Testen, messen, kontrollieren, Wochenzeitung, 17.9. von Eduard Kaeser
Big
Data hat auch die Bildungsforschung erreicht. Es überschwemmt Europa mit
Diagnosen, Analysen, Prognosen. Die wachsenden Datensilos und elaborierten
statistischen Methoden beflügeln eine «evidenzbasierte» Erziehungswissenschaft
in ihrem Vorhaben, Bildung nun endlich auf ein robustes Fundament von Daten und
Zahlen zu stellen. Um Daten zu generieren, muss man testen. Das war in der
Schule – neben Labor, Fabrik oder Kaserne – immer so. Wer in Form
sein will, muss einem Testformat genügen. Wahres Leben ist getestetes Leben. Es
gehört längst zu den Binsenwahrheiten des pädagogischen Alltags, dass die
Schule sich vor den meisten SchülerInnen als Hürdenlauf von Examen aufbaut. Wir
alle kennen die didaktische Bulimie, der wir uns zu diesem Zweck unterziehen.
Aber nicht nur in der Schule, in der Gesellschaft generell zeigt sich eine
Testmanie, die uns nachdenklich stimmen sollte.
Der
Grundparameter jeglicher Leistungsmessung ist die Zeit. Eigentlich testet man
in einer Prüfung eher das Problemlösetempo als das Verständnis. Mir ist als
Mathematiklehrer immer wieder aufgefallen, dass bestimmte Schülerinnen und
Schüler durchaus fähig sind, ein Problem zu verstehen, es in mathematische
Sprache zu übersetzen und einen Lösungsweg zu erarbeiten; nur erreichen sie das
Resultat nicht – sie sind langsame Brüter. Man befindet sich dann als
Lehrer in einer Zwickmühle. Die Anlagen zur Lösung sind da, sie werden aber
durch eine gleichmacherische Zeitklappe an ihrer Entfaltung gehindert.
Es gibt
im Besonderen die notorisch «sperrigen» ProblemlöserInnen, die eigenwillige,
oft recht gewundene Wege einschlagen und sich dann verheddern und verirren.
Wenn der Lehrer nach einer vielleicht schon beträchtlichen Menge an
korrigierten Arbeiten, ermüdet und zunehmend genervt, solchen Wegen folgen
soll, dann geschieht es leicht, dass er «keine Zeit» mehr hat und die Aufgabe
als falsch oder nur teilweise gelöst bewertet, um dann vielleicht von einem
entspannteren gegenkorrigierenden Kollegen darauf aufmerksam gemacht zu werden,
dass man es hier ja mit einem ganz originellen Gedankengang zu tun habe.
Äpfel
und Birnen
Kann
man Bildung messen? Man kann alles messen, vorausgesetzt, ein Merkmal lässt
sich mittels geeigneter Definition auf einer Zahlenskala abbilden. Messen heisst
Qualitätsreduktion. Vor mir steht ein Korb voller verschiedener Früchte. Jede
Frucht ein Individuum mit besonderen Qualitäten. Nehmen wir an, uns stünde nur
ein Messverfahren zur Verfügung, nämlich eine Waage. Mit dem Gewicht führe ich
eine Kategorisierung im Korb ein. Ich kann nun die Früchte nach einem einzigen
Kriterium sortieren, buchstäblich Äpfel mit Birnen vergleichen. Und ich tue das
vor allem, wenn ich an einer statistischen Charakterisierung des Korbinhalts
interessiert bin.
Nehmen
wir nun an, wir hätten einen «Korb» SchülerInnen vor uns, bei denen wir einen
bestimmten Test über den IQ durchführen. Wir bilden also das, was uns
PsychologInnen als Intelligenz definieren, auf einer Skala ab; und wir können
mit den IQ-Werten eine statistische Verteilung aufstellen, die meist drei
Hauptkategorien definiert: die «Normalen», die «Guten» und die «Schlechten»
(Analoges geschieht heute auch mit Kranken und StraftäterInnen). Die implizite
Frage im Hintergrund ist stets, wozu eine statistische Charakterisierung
verwendet werden soll. Alles scheinbar neutrale quantitative Vergleichen hängt
vom Standpunkt eines Dritten ab, vom Standpunkt der Bildungsingenieurin, des
Lehrers, der Personalchefin.
Natürlich
werden die meisten Menschen intuitiv einwenden, dass Zahlen nicht «alles»
sagen, da sie ja vom Test abhängen. Das ist richtig. Es kommt sehr darauf an,
wer das «alles» definiert. Das tun heute mächtige Wirtschaftsorganisationen wie
die OECD: «Wir messen Produktivität und weltweite Waren- und Finanzströme. Wir
analysieren und vergleichen Daten, um Trends vorauszusagen. Und wir setzen
internationale Standards – in der Landwirtschaft, in der Steuerpolitik
oder bei der Sicherheit von Chemikalien.» Oder eben: in der Bildung.
