18. September 2015

Dialog statt Floskeln

Walter Bernet fordert in seinem Kommentar zur "Schlacht um die Volksschule" mehr Dialog statt leerer Worthülsen. Diese Aufforderung kann nur in Richtung der EDK und ihrer Verbündeter gerichtet sein. Der Kampf um den Lehrplan 21 und um die Fremdsprachen an der Primarschule ist - und dies klammert Bernet aus - auch ein Kampf um die Vormachtstellung in Sachen Volksschule: Soll die breite Öffentlichkeit keinen Einfluss mehr haben auf schulpolitische Weichenstellungen? In der Schweiz darf man über alles abstimmen, nur nicht über den Stoff in der Volksschule. Die geheimbündlerische Kommunikation und selektive "Vernehmlassung" zum Lehrplan 21, sowie die skurrile Durchsetzungsstrategie bei den Fremdsprachen sind Beispiele einer in unserem Land ungewohnten Machtdemonstration der Administration. Kritiker werden als Gegner betrachtet, die man mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ausschalten muss. Die anstehenden Initiativen in vielen Kantonen sind der Beweis, dass die Strategie der Ausgrenzung der Kritiker als rückwärtsgewandte, reformscheue Störefriede nicht funktioniert hat. (uk)
Die Schlacht um die Volksschule, NZZ, 18.9. Kommentar von Walter Bernet


Ein Satz, der sitzt: «Der vom Lehrer geführte Klassenunterricht gewährleistet am besten, dass alle Kinder vorankommen.» Wer möchte grundsätzlich widersprechen? Zumal es für die enorme Einflussmöglichkeit der Lehrer und Lehrerinnen auf das Lernen einen unverdächtigen Zeugen gibt: John Hattie, dessen umfassende, weltbekannt gewordene Studie «Visible Learning» aus dem Jahr 2009 den Schulreformern dieser Welt einen Denkzettel verpasst hat.
Dem traditionellen Frontalunterricht schreibt die Studie eine von andern Methoden nicht erreichte Effizienz zu. Kein Widerspruch also, aber ein Einwand: Spätestens in der siebten Lektion Frontalunterricht in Folge werden dessen Grenzen offenbar. Den guten Pädagogen zeichnet aus, virtuos mit einer Palette von Methoden umgehen zu können – nicht erst seit gestern.

Verborgene Agenden
Der zitierte Satz stammt aus dem Prospekt der Interessengemeinschaft «Eine Schule für unsere Kinder», welche die laufenden kantonalen Volksinitiativen gegen den Lehrplan 21 zu koordinieren scheint, aber die Zürcher Initiative «Lehrplan vors Volk» in den Vordergrund stellt. Dort erscheint er aber nicht als pädagogische Evidenz, sondern als Argument gegen den neuen Lehrplan. Diesem wird unterstellt, er vereitle, was den Kindern frommt, und verfolge eine verborgene Agenda: Er diene der Zementierung einer seit längerem verdeckt vor sich gehenden Abkehr von den Grundsätzen der bewährten Volksschule. Untermauert wird diese Unterstellung mit diffuser – im Einzelnen zum Teil nicht unberechtigter – Kritik an der Schule, die mit dem Lehrplan 21 aber nicht das Geringste zu tun hat. Ein Beispiel: Dass über 50 Prozent der Schüler spezieller Abklärungen bedürfen, wird den Zürcher Schulen schon seit Jahren zum Vorwurf gemacht. Weshalb dies eine Auswirkung des künftigen Lehrplans sein soll, ist nicht nachzuvollziehen.
Dazu vorerst so viel: Für fruchtbare Bildungs- und Schuldebatten braucht es ein Mindestmass an Transparenz und intellektueller Redlichkeit. Beides fehlt hier definitiv. Wer hinter den Forderungen steckt, bleibt unklar. Einzig ein Mitglied des Zürcher Initiativkomitees ist als Kontaktadresse angegeben. Deutlich wird nur eines: Hinter dem Kampf gegen den Lehrplan 21 steht zwar vordergründig das demokratiepolitische Anliegen einer Mitsprache des Volkes, das eigentliche Projekt ist aber die Rückkehr zu einer idealisierten Volksschule der Vergangenheit, einer Schule, die es so nie gegeben hat, kurz: eine Illusion. Das Muster kennen wir seit den 1990er Jahren. Die Fäden, aus dem es gewirkt ist, führen stets ins schwer fassbare Umfeld des früheren Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM).
Gross ist der Kontrast zum Auftritt des kantonalen Initiativkomitees «Lehrplan vors Volk». Von all dem weltanschaulichen Zauber ist auf seiner Website nichts zu finden, dafür sind die Initianten namentlich genannt. Im Zentrum steht da die Forderung, nicht der Bildungsrat, sondern das Parlament und eventuell das Volk hätten Lehrpläne zu genehmigen – und den vorliegenden natürlich abzulehnen. Darüber kann man mit Argumenten streiten. Der Zürcher Kantonsrat hat das auch schon getan und das Begehren klar abgelehnt. Es bleibt der Verdacht, dass man das Werfen von argumentativen Nebelpetarden andern überlässt, aber gern davon profitiert.

Streit um Harmonisierung
Die Schweizer Stimmbürger haben im Mai 2006 dem Bildungsartikel der Bundesverfassung mit aussergewöhnlich grossem Mehr zugestimmt. Er sieht die Schaffung eines Bildungsraums Schweiz vor, der zwar die Bildungshoheit der Kantone nicht infrage stellt, aber eine Harmonisierung der Volksschulen verlangt. Scheitert sie, könnte der Bund intervenieren. Seither wird um die Umsetzung gekämpft. In vielen Kantonen fanden in den Folgejahren Volksabstimmungen über den Beitritt zum Konkordat statt, das die Eckwerte der Harmonisierung vorgibt. In einem guten halben Dutzend von ihnen verweigerten die Stimmbürger den Beitritt. Die Abstimmungskämpfe wiesen viele Parallelen mit dem oben geschilderten Beispiel auf. Als besonders wirksam erwies sich die Argumentation mit dem Schreckgespenst der Einführung des obligatorischen zweijährigen Kindergartens. Das Flugblatt mit den weinenden Kindern bleibt in Erinnerung. Neue Höhen hat die Diskussion seit dem letzten Jahr erreicht. Auf nationaler Ebene geht es um die Fremd- und Landessprachen in der Volksschule, auf sprachregionaler Deutschschweizer Ebene um die Einführung eines gemeinsamen Lehrplans. Die Romands haben das bereits erledigt.
Die Intensität der Auseinandersetzung ist schon jetzt so hoch, dass mit unzimperlichen Abstimmungskämpfen zu rechnen ist. Auch im Kanton Zürich, wo zurzeit nicht nur Unterschriften für die Initiative «Lehrplan vors Volk», sondern auch für die Initiative «Mehr Qualität – eine Fremdsprache an der Primarschule» gesammelt werden. Es darf gestritten werden, ohne Zweifel. Zu wünschen wäre aber, dass die Diskussion die seit Jahren eingefahrenen Reiz-Reaktions-Schemata durchbrechen und sich den tatsächlichen Problemen der Volksschule nähern würde. Dazu einige Behauptungen aus Zürcher Sicht.

Dialog statt Floskeln
Zu den Lehrplänen: Der vielgeschmähte Lehrplan 21 ist zwar dick, aber kein Monster. Sein Einfluss auf die Schule wird weder negativ noch positiv sein, sondern beschränkt. Er ist eine Fleissarbeit, die all das, was pädagogische Hochschulen, Fachspezialisten und -didaktiker, Lehrerverbände, Lehrmittelverlage und Bildungspolitiker in den letzten Jahren entwickelt und geprüft haben, auf einen Nenner bringt, damit man damit arbeiten kann. Und zwar so, dass Baselbieter Lehrer problemlos auch in Zug und Luzerner Lehrerinnen in Zürich beschäftigt werden können. Und so, dass die sehr vielfältigen Erwartungen der Wirtschaft und der Gesellschaft an die Schule in der ganzen Deutschschweiz auf vergleichbare Weise befriedigt werden. Er wird vor allem dafür sorgen, dass nicht jeder Kanton seine Eigenständigkeit mit der Entwicklung eigener teurer Lehrmittel beweisen muss (was ohnehin schon lange nicht mehr möglich ist). Natürlich kann man beispielsweise kritisieren, dass der Lehrplan 21 mit Kompetenzen und nicht mit klassischen Lernzielen arbeitet. Aber erstens ist der verwendete Kompetenzbegriff reflektierter als derjenige deutscher und anderer Vorläufer, und zweitens wird über die Kompetenzorientierung in der Lehrerbildung und -weiterbildung entschieden. Auch eine Ablehnung des Lehrplans änderte daran nicht viel.
Zu den Fremdsprachen: Die Sache ist da komplizierter. Es treten sich staatspolitische Bedenkenträger, Arbeitgeber unterschiedlicher Art, Eltern, Lehrerverbände und Bildungspolitiker gegenseitig auf den Füssen herum. In jüngster Zeit haben die Lehrerverbände die Initiative ergriffen: Der nationale Verband LCH tritt für eine Landessprache als erste Fremdsprache ein und heimste damit kürzlich eine Auszeichnung für Verdienste um den nationalen Zusammenhalt ein. Für seine Haltung spricht das Harmonisierungsgebot. Damit, dass die Ostschweizer Kantone seit mehr als einem Jahrzehnt mit ihrem Frühenglisch ausscheren, konnte man bisher aber gut leben. Es müsste weiterhin möglich sein. Immerhin sind erhebliche Mittel in diesen Unterricht investiert worden.
Der Zürcher Lehrerverband hat eben erst die Federführung in der Kampagne zur Abschaffung der zweiten Fremdsprache in der Primarschule übernommen, will sich aber nicht zur Frage äussern, welche es denn sein soll. Eine vertrackte Situation! Sicher ist, dass der nationale Zusammenhalt auch dann nicht gefährdet ist, wenn Französisch erst auf der Sekundarstufe unterrichtet würde. Sofern am Ende der Schulzeit die Resultate vergleichbar sind, müssten pädagogische Argumente entscheidend sein – wenn es sie denn in der gewünschten Eindeutigkeit gäbe. Auch nach einem Vierteljahrhundert Primarschulfranzösisch und einem guten Jahrzehnt Frühenglisch zeichnet sich die Wissenschaft mit wenigen Ausnahmen durch floskelhaftes Argumentieren oder gänzliche Abstinenz in diesen Diskussionen aus. Die Praktiker in den Schulhäusern haben die Nase vorn mit ihrem Argument, ein vernünftiges Resultat sei mit den wenigen zur Verfügung stehenden Lektionen unmöglich.
Viel gewonnen wäre, wenn die absehbaren Auseinandersetzungen im Wissen darum geführt würden, dass die vorhandenen Probleme der Schule nicht primär von im Verborgenen wirkenden Mächten verursacht wurden, sondern zu einem grossen Teil die Folge gesellschaftlicher Veränderungen sind. Die Frage muss also sein, wie sie zu lösen sind, nicht, wer daran schuld ist. Weder die letzte Studie noch die jüngste Evaluation wird die Lösung bringen. Gefunden wird sie nur im konstruktiven Dialog – und nur auf Zeit.


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