19. Oktober 2015

Mille feuilles unter der Lupe

Das gemeinsame Fremdsprachenprojekt ‚Passepartout‘ zusammen mit dem Französischlehrmittel ‚Mille feuilles‘ ist in aller Munde. Felix Schmutz ist nun einen Schritt weitergegangen. In verdienstvoller Art hat er das Konzept des Passepartout-Lehrmittels ‚Mille feuilles‘ unter die Lupe genommen und dabei erstaunliche Dinge festgestellt. Erstens kommt seine Analyse zum Schluss, dass das Konzept inhärente Unstimmigkeiten aufweist – es widerspricht sich teilweise selbst. Ausserdem kann Schmutz nachweisen, dass Mille feuille – entgegen den vollmundigen Versprechungen – den aktuellen empirischen Forschungsstand ignoriert und eine abenteuerliche Blindfahrt riskiert. Dem verdutzten Leser bleibt am Schluss die quälende Frage: Wie ist es möglich, dass ein solches Konzept so lange von der Pädagogenkaste unseres Landes gebilligt wurde? (uk)




















Überforderung der Lehrenden und der Lernenden, Bild: Mille feuilles 5, Schulverlag plus
Wie soll man in der Schule Fremdsprachen lernen? Das didaktische Konzept von 'Mille feuilles' unter der Lupe, von Felix Schmutz, Oktober 2015 

Felix Schmutz

Wie soll man in der Schule Fremdsprachen lernen?

Das didaktische Konzept von Mille feuilles unter der Lupe.

Allschwil, Oktober 2015



Inhalt


Abstract. Zusammenfassung. Résumé
 2
1.
Einleitung
 3
2.
Zusammenfassende Würdigung und vier Thesen
 3
3.
Plausible Aussagen zum Fremdsprachenlernen
 5
4.
Zur Didaktik der Mehrsprachigkeit
 5
5.
Konstruktivistisches Lernverständnis
 8
6.
Kompetenzorientierung
11
7.
Inhalts- und Handlungsorientierung
13
8.
Progression
14
9.
Lernerorientierung
15
10.
Rollen der Lehrperson
17
11.
Schlussbemerkung
18
12.
Bibliografie
19






„Mit drei oder auch nur zwei Lektionen pro Woche lässt man Kinder …in ein Sprachenbad eintauchen. Das Bad ist gross wie ein Ozean, die Kinder Nichtschwimmer, aber Schwimmhilfen (Rechtschreibung, Grammatik, Wörtlilernen) sind strengstens verboten. Wer überleben will, bleibt besser am Ufer.“
Michael Weiss  Die Inkompetenz liegt nicht bei den Lehrern (Leserbrief, Basler Zeitung, 03.10.2015)











How to acquire foreign languages in the classroom.        Abstract
A critical view on some new approaches to second language acquisition as outlined in B. Grossenbacher et al.: Neue fremdsprachendidaktische Konzepte accompanying the French textbooks Mille feuilles and Clin d’oeil published for the six Passepartout (L2/L3 language syllabus) cantons in Switzerland.
Against the background of empirical studies and plausible presumptions the paper claims that the concepts are not always consistent with research findings and that they are generally biased by the authors’ reformist educational convictions and their misrepresentation of earlier teaching methods. Plurilingual comparisons may help students to gain some useful declarative knowledge of L2, but it is doubtful if and how this translates into their procedural skills. Constructivism misleads the authors to overstate the role of language construction with individual learners, underestimating the fact that the target language is a pre-constructed system which needs to be adopted or re-constructed by learners. L2 construction is wrongly considered to be the whole process of L2 acquisition, ignoring other auxiliary mental activities involved. The authors reject a progressive grammar syllabus, they rely on “authentic” language resources and tasks to build implicit formal skills despite the lack of empirical evidence. The paper also argues that the authors’ educational views are flawed by some misconceptions about teacher-student relationships and peer interaction. Finally the analysis takes the general view that the textbooks based on the presented concepts might be too demanding on learners and teachers alike, preventing students to reach the targeted standards within the given time frame.

Zusammenfassung
Auf dem Hintergrund empirischer Studien und dem Gebot der Plausibilität versucht das Papier zu zeigen, dass die Konzepte teilweise nicht mit der empirischen Forschung übereinstimmen und durch die reformpädagogischen Anliegen des Autorenteams und ihre einseitige Darstellung früherer Methoden beeinflusst werden. Die Sprachvergleiche der Mehrsprachigkeitsdidaktik fördern zwar das deklarative Wissen der Lernenden, ob sie aber ins prozedurale Wissen beim Sprachhandeln transferiert werden können, bleibt zweifelhaft. Der Konstruktivismus verleitet die Autoren dazu, die individuelle Konstruktionsleistung der Lernenden zu überschätzen, denn die Zielsprache muss von den Lernenden nur übernommen oder nachkonstruiert werden. Das Konstruieren wird fälschlich mit dem gesamten Lernprozess gleichgesetzt, wobei andere Lernvorgänge vernachlässigt werden. Die Autoren verzichten auf eine grammatikalische Progression, sie bauen ohne empirische Absicherung darauf, dass die Begegnung mit „authentischem“ Material und die häufige Anregung zum Sprachhandeln den Erwerb der formalen Strukturen implizit leisten. Das Papier versucht auch auf Schwachstellen in der Darstellung der Lehrer-Schüler-Beziehung und der Gruppeninteraktion aufmerksam zu machen. Schliesslich wird auf die Gefahr der Überforderung durch das Lehrmittel und den Zeitmangel zur zielführenden Umsetzung hingewiesen.

Comment apprendre une langue étrangère en classe?     Résumé
Analyse des nouveaux concepts didactiques dans Barbara Grossenbacher et al. Neue fremdsprachendidaktische Konzepte, Bern 2013 mis en œuvre dans Mille feuilles et Clin d’œil, destinés aux écoles des six cantons Passepartout (plan d’études langues étrangères) 
En partant d’études empiriques et du sens de la plausibilité cette étude entreprend de démontrer que les concepts présentés ne se recoupent pas toujours avec les résultats de la recherche et témoignent d’une certaine partialité propre aux réformistes pédagogiques, partialité qui s’applique aussi à la description des méthodes antérieures. Certes, les comparaisons linguistiques du plurilinguisme profitent aux connaissances déclaratives de l’élève, mais le transfert envers les compétences procédurales qui permettraient à les employer spontanément n’en est pas assuré. Le constructivisme induit les auteurs à surestimer la part individuelle de « construction » chez l’élève, car la langue existe déjà en tant que système préconstruit, donc l’élève doit se contenter d’adopter ou de reconstruire la langue cible plutôt que de la réinventer. Si l’on insiste sur l’activité mentale de construire la langue, on néglige par ailleurs le fait que l’apprentissage d’une langue comprend encore des éléments complémentaires. Les auteurs renoncent à une progression grammaticale du manuel, en espérant que les ressources textuelles « authentiques » et les tâches entreprises en classe produiront l’effet d’une acquisition « implicite » de la grammaire chez les apprenants, hypothèse qui reste à prouver. L’analyse révèle en outre quelques conceptions douteuses concernant la relation enseignant-élève et l’interaction entre les apprenants. Dernier point : il se peut que les élèves aussi bien que les enseignants soient débordés par les exigences du manuel et par les contraintes de la grille horaire.

1. Einleitung
Gleichzeitig mit dem neuen überkantonalen Fremdsprachenlehrplan Passepartout für Französisch und Englisch werden für die Volksschule neue Lehrmittel entwickelt: Mille feuille und Clin d’oeil für Französisch, New World für Englisch. Die Lehrmittel sind nach „neuen didaktischen Konzepten“ gestaltet, die versprechen, den Fremdsprachenunterricht gründlich zu aktualisieren und zu verbessern.

Was ist von den Konzepten zu halten? Im Folgenden stütze ich mich auf die theoretische Einführung zum Lehrmittel Mille feuilles von Barbara Grossenbacher, Esther Sauer und Dieter Wolff, erschienen 2012 im Berner Schulverlag unter dem Titel Mille feuilles. Neue fremdsprachendidaktische Konzepte. Ihre Umsetzung in den Lehr- und Lernmaterialien.

Das Werk ist der didaktisch-methodische Leitfaden, der in den sechs beteiligten Kantonen (BS, BL, SO, BE, FR, VS) als Richtschnur für Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen und für den Französischunterricht in den Klassenzimmern der Volksschule dient. Meines Wissens gibt es bisher zwar schon einige Reaktionen auf das Lehrmittel Mille feuilles, nicht aber auf die dahinter stehenden Konzepte. Diese sollen hier auf ihre Plausibilität und ihre Wirksamkeit in der Praxis befragt und kritisch gewürdigt werden.

Nach einem allgemeinen Überblick über den Inhalt der Broschüre stelle ich vier Thesen auf, die nachfolgend in der Besprechung der einzelnen Konzepte vertieft werden. Der kritischen Analyse vorangestellt liste ich zunächst die fremdsprachendidaktischen Punkte auf, die auf Grund empirischer Studien als plausibel gelten dürfen, wenn auch noch nicht als hundertprozentig gesichert, denn auf dem Gebiet muss noch weiter geforscht werden.
Die Lehrmittel Mille feuilles und Clin d’oeil selbst sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung.

