Die Schlacht um die Volksschule, NZZ, 18.9. Kommentar von Walter Bernet
Ein Satz, der sitzt: «Der vom Lehrer geführte Klassenunterricht
gewährleistet am besten, dass alle Kinder vorankommen.» Wer möchte
grundsätzlich widersprechen? Zumal es für die enorme Einflussmöglichkeit der
Lehrer und Lehrerinnen auf das Lernen einen unverdächtigen Zeugen gibt: John
Hattie, dessen umfassende, weltbekannt gewordene Studie «Visible Learning» aus
dem Jahr 2009 den Schulreformern dieser Welt einen Denkzettel verpasst hat.
Dem traditionellen Frontalunterricht schreibt die Studie eine von andern
Methoden nicht erreichte Effizienz zu. Kein Widerspruch also, aber ein Einwand:
Spätestens in der siebten Lektion Frontalunterricht in Folge werden dessen
Grenzen offenbar. Den guten Pädagogen zeichnet aus, virtuos mit einer Palette
von Methoden umgehen zu können – nicht erst seit gestern.
Verborgene Agenden
Der zitierte Satz stammt aus dem Prospekt der Interessengemeinschaft «Eine Schule für unsere Kinder», welche
die laufenden kantonalen Volksinitiativen gegen den Lehrplan 21 zu koordinieren
scheint, aber die Zürcher Initiative «Lehrplan vors Volk» in den Vordergrund
stellt. Dort erscheint er aber nicht als pädagogische Evidenz, sondern als
Argument gegen den neuen Lehrplan. Diesem wird unterstellt, er vereitle, was
den Kindern frommt, und verfolge eine verborgene Agenda: Er diene der
Zementierung einer seit längerem verdeckt vor sich gehenden Abkehr von den
Grundsätzen der bewährten Volksschule. Untermauert wird diese Unterstellung mit
diffuser – im Einzelnen zum Teil nicht unberechtigter – Kritik an der Schule,
die mit dem Lehrplan 21 aber nicht das Geringste zu tun hat. Ein Beispiel: Dass
über 50 Prozent der Schüler spezieller Abklärungen bedürfen, wird den Zürcher
Schulen schon seit Jahren zum Vorwurf gemacht. Weshalb dies eine Auswirkung des
künftigen Lehrplans sein soll, ist nicht nachzuvollziehen.
Dazu vorerst so viel: Für fruchtbare Bildungs- und Schuldebatten braucht
es ein Mindestmass an Transparenz und intellektueller Redlichkeit. Beides fehlt
hier definitiv. Wer hinter den Forderungen steckt, bleibt unklar. Einzig ein
Mitglied des Zürcher Initiativkomitees ist als Kontaktadresse angegeben.
Deutlich wird nur eines: Hinter dem Kampf gegen den Lehrplan 21 steht zwar
vordergründig das demokratiepolitische Anliegen einer Mitsprache des Volkes,
das eigentliche Projekt ist aber die Rückkehr zu einer idealisierten
Volksschule der Vergangenheit, einer Schule, die es so nie gegeben hat, kurz:
eine Illusion. Das Muster kennen wir seit den 1990er Jahren. Die Fäden, aus dem
es gewirkt ist, führen stets ins schwer fassbare Umfeld des früheren Vereins
zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM).
Gross ist der Kontrast zum Auftritt des
kantonalen Initiativkomitees «Lehrplan vors Volk». Von all dem
weltanschaulichen Zauber ist auf seiner Website nichts zu finden, dafür sind
die Initianten namentlich genannt. Im Zentrum steht da die Forderung, nicht der
Bildungsrat, sondern das Parlament und eventuell das Volk hätten Lehrpläne zu
genehmigen – und den vorliegenden natürlich abzulehnen. Darüber kann man mit
Argumenten streiten. Der Zürcher Kantonsrat hat das auch schon getan und das
Begehren klar abgelehnt. Es bleibt der Verdacht, dass man das Werfen von
argumentativen Nebelpetarden andern überlässt, aber gern davon profitiert.
