer Schuldirektion u.a. ein «Ranking» der Kantonsschulquote, fein säuberlich aufgeschlüsselt nach Schulhäusern, für den Zeitraum zwischen 2007 und 2015 abgedruckt. Mit einem Kantonschüleranteil von 35,6 Prozent  steht das Montalinschulhaus mit Abstand an der Spitze. Dann folgen sieben weiteren «Plätze» und das Schlusslicht trägt das Schulhaus Barblan mit einem Anteil von 9,4 Prozent. Die Unterschiede wurden im Artikel einsichtig erklärt. Es wird betont, das Ergebnis könne keiner unterschiedlichen Unterrichtsqualität zugeschrieben werden. Die Differenzen gründeten auf unterschiedlichen Elternpopulationen mit unterschiedlichem gesellschaftlichem Hintergrund.
Tags darauf erschien ein Leserbrief eines langjährigen Lehrers: «Man liest, was man lesen will: top und flop», schreibt er. «Auch wenn der Churer Schuldirektor Jann Gruber im informativen Artikel festhält, dass die Maturitätsquote, die Qualität der Schularbeit betreffend, nicht aussagekräftig ist, bleiben allgemein die beiden herausgehobenen Überschriften dieses Artikels hängen…» – Wie recht er hat! Es bleibt haften, was die Autoren explizit nicht beabsichtigten: Montalin top, Barblan flop!
Stellen Sie sich vor, in einigen Jahren finden sich in den Tageszeitungen Ranglisten, welche verkünden, in welchen Schulhäusern die erfolgreichsten Lehrpersonen wirken, wo wie viele Kinder ihre Kompetenzziele erreicht, bzw. nicht erreicht haben, oder welche besonderen Qualitäten bzw. Defizite die Lehrerteams in den einzelnen Schulhäuser nach Meinung der Evaluatoren auszeichnen usw.… Die Folgen wären verheerend.
Die Erziehungsdirektoren beteuern stets, keine Ergebnisse der künftigen Vermessung  von Schulen im Rahmen des «nationalen Bildungsmonitorings» öffentlich zu machen. Dennoch vermag niemand die reale Gefahr auszuschliessen, dass vertrauliche Informationen auf irgendwelchen Schleichwegen publik würden. Es stellt sich zudem die Frage, ob die heute gültigen Versprechen in Stein gemeisselt sind. Die Erfahrung spricht dagegen.
Eine öffentliche Grundsatzdebatte zur Kompetenzorientierung des vor rund acht Jahren gestarteten Projekts «Lehrplan 21» hat nie stattgefunden.
Bis heute fehlen einsichtige Erklärungen, warum die d-EDK (Konferenz der Erziehungsdirektoren der deutsch- und gemischtsprachigen Kantone) eine mögliche Weiterentwicklung des inhaltbasierten Unterrichts plötzlich für untauglich hielt. Warum das unvermittelte Bekenntnis zur Kompetenzorientierung? Warum wurde ein zuvor bereits aufgegleistes Projekt für einen harmonisierten «Gemeinsamen Deutschschweizer Lehrplan», auf der Basis der kantonalen Lehrpläne abrupt und in aller Stille versenkt? Die Harmonisierung gemäss Bildungsartikel 62 in der Bundesverfassung kann nicht der Grund gewesen sein, denn die geforderte Harmonisierung der Bildungsziele wäre mit jedem beliebigen Lehrplankonzept gleichermassen möglich gewesen. Darum ist die Beschwörung des Bildungsartikels zur Begründung der «Unverzichtbarkeit» der Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 absolut haltlos.
Mitblogger Fabio Cantoni bedient sich in seinem letzten Eintrag unter dem Titel «Achten Sie auf das Kleingedruckte!», eines Auftritts, welcher grundsätzlich jede Kritik am Lehrplan 21 und an der ihn begleitenden neuen Unterrichtsdoktrin des «selbstbestimmten Lernens» wegzuwischen sucht. Er reagiert aufgrund seines Unbehagens über die kürzlich erfolgte Lancierung der Volksinitiative «Gute Schule Graubünden – Mitsprache des Volkes bei Lehrplänen».