Lebens-
statt Schulnoten
Die
Schule war schon immer eine Anstalt der Anpassung an eine Messgrösse: die Note.
Pisa treibt die Benotung ins Extrem. Nun passen sich ganze Schulen dem Diktat
eines internationalen Bewertungssystems an. Noten schaffen Klarheit, sagen die
einen; eben gerade nicht, sagen die anderen. Seit Jahrzehnten schwelt der
Konflikt unter Lehrpersonen, Eltern, Erziehungswissenschaftlerinnen und
Psychologen über Sinn und Effekt der Benotung. Schon der Schöpfer des
Kompetenzbegriffs – der Psychologe David McClelland – forderte
vor vierzig Jahren nicht Schulnoten, sondern Lebensnoten.
Ich
kann hier auf eine Erfahrung zurückgreifen, die ich Ende der achtziger Jahre in
einem Schulversuch am Lehrerseminar Marzili Bern gemacht habe. Notenfreie
Beurteilungsmethoden wurden erprobt. Es gab BefürworterInnen und GegnerInnen in
der LehrerInnenschaft; es gab erwartungsgemäss auch grosse Differenzen zwischen
den Fächern. Die notenfreie Beurteilung stellte sich als oft mühsam und
zeitaufwendig heraus, sie bestand etwa im Abhaken eines Kriterienkatalogs;
zudem hatten die SchülerInnen die Möglichkeit, sich selbst zu beurteilen.
Die
Beurteilung des Lehrers kollidierte mehr als einmal mit dem Feedback des
Schülers, was oft zu unbefriedigenden Pattsituationen oder dann letztlich
wiederum zu einem «Machtspruch» der Fachautorität führte. Anspruch des Lehrers
und Antwort des Schülers standen in einem – pädagogisch wahrscheinlich
unaufhebbaren – asymmetrischen Verhältnis.
Was ich
aufs Ganze gesehen trotzdem positiv in Erinnerung behalte, ist ein
«experimenteller» Wille zur Erweiterung des Fragehorizonts seitens der
LehrerInnen. Eine Schülerin konnte zum Beispiel ihre Physikkenntnisse
demonstrieren, nicht indem sie Standardaufgaben löste, sondern indem sie ein
Referat zu einem Thema aus dem Alltag oder aus der Geschichte hielt oder einen
Essay schrieb. Es war oft erstaunlich, welch ein Verständnis sich in diesen
Formaten ausdrückte – und damals existierten Wikipedia und Google
notabene noch nicht.
Kurz,
nicht das Notensystem und andere quantitative Beurteilungsverfahren sind das
Problem, sondern das Menschenbild dahinter. Das Bildungskonzept der OECD lässt
da keine Zweifel aufkommen. Es spricht von der Erziehung als «wirtschaftlicher
Investition» in den Menschen; vom «Produktionsfaktor Lehrer» und dem
«Rohmaterial Schüler». Bereits 1961 formulierte der Bericht der OECD-Konferenz
in Washington unverblümt: «Heute versteht es sich von selbst, dass auch das
Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig
ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das
Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und
Kunstdüngerfabriken.»
Anpassung
ist die Schlüsselkompetenz. Insofern erfährt der Wissensbegriff eine verkappte
Umdeutung in Richtung Nutzen und Anwendung. Das leistet der Begriff der
Kompetenz. Etwas wissen heisst nun nicht mehr wissen, warum etwas so ist oder
was der Sinn von etwas ist, sondern in gesetzter Zeit aus einem bestimmten
Input einen gewünschten Output generieren. Der französische Philosoph
Jean-François Lyotard bezeichnete das vor drei Jahrzehnten in seinem Buch «Das
postmoderne Wissen» als «Performativität»: Wissen heisst, etwas «performen»
können in den Arenen des Wettbewerbs. Performances sind sichtbares, testbares,
messbares Handeln (im Französischen wird Kompetenz als «performance»
bezeichnet). Was nicht selten heisst: so tun als ob.
Prüfender
Zugriff auf das Innere
Bildung
fragt immer auch: Wer bist du? Kompetenz dagegen fragt: Was lässt sich dir antrainieren
und an dir testen? Der am heute massgebenden Kompetenzbegriff beteiligte
Psychologe Franz E. Weinert definiert Kompetenz als «die bei Individuen
verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten,
um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen,
volitionalen und sozialen Bereitschaften (…), um Problemlösungen in variablen
Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.»
Man
muss genau hinhören. Kompetenz als «Bereitschaft» bedeutet: Man will auch den
prüfenden Zugriff auf das Innere – auf Beweggründe, Absichten,
Sozialverhalten – von Individuen haben, um es völlig unterschiedlichen
Bedingungen anpassen zu können. Ganz nach dieser Logik schreibt zum Beispiel
das Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Württemberg, dass sich «der Fokus
von Bildung im Humboldtschen Sinne von der individuellen intellektuellen
Entwicklung zu den jeweiligen Kontexten (verschiebt), in denen eine Person
kompetent agieren können sollte. Der jeweilige Kontext schafft einen neuen
Bezugsrahmen: Die ‹Outputorientierung von Lernprozessen› steht von nun an im
Zentrum des Bildungsbegriffs.» Und mit der Outputorientierung natürlich auch
die Formbarkeit des Individuums nach den Kriterien immer kurzfristigerer
Beschäftigungsverhältnisse.
Was
nicht verwundert, denn die neue Bildungsökonomie ist im Wesentlichen
Betriebsökonomie. Die Weltbank definiert Outputorientierung klar. Sie bedeutet,
«dass Prioritäten in der Bildung bestimmt werden durch eine wirtschaftliche
Analyse, das Setzen von Standards und die Messung, ob die Standards erreicht
worden sind». Bildung erschöpft sich so in Ergebniserwartungen –
Standards – und deren Messung – Evaluation. Getestetes und
«Belohntes» zählen, Outputfaktoren wie AbsolventInnenzahlen, Auslastungsquoten,
Rankings. Betrieb, Psychologie und Pädagogik verschmelzen zu einem einzigen
Anwendungskomplex.
Kompetent
ist, wer seinen Job erledigt. Kompetenz wird zum Kapital und der Kompetenztest
zu einem neuen Absatzmarkt. Nicht nur geistert in den Bildungstheorien die
unselige Gleichung «Ich = mein Humankapital» herum. Ein Handbuch aus dem
Jahr 2007 stellt fest: «Das Kompetenzkapital eines Unternehmens oder gar
eines Landes (entscheidet) über seine Wettbewerbsfähigkeit im europäischen und
globalen Massstab.»
Möglichst
inhaltsfreie Kompetenz
Um
einem Missverständnis zu begegnen: Zur Debatte stehen nicht Kompetenzen,
sondern der ganze Wandel vom inhaltsorientierten zum kompetenzorientierten
pädagogischen Kosmos, der von einer offensiven Ideologie mobilisiert wird.
Dieser Wandel ist kein rein pädagogisches Ereignis, sondern ein sozial- und
kulturpolitisches. Im Kern steckt die Grundthese: Kompetenz lässt sich von der
Sache, vom Fach ablösen; der Inhalt ist sekundär, die Kompetenz primär.
Etwas
boshafter formuliert: Auf möglichst inhaltsfreie Kompetenz kommt es an. Oder
sarkastischer, mit dem Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin gesprochen:
«Ein Trainingslager der Neonazis ist unter kompetenztheoretischen
Gesichtspunkten von einer Ausbildung in der Altenpflege nicht zu
unterscheiden.»
Gerade
diese Vorherrschaft ruft nach einer Gegenbewegung, die sich an die These hält:
In der Bildung geht es immer um Inhalte, nicht um Kompetenzen; um mathematische
Gleichungen, literarische Texte, historische Zusammenhänge. Anders gesagt: Wenn
sich meine Motivation und Lust erst einmal an einer Sache entzündet haben
– an der Gleichung, am Text, am historischen Dokument –,
dann werde ich mit grosser Wahrscheinlichkeit auch selber erkennen,
welche Kompetenzen nötig sind, um damit erfolgreich und – im Idealfall
– erkenntnisbringend umzugehen.
Man
unterrichtet nicht «sprachmotorische Kompetenz», sondern Deutsch, und dabei
bildet sich normalerweise die Kompetenz von selbst heraus, im Dreieck
Lehrer-Schülerin-Sache. Es ist dem Lehrplan 21 zugutezuhalten, dass er
– obwohl auch er sich der Kompetenzorientierung verpflichtet
– dies explizit festhält: «Die dem Lehrplan zugrunde liegende Idee der
Kompetenzorientierung bedeutet keine Abkehr von einer tief verstandenen
fachlichen Wissens- und Kulturbildung, sondern im Gegenteil deren Verstärkung und
Festigung durch ein auf Verständnis, Wissensnutzung und Können hin orientiertes
Bildungsverständnis.»
Beherzte
Worte. Ob sie sich gegen die Messerei und Testerei durchsetzen werden, bleibt
abzuwarten. Die Bildungsmaschine kommt auf Touren. «Die zunehmende
Bürokratisierung des Schulsystems führt dazu, dass das ursprüngliche Ziel der
Effizienzsteigerung nicht nur in Frage gestellt wird, sondern sich sogar ins
Gegenteil verkehrt», stellt eine Schweizer Studie («Ist unsere Schule noch
zeitgemäss und artgerecht?») aus dem Jahr 2009 fest. «Immer mehr Geld
geht in Strukturmassnahmen, Verwaltungs- und Koordinationsarbeit, immer weniger
bleibt für das Kerngeschäft, die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern
übrig.»
Man
möchte vor diesem Hintergrund den LehrerInnen von heute mit Günter Eich
zurufen: Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Bildungsmaschine.
Der Physiker, Philosoph und Buchautor Eduard Kaeser war
früher Gymnasiallehrer in Bern.
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