2. Zusammenfassende Würdigung und vier Thesen

Das Autorenteam Grossenbacher et al. vermittelt auf ca. 90 Seiten einen hilfreichen Überblick über die Theorien, die gegenwärtig in der Fremdsprachendidaktik diskutiert werden: Didaktik der Mehrsprachigkeit, Konstruktivistisches Lernverständnis, Kompetenzorientierung, Inhalts- und Handlungsorientierung, Progression, Differenzierung, Beurteilung, Materialien und Medien. Die Lesenden kennen nach der Lektüre die Hauptlinien der Konzepte samt den zugehörigen Fachausdrücken. Jedes Kapitel erläutert ausserdem, wie die didaktische Theorie im Lehrmittel Mille feuilles praktisch umgesetzt wurde, eine wichtige Orientierungshilfe für Lehrpersonen, die nach Begründungen für die Entscheidungen der Verfasser suchen.

Unter die erwähnten fachdidaktischen Konzepte mischen sich jedoch auch pädagogische Grundsätze, die nicht ursächlich fachdidaktisch, sondern allgemein pädagogisch begründet werden: Die Kapitel Lernerorientierung, Rollen der Lehrperson sind Beispiele dafür. Die pädagogischen Überzeugungen durchziehen allerdings auch die schwergewichtig fachdidaktischen Kapitel und beeinflussen zuweilen die Wertung der vorgestellten Konzepte. 

1. These  Mangelnde Trennschärfe zwischen Tatsachen und Spekulationen
Die Autorinnen referieren nicht nur die Theorien, sie pauschalisieren und beziehen dezidiert Stellung auf Grund ihrer pädagogischen Überzeugungen. Dies führt zu einer mangelnden Trennschärfe: Was ist empirisch abgesicherter Forschungsstand? Was wird kontrovers diskutiert, weil Forschungsresultate verschiedene Schlussfolgerungen zulassen? Was ist spekulative Annahme und willkürliche Entscheidung?

2. These  „Bibel“ des Fremdsprachenunterrichts
Das Buch suggeriert eine in sich geschlossene Theorie mit dem Anspruch auf absolute Gültigkeit und gibt damit vor, eine Art Bibel des Fremdsprachenunterrichts zu sein, die keinerlei Abweichen von der Lehrmeinung und keine methodische Freiheit der Unterrichtenden mehr zulässt. Ein zuweilen gönnerhafter Ton, die explizite Abwertung und entstellende Darstellung früherer Konzepte, der wiederholt eingestreute Gegensatz „modern“ versus „früher/älter“ stützen diesen Eindruck und schmälern die Objektivität der Ausführungen. Selbst an Stellen, wo das Autorenteam umstrittene oder gegensätzliche Auffassungen erwähnt, werden Bedenken kurzerhand mit den pädagogischen Vorlieben weggefegt. Auf diese Weise entstehen in einigen Kapiteln deutliche Widersprüche, die nicht aufgelöst werden. Es ist anzunehmen, dass sich solche Widersprüche in der praktischen Arbeit mit den Lehrmitteln bemerkbar machen könnten.

3. These   Unrealistisch hohe Ansprüche
Die Konzepte stellen sowohl an Unterrichtende wie auch an Lernende hohe Ansprüche: Von den Lehrpersonen wird neben einer hohen Sprachkompetenz, neben aussergewöhnlichen organisatorischen, lern- und sozialpsychologischen Fähigkeiten auch eine kaum leistbare Allzeitpräsenz beim Lerngeschehen im Klassenzimmer gefordert. Von den Lernenden werden auf frühester Stufe ein reifes Arbeitsverhalten, ein gutes Auffassungsvermögen sowie die Fähigkeit zur Erfüllung komplexer Aufträge vorausgesetzt. Nicht zuletzt verlangt die Umsetzung der Konzepte eine funktionierende Infrastruktur, ideale räumliche Verhältnisse und die Abwesenheit von Störfaktoren aller Art. Die von der Theorie und dem Lehrmittel angeregten Tätigkeiten und die daran geknüpften Leistungserwartungen überschreiten bei weitem das zur Verfügung stehende Zeitbudget von 2 – 3 Wochenlektionen.

4. These   Non vitae, sed scholae discimus
Grosses Gewicht wird darauf gelegt, dass die Schule einen eigenen Lebensraum für Lernende darstellt, auf den ihr Lernen ausgerichtet werden solle, Vorratslernen für das spätere Leben sei gar nicht möglich. Inhalte und Kommunikation sind deshalb auch in Mille feuilles auf die Subjektivität der Lernenden und deren Interaktion abgestimmt, die Kompetenzen des europäischen Referenzrahmens werden im Lehrplan Passepartout auf die Schulsituation umgeschrieben. Dadurch ergibt sich die gefährliche Tendenz, dass das Lernen von der ausserschulischen Realität abgekoppelt wird mit dem Resultat, dass Lernende eine eigene Sprache „erfinden“ dürfen, Irrtümer als Ausdruck von Kreativität und als natürliche Phasen des Lernprozesses nicht korrigiert, sondern sogar befördert werden und die Beurteilung nach kinderfreundlich geschönten Massstäben erfolgt. Das Prinzip „Nicht fürs Leben, sondern für die Schule lernen wir“ – wobei Schule neuzeitlich als ein Ort der Apotheose des lernenden Individuums gedeutet wird – widerspricht jedoch dem Bildungsauftrag der kantonalen Schulgesetze, nach dem die Volksschule ausdrücklich auf das nachschulische Leben vorbereiten soll. 


3. Plausible Aussagen zum Lernen der Sprache
Die bei Grossenbacher et al. referierten Konzepte sollen überprüft werden auf dem Hintergrund folgender Aussagen, die aus der empirischen Forschung stammen. Sie gelten zwar noch nicht als vollständig gesichert, weil viele Fragen offen bleiben, die in weiteren Studien geklärt werden müssen, sie weisen aber dennoch eine hohe Plausiblität auf und entsprechen weitgehend den Beobachtungen, die alle bei sich selbst und bei andern machen können. Ich beziehe mich auf folgende Gewährsleute: de Graaff/Houson, 2009; Ellis 2005; Mitschian  2000; Spitzer 2012; Hattie, 2013, Banaz, 2002:

- Muttersprachliche Kompetenz erwerben Menschen nur in frühestem Lebensalter (0-4 Jahre). Das Kleinkind lernt die Sprache grundsätzlich in didaktischen Schritten, die durch die Entwicklung des Gehirns vorgegeben sind. Das Gehirn pickt sich jeweils die Elemente, die es aufnehmen und systematisieren kann aus dem Sprachbrei der Umgebung heraus. Diese automatische Fähigkeit erlischt schon im 4. Altersjahr allmählich und muss später durch Leistungen des Bewusstseins wettgemacht werden. (Spitzer, 2012)

- Für den Zweitsprachenerwerb gilt, dass Menschen unterschiedliches Talent haben in Bezug auf Lerntempo und Annäherung an die Muttersprachlichkeit. Es findet je nach Begabung und Lernen eine Fossilisierung statt (d.h. Erreichen eines rudimentären oder vor- bis quasi muttersprachlichen Plafonds und oft auch eine Verfestigung von gewissen Mängeln im Sprachgebrauch).  (de Graaff/Houson, 2009)

- Interferenzen zwischen Mutter- und Fremdsprache können einerseits helfen, anderseits auch stören beim Erwerb der Fremdsprache. (de Graaff/Houson, 2009)

- In der Schule erreichbare Kompetenzen reichen nicht an die Kompetenzen heran, die interaktiv im Sprachgebiet erworben werden können. (de Graaff/Houson, 2009)

- Eine didaktisch sinnvoll aufgebaute, persönlich geführte Instruktion, die durch reichhaltige, motivierende Materialien gestützt wird, fördert und beschleunigt gepaart mit häufigen auf Kompetenzerweiterung ausgerichteten Rückmeldungen das Lernen . (de Graaff, 2009; Hattie, 2013)

- Inhalts- und situationsbezogenes Lernmaterial und eine auf formale sowie pragmalinguistische Gesetzmässigkeiten ausgerichtete Instruktion verspricht den grössten Lernerfolg im Schulalter und bei Erwachsenen, wenn das Gelernte häufig in produktiven Aufgaben angewendet wird. (Ellis, 2005; de Graaff/Houson, 2009)

- Nicht jede Person lernt auf die gleiche Weise am besten. (de Graaff/Houson, 2009)

- Flüssige Sprachbeherrschung beruht auf automatisierter Abrufbarkeit der sprachlichen Mittel. Sie setzt voraus, dass Inhalte ohne Umweg über theoretische Reflexion (Grammatikregeln, Sprachvergleiche, u.ä.) direkt versprachlicht werden können, indem Sprachwissen implizit angewendet wird. Man muss sozusagen „in der Sprache denken“ können. (Mitschian, 2000)

- Die Muttersprache ist ein wichtiger Bestandteil der Identität. Das Lernen einer Zweitsprache bedeutet die Übernahme einer andern Identität. (Banaz, 2002)

4. Zur Didaktik der Mehrsprachigkeit S. 6ff.

4. 1 Beschreibung des Konzepts
Unter Mehrsprachigkeit verstehen Grossenbacher et al. die Annahme, dass die  Vertrautheit mit der Muttersprache und allfälligen Zweit- und Drittsprachen ein Potenzial darstellt, das sich für den Erwerb weiterer Sprachen als Synergie nutzen lässt, weil die Sprachen im Gehirn miteinander vernetzt, bzw. an derselben Stelle abgelegt werden. Ziel sei im Übrigen nicht mehr die Beherrschung der Fremdsprache, sondern die Fähigkeit, in mehreren Sprachen zu kommunizieren (funktionale Mehrsprachigkeit). Damit entfalle auch die Notwendigkeit, den Unterricht einsprachig in der Zielsprache zu führen, denn ein Merkmal der Sprachkompetenz sei es, zwischen den Sprachen hin-und herschalten zu können.

4.2 Versprochener Nutzen
Die Frage lautet nun :  Was ist der Gewinn der systematisch gehandhabten Mehrsprachig-keitsdidaktik für das Lernen der Fremdsprache?
Die Autoren erklären:
„… geht die Fremdsprachendidaktik davon aus, dass sprachliche Kompetenzen beim Kontakt mit weiteren Sprachen nicht nur erweitert, sondern auch neue Kompetenzen entstehen.“  (S.7)

Dazu zitieren sie Wiater, 2006:
„Ihr primäres Ziel ist die Förderung der Mehrsprachigkeit durch Erarbeitung sprachenübergreifender Konzepte zur Optimierung und Effektivierung des Lernens von Fremdsprachen…“(S. 7)

Was sind diese neuen Kompetenzen und woran lässt sich die höhere Lerneffizienz ablesen? Die Aussagen dazu bleiben letztlich im Nebel der allgemein-abstrakten Formulierungen stecken:

 „ dass Erfahrungen mit Sprache und dem Lernen von Sprache … auf den Erwerb einer weiteren Sprache übertragen werden können. Dies kann sich dann vor allem im strategischen Verhalten der Lernenden beim Verarbeiten und auch beim Lernen der neuen Sprache niederschlagen.“ (S.7)

Das Autorenteam konkretisiert dies auf S. 11 mit den Begriffen „Sprachbewusstheit“ und „Sprachlernbewusstheit“ und führt Sprachvergleiche zur Verneinung und zu den Zahlen an. Sprachvergleiche, das Nachdenken über Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der Sprachen, führt zu deklarativem linguistischem Wissen. Das Aufdecken von Wortverwandtschaften hilft sicher, einzelne Wörter im Gedächtnis besser abzuspeichern. Techniken, wie man sich Wörter gut merken kann, Eselsbrücken, mit denen sich Gesetzmässigkeiten einprägen lassen, sind tatsächlich Strategien, die für das Lernen aller Sprachen hilfreich sind.

Den Beweis für die Behauptung, dass sich solche „Sprachbewusstheit“ - wie sie im Rahmen der Beispiele aus Mille feuilles schon immer im Unterricht praktiziert wurde und deshalb nichts gänzlich Neues darstellt -  tatsächlich fördernd auf das Anwenden der Fremdsprache, das prozedurale linguistische Wissen, auswirkt, hat bisher jedoch noch niemand erbringen können. (Mitschian, 2000) Eher das Gegenteil ist der Fall: Da deklaratives und prozedurales Wissen im Gehirn unterschiedlich abgespeichert werden, ist der Zugriff bei der spontanen mündlichen Kommunikation erschwert.

4.3 Das Konzept in dilettantischen Händen
Als Lernhilfe darf die Verwandtschaft zwischen Sprachen nicht überschätzt werden. Systematische und allgemein geltende Gesetzmässigkeiten, die in handliche Umsetzungsregeln gefasst werden könnten, gibt es wenige, und wenn doch, kaum ohne Ausnahmen. Parallelwörter  wie das oft zitierte Beispiel Forst – forêt – forest sind punktuelle Erscheinungen. Wohl helfen sie dem Wortgedächtnis auf, allerdings sind die Bedeutungen in den einzelnen Sprachen idiomatisch,  die Wörter decken unterschiedliche semantische Felder ab. Vergleichende Sprachbetrachtung verlangt ausgreifende Kenntnisse in allen zum Vergleich herangezogenen Sprachen und führt unweigerlich auch auf das komplexe Terrain der Sprachgeschichte. In den Händen nicht linguistisch geschulter Personen kann es leicht zu hanebüchenen Irrtümern kommen.

So zum Beispiel beim mehrsprachigen Wörterbuch midi-dic, das im Schulverlag Bern erschienen ist. Damit Lernende bei ihrer Textproduktion unterstützt werden können, führt der midi-dic jeweils die französischen und englischen Entsprechungen eines deutschen Stichworts an. Die Autoren Lusser und Hermann versprechen im Vorwort vollmundig: „Wenn du dieses Wörterbuch benutzt, erlernst du höchstwahrscheinlich zwei Fremdsprachen gleichzeitig.“ Sie beziehen sich also klar auf das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit.

Auf jeder Seite lassen sich mehrere Beispiele für die Fragwürdigkeit des Unterfangens finden. Hier nur ein Beispiel von Seite 106:  

erholen
se reposer, récupérer
recover, recuperate
Sie hat sich erholt.
Elle s’est reposée.
She recovered.
Ein Bild verdeutlicht die Situation des Beispielsatzes: Ein Mädchen steht erfrischt vor seinem Bett.

Abgesehen davon, dass die Angaben im Infinitiv keinen Hinweis auf die Anwendung der Verben enthalten,  was in den meisten handelsüblichen Wörterbüchern heute Standard ist, bedeutet der französische Beispielsatz etwas ganz anderes als der englische: Elle s’est reposée heisst: Sie hat sich erholt im Sinne von ausgeruht (durch Schlafen im Bett).
She recovered heisst: Sie erholte sich von einer Krankheit.
Die Entsprechung des französischen Satzes wäre auf Englisch: She got some rest (and feels relaxed now).
Die Entsprechung des englischen Satzes wäre auf Französisch: Elle s’est rétablie (ou remise).

Der midi-dic ist weitgehend unbrauchbar für Lernende, denn diese werden in ihrer Sprachproduktion ständig irregeleitet. Wie viel Wert haben Texte, die sich auf ein solches Lehrmittel abstützen? Die Konsultierung des midi-dic führt Lernende zu einer Sprachvariante, die im Zielgebiet nicht verwendbar ist nach dem Prinzip: Non vitae, sed scholae discimus! 

Das Beispiel zeigt, dass Mehrsprachigkeitsdidaktik ein sehr anspruchsvolles Konzept ist, das in der Hand von Amateuren ohne sehr gute Sprachkompetenz in allen betroffenen Sprachen leicht zur Karikatur seiner selbst werden kann.

4.4 Mehrsprachigkeit versus Einsprachigkeit
Beim Problem des einsprachigen Unterrichts unterläuft Grossenbacher et al. ein seltsamer Widerspruch. So heisst es auf S. 6:

„Die Sprachen wurden [im bisherigen Unterricht (F. Schmutz)] strikt getrennt, weil man der Meinung war, dass sie sich sonst untereinander vermischen würden. Dieser Erkenntnisstand hat sich geändert…“
Nur wenige Zeilen später räumen sie jedoch ein:
„In der Bilingualismusforschung werden auch Transfer und Interferenz näher untersucht, … Beispiele für Interferenzerscheinungen : Schülerinnen und Schüler mit Erstsprache Deutsch sagen im Französischunterricht häufig demande ton professeur… Sie übertragen die deutsche Konstruktion …. auf die französische Sprache.“

Die Lesenden fragen sich, was hat sich denn nun am „Erkenntnisstand geändert“, wenn die Forschung Transfer und Interferenz, oder volkstümlich ausgedrückt: die Vermischung, eben gerade bestätigt? Wenn Vermischung ein Argument für einen aufgeklärten einsprachigen Unterricht war, hätten Grossenbacher et al. dieses hiermit bekräftigt, denn durch das Ausschalten der Muttersprache könnte sich die Struktur demander à durch implizites Lernen besser im prozeduralen Gedächtnis festigen!   

Das Behandeln solcher Interferenzerscheinungen (morphologisch-syntaktische wie auch semantische: „les faux amis“) war ein Kernstück der Übersetzungsmethode, die bis in die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts und darüber hinaus gängige Lehrmethode war. Vergleiche zu relevanten Unterschieden zwischen Erst- und Fremdsprache finden sich auch in den Lehrmitteln der strukturalistischen und der kommunikativen Methoden sowie in Wörterbüchern. Die Behauptung, solche Vergleiche seien früher nicht gemacht worden, lässt sich mit den damals verbreiteten Lehrmitteln und der üblichen Praxis vieler Lehrpersonen in den vergangenen Jahrzehnten leicht widerlegen.

Ob es lernpraktisch sinnvoll ist, die Sprachen im Unterricht ständig zu vergleichen, also dauernd „sprachenübergreifend“ oder „mehrsprachig“ zu unterrichten, wie das teilweise vorgeschlagen wird, anstatt sich auf eine Zielsprache zu konzentrieren, muss noch aus einem anderen Grund bezweifelt werden. Das zitierte Beispiel aus Mille feuilles zur Verneinung S. 10 zeigt es:  

Vergleiche erleichtern unbestritten das Verstehen eines Phänomens. Allerdings bietet das Verstehen, wie die Verneinung funktioniert, keine grösseren Schwierigkeiten. Verwirrung setzt erst ein, wenn die Anwendung, die Sprachproduktion, gefragt ist und die Schüler(innen) in bester konstruktivistischer Manier Sätze bilden wie:
* Elle ne malade pas.
* J’ai n’a pas classe.

Die Unterrichtspraktiker(innen) kennen es: Das Problem ist nicht das theoretische Verständnis, sondern die Beherrschung der Verneinung in der Sprachproduktion und die baldige Fossilisierung der selbst erfundenen kreativen Varianten. Anstatt mit Sprachvergleichen allzu viel kostbare Zeit zu verlieren, wären hundsgewöhnliches Üben und Eintauchen in die Zielsprache wohl ergiebiger.  

Der vorwiegend einsprachige Unterricht verfolgt nicht das Ziel, das Vermischen der Sprachen oder Sprachvergleiche zu verhindern. Vielmehr dient er dem Zweck, Lernende für die Zeit des Unterrichts konzentriert und intensiv in die Zielsprache eintauchen zu lassen, ihr Hörverständnis und ihre eigene Sprachproduktion zu fördern, damit sich Wörter, Satzmuster besser ins Gedächtnis einbrennen können, denn diese werden nun einmal benötigt, um sich verständlich und flüssig in der Zielsprache ausdrücken zu können (de Graaff, 2005).  

Man könnte den Verdacht hegen, dass die Mehrsprachigkeitsdidaktik eine Kopfgeburt von Leuten ist, die bereits zwei oder mehr Sprachen gelernt haben und nun in der Rückschau auf ihren mühsamen Lernprozess meinen, das Wissen und die Vergleichsmöglichkeiten, die sie jetzt haben, hätten ihnen früher das Lernen erleichtern können.  

5. Konstruktivistisches Lernverständnis (S. 14ff.)
Der Abschnitt S. 14 – 23 erläutert den Kern des methodischen Konzepts von Mille feuilles, das konstruktivistische Lernverständnis. Für Konstruktivisten ist „Konstruieren“ ein schöpferischer Akt, die Welt muss individuell, also im Gehirn des Einzelnen, neu konzipiert werden. Ob der Anstoss dazu von der Aussenwelt, der Sinneserfahrung, der Interaktion mit andern kommt oder nur durch mentale Eigengesetzlichkeit erklärbar ist, wird kontrovers beurteilt.

Grossenbacher et al. führen Erkenntnisse an, deren Plausibilität der Fremdsprachenlehr-person sofort einleuchtet und die empirisch abgestützt sind. Unbestritten und als Tatsache anerkannt ist heute wohl die Einsicht, wie Wissen aufgebaut wird: Neue Elemente müssen mit vorhandenem Wissen und Können in aktiver Geistesarbeit gespeichert und verknüpft werden. Positive Verstärker sind dabei das eigene Interesse, die eigene Motivation, die positive emotionale Stimmung, die Interaktion mit andern. Soweit befinden wir uns auf sicherem Boden.

Einschränkend ist allerdings festzustellen, dass das Autorenteam den Sprachlernprozess damit etwas unvollständig und einseitig beschreibt. Es greift einen Aspekt des Lernens, die Wissenskonstruktion, heraus und verabsolutiert ihn, indem es ihn dem gesamten Lernvorgang gleichsetzt, der jedoch noch aus andern Phasen besteht: Fremdinstruktion bzw. spontane Sprachbegegnung, Dekodierung, Imitation, Identitätserweiterung, Gewöhnung und Automatisierung. (Mitschian, 2000)

So lassen Grossenbacher et al., weil dies „fortschrittliche Pädagogen“ wohl weniger gerne hören, den von der Hirnforschung klar belegten Punkt ausser Acht, dass Wissen und Können auch vom Übungs- und Wiederholungsaufwand abhängen, denn die neuronalen Vernetzungen werden erst durch häufiges Wiederholen verstärkt. (de Graaff, 2005) Neues gelernt wird nicht nur durch Sprachbegegnung („Lernumgebung“), genaues Verstehen („Sprachverständnis“),  Wissenskonstruktion und Anwendung („Handeln: activités und tâches“), sondern auch durch häufiges Wiederholen

Des Weiteren ist für den Zweitsprachenerwerb entscheidend, dass es das, was da konstruiert werden soll, bereits gibt, nämlich im Fall von Mille feuilles die französische Sprache. Sie braucht nicht neu konzipiert zu werden, sie existiert schon, unabhängig vom lernenden Individuum. Was Lernende tun müssen, ist nichts wirklich Schöpferisches, sondern bloss die Aneignung bereits existierenden Sprachguts, eigentlich ein blosses „Nachkonstruieren“ des von der Sprachgemeinschaft schon „Vor-Konstruierten“.  

Man mag einwenden, das sei Haarspalterei. Konstruktivismus sei nicht im radikalen Sinn gemeint, sondern nur als kognitiver Vorgang des Lernens. Das stimmt, jedoch gleiten die Autoren in ihrer Argumentation immer wieder in die Perspektive des radikalen Konstruktivismus, wenn sie die Konstruktion der Fremdsprache beim Lernenden als rein individuelle Leistung sehen, die ausschliesslich durch authentisches Material, Peer-Interaktion, Inhalts- und Handlungsorientierung, Kompetenzorientierung, die richtige Dosis Sprachbewusstsein und eine eigenverantwortliche Lernstrategie erzeugt werden kann. In Wirklichkeit geht es nämlich darum, sich einen bereits bestehenden Kode anzueignen, diesen dem eigenen Weltbild sowie der bereits konstruierten Identität überzustülpen und mit dem eigenen Handeln zu verknüpfen.

Der Kode muss nicht mehr erfunden werden, sondern verstanden, memoriert, eingeübt und angewendet. Diese Art von Konstruktion hat mehr mit Einfühlen, Verstehen, Imitieren, Rollenübernahme, Erproben, Üben zu tun als mit Erfinden und Verändern.  „Konstruktionsfehler“ (Abweichungen vom existierenden Kode), die dabei natürlicherweise entstehen, müssen zügig behoben werden, und zwar nicht von Peers, die den Kode auch noch nicht intus haben, sondern vom Chefmechaniker, der wirklich beurteilen kann, wo es harzt. Denn Ziel kann es ja nicht sein, eine Sprache zu erfinden, die nur von diesem einen Lernenden und seinen drei Peer-Kameraden verstanden wird, sondern eine zu übernehmen, die in der ausserschulischen Welt einsetzbar ist.

Das Autorenteam vertraut etwas leichtgläubig darauf,  dass die Lernenden selbstständig die real existierende Fremdsprache auf Grund authentischer Texte nachkonstruieren werden. Der sprachlichen Authentizität der ausgewählten Texte wird die magische Einflusskraft zugeschrieben, die der als unwirksam kritisierten Instruktion durch Lehrpersonen aberkannt wird.  Damit setzt das Team ohne genügende empirische Absicherung auf die Verbesserung des Lernens  gegenüber der instruktiven Methode (Altmeyer), obwohl die Meta-Analyse der von Norris & Ortega (2000) erfassten Studien darauf hindeutet, dass „explizite Instruktion“ die stärkste Wirkung auf das Lernen der Fremdsprache hat, besonders wenn die Verknüpfung zwischen Form und Bedeutung betont wird:    

„Overall, the results of these studies concur with Norris & Ortega’s (2000) meta-analysis, in which explicit instruction was shown to have the strongest effect on language learning, especially when the form-meaning connections are stressed.“ (de Graaff, 2005, p. 743)

Das Autorenteam begibt sich auf das unsichere Gelände blosser Annahmen und Behauptungen,  wenn es unter Konstruktivismus auch folgende Aussagen subsumiert, die damit nicht plausibel verknüpft werden können:  

a) „dass Lernprozesse vom Lerner ausgehen müssen und nicht vom Lehrer.“

Die Aussage widerspricht der im weiteren Textverlauf entwickelten sozialen Dimension des Lernens diametral. Er betont die aktive Wissenskonstruktion der Lernenden als rein subjektiven Vorgang (unbeeinflussbar durch die Instruktion der Lehrperson), definiert jedoch wenig später: „Konstruieren bedeutet, dass Menschen kontinuierlich mit der Umwelt interagieren…“  (S.14) und: „Konstruktionen finden auch statt, wenn Menschen mit andern Menschen interagieren.“ (S.16) 
Es dürfte wohl kaum einen einigermassen funktionierenden Unterricht geben, in dem keine Lehrer-Schüler-Interaktion stattfindet. Wieso sollen Lernprozesse nicht auch von Lehrpersonen ausgehen können, wenn sie von der ganzen Umwelt und von andern Menschen (offenbar ausgenommen Lehrpersonen) angestossen werden können? Gerade Primarschulkinder sind noch viel stärker auf die Lehrperson fixiert als Jugendliche während der Pubertät. Hier zeigt sich bei Grossenbacher et al. eine durchs ganze Buch hindurch bemerkbare Skepsis gegenüber der Wirkungsmöglichkeit von Lehrpersonen, was der empirischen Forschung offensichtlich widerspricht:

b) „Es kann nur gelernt werden, was sich mit bereits früher gemachten Erfahrungen verbindet.“  

Wenn die Aussage in dieser Ausschliesslichkeit zuträfe, müsste die Volksschule ihre Tore schliessen, denn für die Mehrheit der Kinder sind die Unterrichtsstoffe der Sach- und Sprachfächer Neuland, natürlich mit herkunftsbedingten Unterschieden. Es ist ja gerade der aufklärerische Gedanke der Schule, breite Schichten des Volkes mit nicht bekanntem Wissen vertraut zu machen. Das didaktische Prinzip, möglichst bei Bekanntem anzusetzen, bzw. bei neuem Stoff von Fragen auszugehen, um Neugierde zu wecken und damit erst die Aufnahmebereitschaft herzustellen,  gehört seit je zur Kunst der Lehrenden. Mit andern Worten: Der Schulunterricht dient gerade dazu, Ersterfahrungen zu machen, mit denen man später Neues verknüpfen kann. Insofern lernt man in der Schule durchaus auch für später und nicht nur für die tâches in der Lerneinheit oder für den nächsten PISA-Test.

c) Die Wissenskonstruktion ist individuell verschieden.

Die Aussage ist in dieser apodiktischen Form übertrieben. Es stimmt sicher und ist altbekannt, dass die Lernwege, das Lerntempo, der Lernerfolg individuell unterschiedlich ausfallen. Hingegen muss das Wissen an sich, die Erkenntnis von wesentlichen Zusammenhängen, mithin das Resultat der Konstruktion,  intersubjektiv fassbar sein, sonst würden Unterrichtsziele vollkommen hinfällig. Es gäbe auch keine gemeinsame Sprache, da jedes Gehirn sich seine eigene zimmern würde. Die Tatsache, dass die Autoren mit ihrem Lehrwerk auf „Kompetenzen“ zielen, widerlegt bereits die Aussage c). Es muss eine intersubjektive Erkenntnis geben, damit es sich lohnt,  mit individuellen Lernwegen darauf hin zu steuern. Die „Konstruktion“ des Sprachenlernens ist letztlich eine Anpassungsleistung.

d) Lernprozesse gelingen nur, wenn sie von den Lernenden organisiert werden.

Die Behauptung d) widerspricht offensichtlich jeder Erfahrung. Auch Hattie weist in seiner Metastudie nach, dass eines der wesentlichsten Merkmale erfolgreichen Unterrichts die Steuerung und enge Begleitung des Lernens durch die Lehrperson darstellt. Hier wurde dem Konzept Konstruktivismus ein Kuckucksei aus der Ideologie der Reformpädagogik untergejubelt. (Hattie 2013)

e) „Lernen ist ein Prozess, der in Gruppen besonders erfolgreich stattfinden kann“ S. 22

Obwohl betont wird, dass Lernen eine individuell einzigartige Wissenskonstruktion darstelle, welche die Lehrperson durch Instruktion nicht beeinflussen könne, scheint das für Grossenbacher et al. nicht mehr zuzutreffen, wenn in einer Gruppe gelernt wird. Es heisst, die Gruppenmitglieder füllten dann Rollen aus wie Lehrperson, Wissensvermittler, Lernpartner, Korrekturinstanz. Der Widerspruch ist eklatant: Die Peer-Group hebt den Konstruktivismus auf, denn „Lernen ist ein Prozess, der in Gruppen besonders erfolgreich stattfinden kann.“ Die Skepsis gegenüber der vermittelnden Rolle von Lehrpersonen ist plötzlich verschwunden, wenn diese von den idealisierten Peers übernommen werden kann. Entgegen der radikalen Vorstellung, Wissen könne nur selbst konstruiert werden, kann es offenbar in der Gruppe plötzlich doch fremdvermittelt werden. Anregungen in der Peer-Gruppe lösen etwas aus, was Lehrpersonen nicht auslösen können?

Jedenfalls ist diese Behauptung empirisch nicht abgesichert, sie widerspricht auch dem gesunden Menschenverstand. Warum sollten didaktische Laien das konstruktivistisch unmögliche Wunder der Wissensvermittlung vollbringen, wenn die Fähigkeit dazu bei fachlich und didaktisch ausgebildeten Lehrpersonen nicht ausreicht? Ein weiteres Mal sind Grossenbacher et al. in die Ideologiefalle der Reformpädagogik getappt.

Was letztlich von der Theorie des Konstruktivismus als sinnvolle Erkenntnis übrig bleibt, ist die Tatsache,  dass Lernen bedeutet, sich Wissen und Können anzueignen, wobei unter Aneignung als erster Schritt das bewusste und bereitwillige Aufnehmen und Verstehen des zu Lernenden in bestimmten Etappen gemeint ist, was mit der Herstellung eines subjektiven Sinnbezuges einhergeht (Konstruktion),  und als zweiter Schritt das Speichern und wiederholte Anwenden des Gelernten zur Festigung. Weitergehende Aussagen über Wissenskonstruktion gehören wohl ins Reich der Spekulationen.

6. Kompetenzorientierung (S. 24ff.)
Grossenbacher et al. unterscheiden fünf Sprachkompetenzen: kommunikative, soziale, interkulturelle, professionelle und strategische Kompetenz  (S. 25f.), wobei sie sich am europäischen Referenzrahmen orientieren.  

1. Aus der Beschreibung wird zu wenig klar, wie sich die kommunikative und die professionelle Kompetenz unterscheiden lassen. Im Schulbereich jedenfalls scheinen die beiden Kompetenzen deckungsgleich: Sprache rezeptiv und produktiv situationsgemäss und aufgabenadäquat einsetzen können.

2. Die Autoren betonen: „Grammatik und Wortschatz werden zu den so genannten sprachlichen Mitteln zusammengefasst, auf die während des … Gebrauchs einer Sprache immer wieder zurückgegriffen wird und die deshalb unerlässlich sind. Sie werden aber der allgemeinen sprachlichen Kompetenz untergeordnet.“ (S.25)

Die Autoren vertreten demnach die Meinung, Lernende müssten hauptsächlich die aufgeführten fünf Kompetenzen erwerben, das Mittel, das ihnen die Kompetenz jedoch überhaupt ermöglicht, sei zwar „unerlässlich“, spiele aber eine „untergeordnete Rolle“.

Ein kleines Gedankenexperiment möge die Absurdität dieser Aussage vor Augen führen: Ein junger Mensch sollte u.a. folgende lebensrettende Flucht- und Rettungskompetenzen erwerben: das Hindernis einer in der Höhe befestigten Querlatte zu überspringen, eine Strecke von 100 Metern in ca.11-13 Sekunden zurückzulegen, einen Gegenstand (z.B. eine Kugel) auf einer geeigneten Flugbahn möglichst weit von sich weg zu befördern. Unerlässlich dafür sind schnelle Beine und muskulöse Arme sowie ein die Bewegungen koordinierendes Gehirn, diese sind aber den Flucht- und Rettungskompetenzen untergeordnet.  

Eine Sprachdidaktik, die den Aufbau der sprachlichen Mittel, die erst kommunikatives Handeln und interkulturelles Verständnis ermöglichen, als sekundär, bzw. „untergeordnet“ betrachtet, die verkennt, dass Sprache (Wortschatz, Satzmuster und ihre Verwendung) ein wesentliches Merkmal der kulturellen Identität bedeuten (Banaz), zäumt das Pferd vom Schwanz her auf. Der Entwicklung der sprachlichen Mittel muss im Gegenteil Priorität eingeräumt werden, damit die angestrebten Kompetenzen überhaupt erworben werden können. Sprachliche Fertigkeit ist (wie jede andere Fertigkeit) Voraussetzung für darauf beruhendes Handeln. Dabei schliesst der Fokus auf Sprachliches nicht aus, dass die Redemittel im Unterricht situativ eingesetzt und in Sprachhandlungen erprobt und geübt werden. Das gehört seit den Achtzigerjahren zum Standard der Lehrmittel, besonders der englischen.

Die Autoren monieren auf S.26, dass man sich im herkömmlichen Unterricht damit zufrieden gebe, „wenn Lernende z.B. die Teile eines Fahrrads in der Fremdsprache benennen können“ und „diese vielleicht in einem Rollenspiel einüben“. Kompetenzorientierung hingegen bedeute, dass die Lernenden „darüber berichten können, wie sie gelernt haben, Fahrrad zu fahren, dass sie beschreiben können, was sie sich für ein Fahrrad wünschen, dass sie erklären können, wie man ein Fahrrad repariert.“

Erstaunlich ist, dass Grossenbacher et al. nicht bemerken, dass sie mit diesem Beispiel exakt den klassischen didaktischen Aufbau des Lernens beschreiben: Im ersten Schritt (den sie als veraltet bezeichnen) werden die sprachlichen Mittel zur Verfügung gestellt und spielerisch eingeübt, im zweiten Schritt (den sie als neue Didaktik bezeichnen) wird das Gelernte mit andern (früher gelernten) Elementen verknüpft: In der Vergangenheit erzählen, Wunschvorstellungen äussern, technischen Wortschatz kennen:  Werkzeuge, Tätigkeiten, auf Fragen der Partner eingehen, etc.), was – wie alle praktisch Lehrenden natürlich wissen - bereits erheblich schwieriger ist und auf Volksschulniveau bei beschränkter Stundenzahl nur von wenigen Lernenden, und übrigens auch nicht von allen Lehrenden, befriedigend gemeistert werden kann. Wie aber soll der zweite Schritt ohne den ersten gemacht werden? Wie beginne ich den Bau eines Hauses im zweiten Stock, wenn Fundament, Parterre und erster Stock fehlen?