Streit um Harmonisierung
Die Schweizer Stimmbürger haben im Mai 2006 dem Bildungsartikel der
Bundesverfassung mit aussergewöhnlich grossem Mehr zugestimmt. Er sieht die
Schaffung eines Bildungsraums Schweiz vor, der zwar die Bildungshoheit der
Kantone nicht infrage stellt, aber eine Harmonisierung der Volksschulen
verlangt. Scheitert sie, könnte der Bund intervenieren. Seither wird um die
Umsetzung gekämpft. In vielen Kantonen fanden in den Folgejahren Volksabstimmungen
über den Beitritt zum Konkordat statt, das die Eckwerte der Harmonisierung
vorgibt. In einem guten halben Dutzend von ihnen verweigerten die Stimmbürger
den Beitritt. Die Abstimmungskämpfe wiesen viele Parallelen mit dem oben
geschilderten Beispiel auf. Als besonders wirksam erwies sich die Argumentation
mit dem Schreckgespenst der Einführung des obligatorischen zweijährigen
Kindergartens. Das Flugblatt mit den weinenden Kindern bleibt in Erinnerung.
Neue Höhen hat die Diskussion seit dem letzten Jahr erreicht. Auf nationaler
Ebene geht es um die Fremd- und Landessprachen in der Volksschule, auf
sprachregionaler Deutschschweizer Ebene um die Einführung eines gemeinsamen
Lehrplans. Die Romands haben das bereits erledigt.
Die Intensität der Auseinandersetzung ist schon jetzt so hoch, dass mit
unzimperlichen Abstimmungskämpfen zu rechnen ist. Auch im Kanton Zürich, wo
zurzeit nicht nur Unterschriften für die Initiative «Lehrplan vors Volk»,
sondern auch für die Initiative «Mehr Qualität – eine Fremdsprache an der
Primarschule» gesammelt werden. Es darf gestritten werden, ohne Zweifel. Zu
wünschen wäre aber, dass die Diskussion die seit Jahren eingefahrenen
Reiz-Reaktions-Schemata durchbrechen und sich den tatsächlichen Problemen der
Volksschule nähern würde. Dazu einige Behauptungen aus Zürcher Sicht.
Dialog statt Floskeln
Zu den Lehrplänen: Der
vielgeschmähte Lehrplan 21 ist zwar dick, aber kein Monster. Sein
Einfluss auf die Schule wird weder negativ noch positiv sein, sondern
beschränkt. Er ist eine Fleissarbeit, die all das, was pädagogische
Hochschulen, Fachspezialisten und -didaktiker, Lehrerverbände,
Lehrmittelverlage und Bildungspolitiker in den letzten Jahren entwickelt und
geprüft haben, auf einen Nenner bringt, damit man damit arbeiten kann. Und zwar
so, dass Baselbieter Lehrer problemlos auch in Zug und Luzerner Lehrerinnen in
Zürich beschäftigt werden können. Und so, dass die sehr vielfältigen
Erwartungen der Wirtschaft und der Gesellschaft an die Schule in der ganzen
Deutschschweiz auf vergleichbare Weise befriedigt werden. Er wird vor allem
dafür sorgen, dass nicht jeder Kanton seine Eigenständigkeit mit der
Entwicklung eigener teurer Lehrmittel beweisen muss (was ohnehin schon lange
nicht mehr möglich ist). Natürlich kann man beispielsweise kritisieren, dass
der Lehrplan 21 mit Kompetenzen und nicht mit klassischen Lernzielen arbeitet.
Aber erstens ist der verwendete Kompetenzbegriff reflektierter als derjenige
deutscher und anderer Vorläufer, und zweitens wird über die
Kompetenzorientierung in der Lehrerbildung und -weiterbildung entschieden. Auch
eine Ablehnung des Lehrplans änderte daran nicht viel.
Zu den Fremdsprachen: Die Sache ist da komplizierter. Es treten sich
staatspolitische Bedenkenträger, Arbeitgeber unterschiedlicher Art, