Kurz
vor Schulbeginn blätterte ich die Anmeldungen für unseren traditionellen
Französischaustausch mit unserer Partnerschule in Monthey im Kanton Wallis
durch. Vier Tage verbringen unsere Schüler bei ihren welschen Kollegen und
beherbergen diese ebenso lange bei sich. Ausserdem besuchen sie jeweils den
Unterricht in den beiden Schulen, schreiben sich vorher mehrere Briefe und
absolvieren zu zweit einen Postenlauf. An einem Samstag im Januar fahren die
Eltern mit ihren Zöglingen und den Lehrkräften ins Wallis, wo sie von den
Eltern der Partnerkinder empfangen werden. Dies ist ein grosser Anlass, der die
Leute zusammenbringt. Auch wir Lehrkräfte kennen uns mittlerweile und freuen
uns schon jetzt auf das Wiedersehen.
Schüler mit Wörtlitests zu prüfen, ist nicht kinderfeindlich, Berner Zeitung, 14.10. von Alain Pichard
In
wenigen Fällen geht dieser Austausch schief, in den meisten profitieren unsere
Lernenden aber ungemein von dieser Begegnung. Und manchmal entstehen sogar
Freundschaften fürs Leben, gehen die Familien zum Beispiel gemeinsam in die
Skiferien.
Die
Rahmenbedingungen sind diesmal anders, denn meine 7.-Klässler haben vier statt
zweier Jahre Französisch hinter sich und sind mit einer völlig neuen
Fremdsprachendidaktik unterrichtet worden. Das Französischlehrmittel «Mille
Feuilles» setzt auf pädagogisch hoch im Kurs stehende «gute» Begriffe wie
Sprachbad, mündliche Kompetenz, Plurilingualismus, Selbststeuerung und
Konstruktivismus. Verpönt sind dagegen die pädagogisch «bösen» Begriffe wie
Grammatik lernen und Vocabulaire-Teste.
Ich
habe mir grosse Hoffnungen gemacht, denn nach Prognosen der Lehrmittelmacher
habe ich es heuer mit mutigen und der französischen Sprache gegenüber
aufgeschlossenen jungen Menschen zu tun, welche die Sprache spielerisch und
ohne Druck erlernt haben.
Es war
für mich ernüchternd, als ich feststellte, dass die Schüler nicht wussten, dass
man «au» als «o» ausspricht oder «ou» als «u». Gestaunt habe ich, dass ich mit
meinen Schülerinnen und Schülern zwar komplexe Texte über Erfindungen der
Zukunft lesen sollte, diese aber nicht wussten, was «gestern», «heute» und
«morgen» auf Französisch heisst – wohlgemerkt, nicht schriftlich, sondern
mündlich. Uns wurde bald klar, dass wir heuer auf unseren französisch
geschriebenen Brief verzichten müssen, den wir unseren Partnern jeweils im Oktober
schreiben. Die Walliser werden erstmals ein deutsches Schreiben erhalten.
Und nun
das: Noch nie haben sich so viele Schüler von diesem Austausch abgemeldet.
Waren es in den vergangenen Jahren immer die obligaten zwei bis drei Schüler
pro Klasse, die nicht am Austausch teilgenommen hatten, so hat heuer mehr als
ein Viertel der Schülerinnen und Schüler bekundet, daran nicht teilnehmen zu
wollen.
Das
liessen wir Lehrkräfte natürlich nicht auf uns sitzen. Wir versuchten zu
überzeugen, telefonierten und verlangten eine schriftliche Begründung. Eine
Mutter schrieb unserem Schulleiter daraufhin eine bemerkenswerte Erklärung:
«Mein Sohn hat in den vergangenen vier Jahren so wenig Französisch gelernt,
dass ich ihm diese Erfahrung ersparen möchte!»
Fazit:
Bereits die Einführung von Frühfranzösisch hat uns mit über 43 Millionen
Franken horrende Kosten beschert. «Mille Feuilles» wird als teuerstes
Lehrmittel in die Geschichte eingehen. Was für den Verlag ein Riesengeschäft
ist, ist für die Gemeinden ein Riesenproblem. «Mille Feuilles» ist ein
überteurer, frivol nicht fundierter Pioniergeist.
Und wir
Praktiker verhalten uns, und das ist eigentlich die Ironie an der ganzen
Geschichte, konstruktivistisch. Wir suchen Lösungen aus dem Schlamassel, bauen
eigene strukturelle Gerüste auf und nehmen uns Freiheiten bis zum Ungehorsam.
Ich
werde, wenn man mich denn lässt, Französisch so unterrichten, wie im englischen
Sprachraum das Englische unterrichtet wird. Lebensnah, mit Schwerpunkt auf
Kommunikation, aber auch mit Grammatik, Wörtlitests, einem strukturellen Aufbau
und jeder Menge Schweiss. Am Schluss werde ich meine Zöglinge in jede
gewünschte Evaluation schicken. Ich bitte alle Leute, die mich in die
konservative Ecke stellen wollen, meinen Unterricht zu begutachten. Eine
Anmeldung ist nicht nötig. Man darf meine Schüler ruhig auch zu ihrer
Befindlichkeit befragen. Denn Schüler mit Wörtlitests zu prüfen, ist nicht
kinderfeindlich, im Gegenteil.
Es ist
allerdings zu befürchten, dass die Behörden mir nicht das Vertrauen schenken,
das ich von den Eltern erhalte. Und so wird man einen Leistungsvergleich am
Schluss der drei Jahre vermutlich verhindern. Die Rückmeldungen in meiner
Klasse sind jedenfalls ermutigend. Ein Schüler sagte mir: «Endlich lernen wir
mal was!»
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