Wie der Lektionsaufbau von Mille feuilles zeigt, wissen das die Autoren durchaus, weshalb sie den Kompetenzaufgaben (tàches) jeweils die activités (Übungen) vorschalten, welche die sprachlichen Ressourcen entwickeln sollen. Inwiefern dieses Aufbau- und Übungsmaterial, das im Sinne des Konstruktivismus auf „Offenheit“ ausgerichtet sein soll, den Zweck erfüllen kann, und ob hier nicht zusätzliche Übungen, auch reine Automati-sierungsübungen zwecks Verstärkung neuronaler Pfade,  beigezogen werden müssen, bleibe dahingestellt.

Die Vermutung liegt nahe, dass das Konzept der Kompetenzorientierung im Grunde sehr hoch greift, weil es gewisse Schritte auslässt, und die meisten Lernenden überfordert.  

7. Inhaltsorientierung und Handlungsorientierung (S.36-47)
Grossenbacher et al. legen Wert auf „authentische Materialien“, die nicht nach sprachdidaktischen Gesichtspunkten konzipiert wurden. Auf eine sprachliche Progression in den Texten wird nicht geachtet. Die Auswahl erfolgt mit Blick auf Inhalte, welche Kinder der jeweiligen Entwicklungsstufe interessieren, in der Hoffnung, dass diese eo ipso motivierend wirken, sprachliches Material ins Gehirn transportieren und zu eigener Sprachproduktion anregen, ganz nach dem Motto: „ein Sprachbad nehmen.“

Die Stossrichtung ist grundsätzlich richtig und sinnvoll. Tatsächlich sind Texte und Dialoge, die aus sehr eingeschränktem Wortschatz - oft durchsetzt mit Parallelwörtern, die im echten Sprachgebrauch so gar nicht verwendet werden - und aus minimalen Strukturen „gebastelt“ werden, nicht immer überzeugend.  

Allerdings bleibt einzuwenden, dass es sich bei dem vermeintlich „authentischen“ altersgemässen Material natürlich sehr wohl um „didaktisch reduzierte Texte“ handelt. Die Magazin- oder Kinderbuchausschnitte wurden von erwachsenen Verfassern bewusst sprachlich einfach und inhaltlich dem Alter entsprechend gehalten. Sie wurden auch bewusst in einer hochsprachlichen Form abgefasst, denn selbstverständlich verfolgen diese Texte pädagogische Ziele. Der Unterschied zwischen guten, fantasievollen herkömmlichen Lehrbuchtexten, von muttersprachlichen Autoren verfasst, und den Texten in Mille feuilles ist punkto Künstlichkeit minim.  

Überschätzt wird vom Autorenteam der Einfluss von audiovisuellen Mitteln. Oft wirken Sprechtempo, eine fremde Stimme oder eine ungewohnte Stimmlage, die technische Beschneidung der Frequenzen, Ablenkung durch Nebengeräusche, etc. für das Verständnis erschwerend und abschreckend, selbst wenn die Lernenden einen Text mehrmals nachhören können. Hier ist Einzel- oder Kleingruppenunterricht einem von der Lehrperson geleiteten Anhören in der Grossgruppe unterlegen, da es immer einzelne Kinder gibt, die etwas mitbekommen, sodass das Verständnis gemeinsam zusammengetragen und erarbeitet werden kann, ein Argument, das entgegen dem modischen Trend zur Dauer-Individualisierung für den gemeinsamen Unterricht (abschätzig als Frontalunterricht verteufelt) spricht.  

Anderseits ist zu fragen, was an einer didaktischen Progression im Aufbau formal-sprachlicher Mittel eigentlich schlecht sein soll. Gute Englisch- und Französischlehrmittel der letzten 20 bis 30 Jahre praktizierten sehr erfolgreich das Spiralprinzip: Die durchaus altersgerechten und motivierenden Inhalte erscheinen zunächst auf einer elementaren sprachlichen Ebene und werden in den folgenden Jahren in komplexeren Zusammenhängen und mit den dazu passenden sprachlichen Mitteln wieder aufgenommen. Unzählige Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben damit erfolgreich Fremdsprachen gelernt.

Hingegen können grosse Mengen neuen Materials für die durchschnittlichen und sprachschwachen Lernenden ein unüberwindliches Hindernis sein, das sie abschreckt und ihnen die Sprache schnell verleidet. Es ist dabei wenig hilfreich, wenn sie gesagt bekommen, sie dürften sich das aussuchen, was sie bewältigen können, wie die Autoren von Mille feuilles neuerdings die Binnendifferenzierung (inzwischen oft personalisiertes Lernen genannt) definieren. Eine verantwortungsvolle Didaktik wird deshalb neben altersgerechten Inhalten selbstverständlich auch die Angemessenheit des Wortschatzes und der Strukturen berücksichtigen.

Die Autoren liegen richtig, wenn sie die enge Verknüpfung von Inhalt und Sprache betonen. Tatsächlich lösen Inhalte, Erinnerungen und Emotionen die sprachlichen Ausdrucksmittel aus, mit denen sie einst gespeichert wurden. Dies ist einer von mehreren Gründen für häufiges „Switchen“ bei bilingualen Sprechern (Banaz).

Allerdings hilft dies beim schulischen Fremdsprachenlernen nur bedingt:

1. Die grundlegenden Wissens- und Begriffsinhalte wurden bereits in der Muttersprache im idiomatischen Wortschatz und den spracheigenen Strukturen abgespeichert. Neu einströmende Information wird automatisch in muttersprachlichen Kategorien erfasst. Aneignen müssen sich die Lernenden also die ihnen fremden Ausdrucksmittel. Der eigentliche Sinn des Zweitsprachenunterrichts ist – jetzt einmal abgesehen vom immersiven Sachunterricht, der hier nicht zur Diskussion steht – nicht, neue Sachinhalte zu vermitteln, sondern die zum grössten Teil schon bekannten Sachinhalte in eine neue Sprache einkleiden zu lernen.
Damit soll keinesfalls in Abrede gestellt werden, dass die Inhalte altersgerecht und motivierend sein sollen, um die Bereitschaft zu schaffen, die fremden Ausdrucksmittel zu übernehmen.   

Jedoch spricht nichts dagegen, das neue Ausdrucksmittel in formal sinnvollen Schritten zu vermitteln und die Inhalte entsprechend  anzupassen. Erfolgserlebnisse, die beim Bewältigen didaktisierter Aufgaben entstehen, sind als Motivationsimpuls nicht zu unterschätzen.

2. Die Rede ist auch von der „authentischen Interaktion“, welche die Sprache sozusagen automatisch mitvermittelt. Tatsächlich ist Interaktion im Gegensatz zu Büchern, Videos, Tonträgern, etc.  der Königsweg, um sich eine mündliche Gebrauchssprache in intensivem Austausch in relativ kurzer Zeit anzueignen, insbesondere wenn sie im Gebiet der Zweitsprache stattfindet. (de Graaff, 2005)

Wie aber soll in zwei oder drei Wochenstunden im Klassenzimmer eine „authentische“ Situation entstehen? Die Lernenden sind eine Gruppe von radebrechenden, meist schnell in die Muttersprache zurückfallenden Kameraden, die Lehrperson oft auch nicht wirklich in jeder Hinsicht sattelfest und damit ein mehr oder weniger holpriges Vorbild. Diese Situation ist per se künstlich und niemals wirklich authentisch.  

Die Autoren scheinen nicht akzeptieren zu wollen, dass Fremdsprachunterricht immer ein künstliches Arrangement darstellt, eine Art Sprachspiel. Ein Sprachspiel, das motivierend zu gestalten wäre, das aber auch vom „authentischen“ Leben abweicht, weil es die kulturelle Aufgabe des fachbezogenen systematischen Unterrichts wahrnehmen muss, denn die „natürliche“ Situation des kleinkindlichen Spracherwerbs ist vorbei und muss durch bewusste und bisweilen mühsame Aneignung ersetzt werden.    

8. Progression (S.48ff.)
Das Autorenteam widmet sich der Frage, welche grammatikalische Progression dem Erwerb der Fremdsprache angemessen sei, indem es diese an der kognitiven Entwicklung und dem natürlichen Spracherwerb misst. Es kommt zum Schluss, dass die in den bisherigen Lehrmitteln angewandte Progression mit den genannten Entwicklungen kaum übereinstimmt, sondern einer nicht begründbaren Lehrmitteltradition folgt, und entscheidet sich dafür, zu Gunsten der Inhalts- und Handlungsorientierung auf eine formale Progression zu verzichten.  

Das Team übersieht dabei den entscheidenden Punkt. Herkömmliche Lehrmittel erheben gar nicht den Anspruch, den grammatikalischen Aufbau – im Gegensatz zum inhaltlichen – ihrer Werke der kognitiven Entwicklung der Lernenden anzupassen. Die Aufgabe der Fachdidaktik bestand seit je darin, die wissenschaftliche Systematik eines Fachgebierts auf die verschiedenen Schulniveaus so herunterzubrechen, dass die Sache in verständlichen Schritten vermittelt werden kann. Das gilt auch für die Fremdsprachen: Der Aufbau des Wortschatzes und der Strukturen soll nicht durch Konfrontation mit der vollen Komplexität, sondern in nachvollziehbaren Lernschritten vollzogen werden. Nicht das Individuum stand im Zentrum des Interesses, sondern die Sache, die sich viele Individuen aneignen sollten.

Diese Sache, Wortschatz und Strukturen einer Sprache, wurde in systematisch ansteigendem Schwierigkeitsgrad präsentiert. Man kann sicher über die gewählten Lösungen in Lehrmitteln diskutieren, dass aber der Weg in Schritten vom Einfachen zum Komplexen gewählt wurde, entsprach einem grundlegenden didaktischen Prinzip, das überall, wo Menschen sich etwas aneignen müssen, erfolgreich angewendet wird. Wer glaubt, auf dieses Prinzip verzichten zu können, braucht ein gerüttelt Mass an Verblendung. Im Übrigen beweist die Meta-Analyse von empirischen Studien, dass die schrittweise Instruktion von Grammatik die natürliche Aneignung von Fremdsprachen mit ihren eigenen Gesetzmässigkeiten (Reihenfolge der Internalisierung) sehr wohl unterstützt. (de Graaff, 2009)

9. Lernerorientierung (S.56ff.)

Im Hinblick auf das „lebenslange Lernen“ soll die Fremdsprachendidaktik ihren Beitrag leisten, indem sie das pädagogische Prinzip der Lernerorientierung und Lernerautonomie mit dem konstruktivistischen Prinzip in folgender Weise verknüpft:

- Ausrichtung des Unterrichts auf die Interessen und Fähigkeiten der Lernenden

- Allen Lernenden Gelegenheit bieten, ihr Lernen zunehmend selbstständig und selbstbestimmt (d.h. nach „eigenen Gesetzen und Regeln“) zu gestalten, sich der technischen Mittel dabei kompetent zu bedienen und die Fortschritte selbst zu evaluieren.

- Vielfältige Ausgestaltung des Unterrichtsraumes

- Die unterschiedlichen individuellen Aufgaben, an denen die Lernenden arbeiten, schaffen die „authentische“ Gelegenheit, sich in der gesamten Lerngruppe über ihre Arbeiten auszutauschen.
Dazu folgende Anmerkungen:

1. Das Konzept Lernerorientierung und Lernerautonomie stammt aus der Reformpädagogik und taucht seit Anfang 20. Jahrhundert periodisch immer wieder auf. Werbewirksame Schulversuche sorgen für Aufsehen (z. B. Summerhill), nach einem kurzen Höhenflug landen die Konzepte wegen Scheiterns im Papierkorb der Pädagogik. Dinge, die sich bewährt haben, werden mit der Zeit automatisch ins Schulwesen integriert.  

2. Es gibt keine Beweise dafür, dass Kinder und Jugendliche, die forciert nach solchen Methoden unterrichtet werden (bzw. sich autodidaktisch selber schulen), bessere Lernleistungen erbringen als in einem von der Lehrperson gesteuerten Unterricht. Eher das Gegenteil trifft zu, wie Hatties Meta-Analyse zeigt: Selbstgesteuerter Unterricht ist kein Faktor, der das Lernen signifikant fördert.

3. Das Konzept widerspricht einem andern von den Autoren vertretenen Anliegen, demjenigen der Kompetenzorientierung. Lernende müssen die Sprache Französisch lernen, sie sollen die im Lehrplan Passepartout vorgegebenen Fähigkeiten erwerben, das Lehrmittel verfolgt eine Progression, die auf den Erwerb dieser Kompetenzen zugeschnitten ist, das Lehrmittel deckt die Lernenden mit Materialien zu, aus denen diese auswählen müssen. Sie müssen den andern über ihre Arbeit berichten. Wo bleibt da die echte Selbstbestimmung? Sie ist insofern eine leere Floskel, als von den Lernenden erwartet wird, dass sie selbstbestimmt wollen, was das Lehrmittel und seine didaktischen Konzepte vorgeben, ganz nach dem Motto: „Müssen wir heute wieder machen, was wir wollen?“ (Anna Grammah Müssen wir schon wieder machen, was wir wollen?: Meine Geschichten aus dem Kindergarten 2013). Anstatt echte Selbstbestimmung zu lernen, wird unechte Autonomie zelebriert, was Kinder nach kurzer Zeit durchschauen.  


4. Die Hoffnung auf Autonomie wird auch dadurch getrübt, dass die hoch im Kurs stehende Lernerorientierung dadurch an ihre Grenze stösst, dass die zu lernende Sache selbst Forderungen an die Lernenden stellt, die ihre Autonomie einschränken. Die französische oder englische Sprache existiert nun einmal als kulturelles Konstrukt, die Lernenden müssen sich daran anpassen, nicht umgekehrt. Deshalb muss sich den Vorwurf der Naivität gefallen lassen, wer das Lernen einer bestehenden Sprache mit dem Ausüben demokratischer Freiheitsrechte verwechselt.  


5. Wie man Selbstständigkeit lernt, ist eine unter Eltern, Erziehenden und Lehrenden umstrittene Frage. Grossenbacher et al. tappen in die Falle, den Lehrpersonen den Weg dahin via Lehrmittel vorschreiben zu wollen, denn sie verweigern den professionellen Lehrpersonen genau die gestalterische Freiheit und Autonomie, die sie den Kindern und Jugendlichen gewähren wollen. Wahrscheinlich gibt es verschiedene Wege zur Selbstständigkeit. Hingegen lassen sich einige Richtlinien finden, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen können:


a) Autonomie wird schrittweise und dosiert erworben. Wer zu früh zu viel aufgebürdet bekommt, reagiert mit Angstgefühlen, Verunsicherung, Trotz, wer zu wenig Anforderungen erhält, baut ein falsches Sicherheitsgefühl auf und bleibt unselbstständig. Die Dosierung können Lernende nicht immer selbst vornehmen, sie müssen angeleitet werden.


b) Die Fähigkeit zur Autonomie verläuft wie die kognitive Entwicklung bei Individuen unterschiedlich. Es gibt nicht wenige Menschen, die – auf Grund welcher Umstände auch immer – bis ins Erwachsenenalter nie ganz autonom werden können. Ein lernerzentrierter Unterricht muss sehr aufpassen, dass er die einzelnen Lernenden nicht über- oder unterfordert.

 

c) Selbstständigkeit erwirbt man an konkreten Aufgaben, die einem gestellt werden, zu denen man von überlegenen (=professionell agierenden) Erwachsenen ermutigt und bei denen man aufmerksam, aber immer mit dem nötigen Freiraum begleitet wird. Aufbauende Kritik ist erlaubt und wichtig. Die unbegleitete Beurteilung durch Peers ist heikel, da sie stets durch Faktoren wie Sympathie oder Antipathie mitbestimmt wird.


d) Selbstevaluation beruht auf der Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, sonst ist sie wertlos. Sie setzt grosse Erfahrung und viele Vergleichsmöglichkeiten voraus und ist deshalb der schwierigste und letzte Schritt bei der Entwicklung von Autonomie. Dabei spielen Vorbilder eine entscheidende Rolle. Lehrende, die bei geringfügigsten Schüleräusserungen  in Entzücken ausbrechen oder höchstens „Lernziel noch nicht ganz erreicht“ als schlechteste Bewertung verlauten lassen, werden bei Lernenden unrealistische Selbstbewertungen auslösen, die in der ausserschulischen Welt nicht bestätigt werden. Die Selbstbeurteilung mit Häkchen hinter abstrakten Formulierungen ist eine Erledigungsübung ohne ernsthafte Aussagekraft, es sei denn sie werde jedes Mal mit der Lehrperson erörtert, was unrealistisch ist.  


e) Autonomie hat Grenzen. Zur Förderung der Selbstständigkeit gehört auch das Erfahren  und Akzeptieren dieser Grenzen. Gemeint sind nicht nur Grenzen durch ethische, gesetzliche und soziale Regeln, sondern auch Sachzwänge wie das strukturierte theoretische und praktische Wissen, die Sprachen, der eigene Körper, die finanziellen Möglichkeiten. Erst die Kenntnis dieser Grenzen und Sachzwänge ermöglicht es, Freiräume bewusst zu entdecken und wahrzunehmen und allenfalls Grenzen neu zu stecken.