Denn nun müssen die Befürworter des neuen Konzepts wider Erwarten in Kauf nehmen, dass bereits sicher geglaubtes Terrain auch hierzulande öffentlich debattiert und Pro und Contra zum Lehrplan 21 endlich offengelegt werden müssen.
Jedenfalls scheint der vom Bündner Lehrerverband (LEGR) und der Pädagogischen Hochschule (PHGR) gemeinsam, unter Ausblendung jeder substanziellen Kritik, propagierte und als alternativlos befundene Lehrplan 21 erstmals auf ernsthaften Widerstand im eigenen Kanton gestossen zu sein. Auf bedauerliche Ausrutscher und Missdeutungen in Cantonis Text werde ich bei anderer Gelegenheit wohl zurückkommen.
Leider fand sich bislang keine Institution in unserem Kanton, welche es für nötig hielt, die Debatte in die Presse zu tragen. Selbst den Lehrerinnen und Lehrern wurde fleissig verkündet, gepredigt, propagiert um den Geist auf Phasengleichheit zu trimmen. Die Bevölkerung ist aber – welch ein Glück – weitgehend ahnungslos geblieben. Der Lehrerverband und die Pädagogische Hochschule betrachteten die offizielle Stossrichtung um den Lehrplan 21 seit jeher als grundsätzlich unantastbar. Auf den Diskurs auf Augenhöhe, wo auch Andersdenkende gleichberechtigt zu Worte kommen, warten wir bis heute vergeblich.
Dass 89 Prozent der Lehrer laut Inspektoratsbericht gut «erklären» können, ist für mich ein erfreuliches Ergebnis, das ich nicht anders erwartet hätte. Im Zusammenhang mit dem selbstbestimmten Lernen ist dieser positive Befund aber kaum von Belang. Die konstruktivistische Deutungsmacht würde diesem Tun ein rasches Ende bereiten, denn direktes Vermitteln von Wissen durch eine Lehrperson gilt als «Eingriff in die Lernautonomie des Kindes…» und ist darum abzulehnen… oder etwa nicht? Es ist den Lehrenden explizit untersagt, Schülerinnen und Schülern in «direkter Instruktion» (Hattie) Wissen zu vermitteln, höchste Effizienz hin oder her!
Fabio Cantoni unterstellt der Initiative, es werde dort eine «ungenügende Leistung von Lehrpersonen» beklagt. Abgesehen davon, dass uns ein derartiges Verdikt nicht zusteht, haben die immer offenkundiger werdenden Missstände einen Namen: Sie sind die Folge des sektiererisch anmutenden «Gottesdienstes» am Konstruktivismus (Roland Reichenbach). Die «Lernbegleiter» setzen nur in der Praxis um, was sie in der Aus- und Weiterbildung verordnet bekommen. Daraus folgt: Die wirkungsvollste Reformmassnahme ist die Stärkung der Lehrpersonen in ihrer Eigenständigkeit und Selbstverantwortung.
Der eigenverantwortlich gestaltete Unterricht ist jeder fremdverordneten Unterrichtsideologie vorzuziehen, weil jener die Authentizität des Unterrichtenden widerspiegelt. An diesem Grundsatz führt kein Weg vorbei, wenn man den Erfolg wirklich will.

Fazit: Entweder respektiert der Staat die Professionalität und Mündigkeit seiner Lehrpersonen und hält sich zurück, oder die Lehrpersonen müssen sich selber helfen. Dies auch deshalb, weil die konstruktivistische Unterrichtsdoktrin totalitäre Züge trägt: Sie beansprucht nicht nur die alleinige Deutungsmacht für guten Unterricht, sie sorgt zudem für die faktische Abschaffung der freien Methodenwahl und behindert so einen kreativen, motivierenden Unterricht. Unterrichtsideologien gehören nicht in den Dunstkreis  von Lehrplänen und auch nicht umgekehrt…

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen