Was macht man mit einem «Lehrplan», der
keiner ist? – Was sollen Lehrplan 21-kompatible Lehrmittel, wenn sie
hauptsächlich für die Verlage hilfreich sind? – Was machen Lehrpersonen, wenn
sie aufgrund einer verordneten Unterrichtsdoktrin nicht mehr eigenverantwortlich
unterrichten dürfen? – Es sind genau solche, auf den ersten Blick aberwitzige, Fragen, welche die Problematik des Lehrplans 21 andeuten.
Lehrplan 21 - Die Krux mit der Debatte, Blog Südostschweiz, 14.10. von Fritz Tschudi
Moderne Lehrpläne sind komplexe
Gebilde. Längst sind die Zeiten vorbei, wo einfache Stoffsammlungen den Lehrern
die Richtung wiesen und den Gehalt ihres Unterrichts bestimmten. Der Lehrplan
21, welche nach dem Willen der Regierung auch in Graubünden eingeführt werden
soll, umfasst 470 Seiten und weit über 1000 «Kompetenzen».
Mit dem neuen Konzept der
Kompetenzorientierung stellte sich der Lehrplanforscher Rudolf Künzli die
Frage, ob diesem Werk überhaupt die Bezeichnung «Lehrplan» zusteht. Der Zürcher
Bildungsforscher Urs Moser, bestätigte denn auch freimütig, dass
dieser Lehrplan nicht für die direkte Verwendung durch die Lehrer, sondern als
Basis für die nationale Kontrolle des Bildungssystems, zur Datengenerierung für
die Vermessung des Leistungsstandes an den einzelnen Schulen gedacht sei. Die
Initianten der kürzlich lancierten Volksinitiative und mit ihnen viele besorgte
Bürger, Eltern, Fachleute, aber auch manche Politiker erachten das Konzept
dieses Lehrplans als Schritt in die falsche Richtung.
Die Debatte um den Lehrplan 21 ist
demnach eine demokratische Notwendigkeit.
In diesem Zusammenhang
interessiert der Artikel von Redaktor Stefan Bisculm in der «Südostschweiz» vom
5.Oktober 2015. Unter dem Titel «Die meisten Kantonsschüler kommen aus dem
Montalin» ist nach Angaben der Churer Schuldirektion u.a. ein «Ranking» der
Kantonsschulquote, fein säuberlich aufgeschlüsselt nach Schulhäusern, für den
Zeitraum zwischen 2007 und 2015 abgedruckt. Mit einem Kantonschüleranteil von
35,6 Prozent steht das Montalinschulhaus mit Abstand an der Spitze. Dann
folgen sieben weiteren «Plätze» und das Schlusslicht trägt das Schulhaus
Barblan mit einem Anteil von 9,4 Prozent. Die Unterschiede wurden im Artikel
einsichtig erklärt. Es wird betont, das Ergebnis könne keiner unterschiedlichen
Unterrichtsqualität zugeschrieben werden. Die Differenzen gründeten auf
unterschiedlichen Elternpopulationen mit unterschiedlichem gesellschaftlichem
Hintergrund.
Tags darauf erschien ein Leserbrief
eines langjährigen Lehrers: «Man liest, was man lesen will: top und flop»,
schreibt er. «Auch wenn der Churer Schuldirektor Jann Gruber im informativen
Artikel festhält, dass die Maturitätsquote, die Qualität der Schularbeit
betreffend, nicht aussagekräftig ist, bleiben allgemein die beiden herausgehobenen
Überschriften dieses Artikels hängen…» – Wie recht er hat! Es bleibt haften,
was die Autoren explizit nicht beabsichtigten: Montalin top, Barblan flop!
Stellen Sie sich vor, in einigen Jahren
finden sich in den Tageszeitungen Ranglisten, welche verkünden, in welchen
Schulhäusern die erfolgreichsten Lehrpersonen wirken, wo wie viele Kinder ihre
Kompetenzziele erreicht, bzw. nicht erreicht haben, oder welche besonderen
Qualitäten bzw. Defizite die Lehrerteams in den einzelnen Schulhäuser nach Meinung
der Evaluatoren auszeichnen usw.… Die Folgen wären verheerend.
Die Erziehungsdirektoren beteuern
stets, keine Ergebnisse der künftigen Vermessung von Schulen im Rahmen
des «nationalen Bildungsmonitorings» öffentlich zu machen. Dennoch vermag
niemand die reale Gefahr auszuschliessen, dass vertrauliche Informationen auf
irgendwelchen Schleichwegen publik würden. Es stellt sich zudem die Frage, ob
die heute gültigen Versprechen in Stein gemeisselt sind. Die Erfahrung spricht
dagegen.
Eine öffentliche Grundsatzdebatte zur
Kompetenzorientierung des vor rund acht Jahren gestarteten Projekts «Lehrplan
21» hat nie stattgefunden.
Bis heute fehlen einsichtige
Erklärungen, warum die d-EDK (Konferenz der Erziehungsdirektoren der deutsch-
und gemischtsprachigen Kantone) eine mögliche Weiterentwicklung des
inhaltbasierten Unterrichts plötzlich für untauglich hielt. Warum das
unvermittelte Bekenntnis zur Kompetenzorientierung? Warum wurde ein zuvor
bereits aufgegleistes Projekt für einen harmonisierten «Gemeinsamen Deutschschweizer
Lehrplan», auf der Basis der kantonalen Lehrpläne abrupt und in aller
Stille versenkt? Die Harmonisierung gemäss Bildungsartikel 62 in der
Bundesverfassung kann nicht der Grund gewesen sein, denn die
geforderte Harmonisierung der Bildungsziele wäre mit jedem beliebigen
Lehrplankonzept gleichermassen möglich gewesen. Darum ist die
Beschwörung des Bildungsartikels zur Begründung der «Unverzichtbarkeit» der
Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 absolut haltlos.
Mitblogger Fabio Cantoni bedient sich
in seinem letzten Eintrag unter dem Titel «Achten Sie auf das Kleingedruckte!»,
eines Auftritts, welcher grundsätzlich jede Kritik am Lehrplan 21 und an der
ihn begleitenden neuen Unterrichtsdoktrin des «selbstbestimmten Lernens»
wegzuwischen sucht. Er reagiert aufgrund seines Unbehagens über die kürzlich
erfolgte Lancierung der Volksinitiative «Gute Schule Graubünden – Mitsprache
des Volkes bei Lehrplänen».
Denn nun müssen die Befürworter des
neuen Konzepts wider Erwarten in Kauf nehmen, dass bereits sicher geglaubtes
Terrain auch hierzulande öffentlich debattiert und Pro und Contra zum Lehrplan
21 endlich offengelegt werden müssen.
Jedenfalls scheint der vom Bündner
Lehrerverband (LEGR) und der Pädagogischen Hochschule (PHGR) gemeinsam, unter
Ausblendung jeder substanziellen Kritik, propagierte und als alternativlos
befundene Lehrplan 21 erstmals auf ernsthaften Widerstand im eigenen Kanton
gestossen zu sein. Auf bedauerliche Ausrutscher und Missdeutungen in Cantonis
Text werde ich bei anderer Gelegenheit wohl zurückkommen.
Leider fand sich bislang keine
Institution in unserem Kanton, welche es für nötig hielt, die Debatte in die
Presse zu tragen. Selbst den Lehrerinnen und Lehrern wurde fleissig verkündet,
gepredigt, propagiert um den Geist auf Phasengleichheit zu trimmen. Die
Bevölkerung ist aber – welch ein Glück – weitgehend ahnungslos geblieben. Der
Lehrerverband und die Pädagogische Hochschule betrachteten die offizielle
Stossrichtung um den Lehrplan 21 seit jeher als grundsätzlich unantastbar. Auf
den Diskurs auf Augenhöhe, wo auch Andersdenkende gleichberechtigt zu Worte
kommen, warten wir bis heute vergeblich.
Dass 89 Prozent der Lehrer laut
Inspektoratsbericht gut «erklären» können, ist für mich ein erfreuliches
Ergebnis, das ich nicht anders erwartet hätte. Im Zusammenhang mit
dem selbstbestimmten Lernen ist dieser positive Befund aber kaum von Belang.
Die konstruktivistische Deutungsmacht würde diesem Tun ein rasches Ende
bereiten, denn direktes Vermitteln von Wissen durch eine Lehrperson gilt als
«Eingriff in die Lernautonomie des Kindes…» und ist darum abzulehnen… oder etwa
nicht? Es ist den Lehrenden explizit untersagt, Schülerinnen und Schülern in «direkter
Instruktion» (Hattie) Wissen zu vermitteln, höchste Effizienz
hin oder her!
Fabio Cantoni unterstellt der
Initiative, es werde dort eine «ungenügende Leistung von Lehrpersonen» beklagt.
Abgesehen davon, dass uns ein derartiges Verdikt nicht zusteht, haben
die immer offenkundiger werdenden Missstände einen Namen: Sie sind die Folge
des sektiererisch anmutenden «Gottesdienstes» am Konstruktivismus (Roland
Reichenbach). Die «Lernbegleiter» setzen nur in der Praxis um, was sie in der
Aus- und Weiterbildung verordnet bekommen. Daraus folgt: Die
wirkungsvollste Reformmassnahme ist die Stärkung der Lehrpersonen in ihrer
Eigenständigkeit und Selbstverantwortung.
Der eigenverantwortlich gestaltete
Unterricht ist jeder fremdverordneten Unterrichtsideologie vorzuziehen, weil
jener die Authentizität des Unterrichtenden widerspiegelt. An diesem Grundsatz
führt kein Weg vorbei, wenn man den Erfolg wirklich will.
Fazit: Entweder respektiert der Staat
die Professionalität und Mündigkeit seiner Lehrpersonen und hält sich zurück,
oder die Lehrpersonen müssen sich selber helfen. Dies auch deshalb, weil die
konstruktivistische Unterrichtsdoktrin totalitäre Züge trägt: Sie beansprucht
nicht nur die alleinige Deutungsmacht für guten Unterricht, sie sorgt zudem für
die faktische Abschaffung der freien Methodenwahl und behindert so einen
kreativen, motivierenden Unterricht. Unterrichtsideologien gehören nicht in den
Dunstkreis von Lehrplänen und auch nicht umgekehrt…
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