10. Rollen der Lehrperson (S.68ff.)
Grossenbacher et al. greifen die seit den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts diskutierte Frage nach der Lehrer-Schüler-Beziehung auf. Sie stellen der asymmetrischen (autoritären) Beziehung der allwissenden Lehrperson, welche über die Aktivitäten im Klassenzimmer entscheidet, die symmetrische (partnerschaftliche) gegenüber, wonach die Lehrperson verschiedene Rollen einnimmt, als da sind: die Aktivitäten organisieren, moderieren, Lernprozesse ermöglichen (facilitator) und Lernende beraten (S.68f.).

1. Die Darstellung der Lehrer-Schüler-Beziehung enthält wiederum einen wahren Kern, sie leidet aber unter einer theoretisch überspitzten Einseitigkeit. Die genauere Beschreibung der beiden Beziehungsmuster zeigt nämlich, dass sie gar nicht so weit auseinander liegen, wie die Formulierung suggeriert. Dazu ein Vergleich:

Die asymmetrisch agierende Lehrperson „entscheidet, was im Klassenzimmer geschieht, an welchen Materialien gearbeitet wird und welche Aufgaben … zu bearbeiten sind…“ (S.68) Die symmetrisch agierende Lehrperson bereitet die Arbeit in Kleingruppen vor, erstellt den Arbeitsplan, hilft bei der Planung und Durchführung der Aktivitäten…“trägt ein hohes Mass an Verantwortung, denn sie kann in viel stärkerem Mass als die Lernenden selbst Klassenzimmeraktivitäten in Bewegung bringen…“ (S.69)  

Für Lernende oder Beobachter ergibt sich aus dieser Beschreibung beim besten Willen kein Unterschied. In beiden Fällen werden die Aktivitäten von der Lehrperson gesteuert. Im zweiten Fall hat die Lehrperson lediglich einen Teil der Steuerung in ihre Planvorgaben und/oder in das bereitgestellte Material verlegt. Tatsache bleibt, es handelt sich in beiden Fällen strukturell um eine asymmetrische Lehrer-Schüler-Beziehung. Die Meinung, die zweite Situation schildere eine symmetrische Beziehung ist reiner Selbstbetrug.  

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass im zweiten Fall eventuell grössere Betriebsamkeit (Kritiker nennen es Chaos) herrscht als im ersten, was einzelne Lernende als vermeintliche Freiheit geniessen, während es andere eher verwirrt. Fakt ist, die Lehrperson bestimmt, was geschieht. Formal bleibt die Asymmetrie bestehen.  

2. Die Liste der Rollen, die von symmetrisch agierenden Lehrpersonen eingenommen werden, ist bezeichnenderweise um einen Punkt unvollständig, den die Autoren allerdings eingangs erwähnen:

„Natürlich müssen die Lehrpersonen … Disziplin einfordern und auch dafür Sorge tragen, dass die von der Gesellschaft erwartete Bewertung der Leistungen des Einzelnen in angemessenem Rahmen stattfindet.“

Das Autorenteam meint nun, dies sei in einem partnerschaftlichen  Beziehungsverhältnis besser möglich als in einem der Über- und Unterordnung.   

Welche Möglichkeit, etwas einzufordern, hat jemand, der nicht kraft seiner Autorität (und deshalb im Verhältnis der Überordnung zum andern stehend) die Macht oder die Berechtigung dazu hat? Wer kann zu etwas Sorge tragen, ohne dass er die Verantwortung dafür übernimmt? Disziplin und Verantwortung für Standards kann nur jemand übernehmen, der dies dezidiert (und damit asymmetrisch) durchsetzen kann. Es ist letztlich ein Streit um des Kaisers Bart, denn es geht wohl um etwas ganz anderes: Einer Methode (der vermeintlich modernen) soll gegenüber der anderen (vermeintlich veralteten) der edle Anstrich höherer Menschlichkeit verliehen werden, obwohl es keine empirischen Daten gibt, welche den sogenannt modernen Methoden bessere Resultate attestieren würden. Nach Hattie ist eher das Umgekehrte der Fall.

3. Wie steht es denn nun wirklich mit der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden?

Erstens ist sie immer eine asymmetrische, denn das Arrangement Unterricht ist ein asymmetrisches, wie auch immer methodisch gestaltet.  

Zweitens braucht es zwischen Lehrpersonen und Lernenden ein grundlegendes Einverständnis mit dieser Situation. Ein ruhiger, freundlicher Umgangston, Wertschätzung,  Aufmunterung und vernünftige Lösungsangebote im Konfliktfall sollten heute Standard sein. Wo Kinder oder Jugendliche die Autorität des Lehrenden nicht mehr akzeptieren, findet kein erspriesslicher Unterricht mehr statt, gleichgültig welches Arrangement getroffen wird. Das gilt auch umgekehrt: Lehrpersonen, die Schüler ablehnen, nur noch autoritär abspeisen und inflationäre Strafen verteilen, erreichen nichts mehr, werden zu Lachnummern oder zu Despoten, die Unmut und Hass auf Lebenszeit säen.   

Drittens besteht bei methodischen Experimenten, welche den Kindern und Jugendlichen mehr Freiheit lassen, als sie verkraften können, und bei welchen viel Unsicherheit und Unklarheit herrscht, schneller die Gefahr des Entgleitens als bei straffer geführtem Unterricht.

Viertens besteht bei dem starken Trend zur Individualisierung die Gefahr, dass die Lehrperson vergisst, dass sie keinen Einzelunterricht erteilt, sondern eine ganze Gruppe führt. Es muss ihr in erster Linie gelingen, der Gruppe ein Ziel zu setzen und alle in die Aufgabe einzubinden.
Ein Beispiel zum letzten Punkt: Eine Schülermannschaft soll ein Fussballspiel bestreiten. Der Trainer muss die zusammengewürfelte Schar nicht nur technisch vorbereiten, sondern er muss auch dafür sorgen, dass alle zu effizientem Zusammenspiel bereit sind und ihre persönlichen Ziele (den zuschauenden Mädchen gefallen, möglichst häufigen Ballbesitz erringen, selbst das Tor schiessen, anstatt günstiger Stehende vorzulassen, etc.) dem gemeinsamen Ziel unterordnen. Seine Beziehung zu den Spielern ist asymmetrisch, aber sie muss von den Spielern so akzeptiert werden.
Unterordnung heisst nicht einfach Unterdrückung. Man unterzieht sich der Unterordnung (vielleicht zähneknirschend und nur auf Zeit, aber immerhin) freiwillig, weil man einen Vorteil darin sieht. Genauso ist es im schulischen Unterricht.

11. Schlussbemerkung
Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass die bei Grossenbacher et al. vorgestellten Theorien grundsätzlich alle schlecht seien. Vielmehr ging es darum aufzuzeigen, dass die „neuen didaktischen Konzepte“ nicht einfach per se gut sind und die früheren schlecht. Nicht alles, was als neu verkauft wird, ist auch wirklich eine Erfindung der letzten paar Jahre. Jedes Konzept vom Übersetzungsunterricht über die strukturalistischen und kommunikativen Methoden bis zu den konstruktivistischen Verfahren und der Mehrsprachigkeitsdidaktik beleuchtet jeweils bestimmte Aspekte des Lernens und kann zum Fremdsprachenunterricht etwas beitragen. Schlecht ist der Alleinanspruch, den diese Konzepte erheben, die Anmassung, die optimale Lösung zu bieten, von der nicht abgewichen werden darf. In diesem Sinn ist vor missionarischem Eifer zu warnen und dazu zu raten, auf die eigene Erfahrung zu vertrauen und sich der erfolgversprechendsten Ansätze aller Methoden pragmatisch zu bedienen.


12. Bibliografie

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Lernstrategien und autonomes Lernen. Teilaspekte eines ‘konstruktivistischen’ Fremdsprachenunterrichts? In Babylonia2002/2 http://babylonia.ch/fileadmin/user_upload/documents/2002-2/altmayer.pdf
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Grossenbacher, B/ Sauer,E./ Wolff, D.
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Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning“ besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler 2013
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Vom Behavorismus zum Konstruktivismus: Das Problem der Übertragbarkeit lernpsychologischer und -philosophischer Erkenntnisse in die Fremdsprachendidaktik. Darmstadt, 2000.  https://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-04-3/beitrag/mitsch4.htm
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Reinfried, Marcus
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Spitzer, Manfred
Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München 2012


Felix Schmutz
Herrenweg 42 c
CH-4123 Allschwil
sz42all@bluemail.ch
Biografische Angaben:
Geb. 1951, war bis zur Pensionierung 2011 während 38 Jahren Lehrer für Deutsch, Französisch und Englisch an der Sekundarstufe I in Basel. Studienaufenthalte in England (als Assistant Teacher für Deutsch) und in Lausanne. Mitarbeit an Lehrplanreformen und in der Lehrerausbildung als Dozent für Deutschdidaktik an der Universität Basel1980-83 und als Mentor. Verfasser einer Analyse zur Schulreform in Basel Schulwerkstatt Basel, 1999.


(2009) Investigating the Effects and Effectiveness of L2 Instruction, in The Handbook of Language Teaching, Wiley-Blackwell, Oxford, UK. doi: 10.1002/9781444315783.ch38

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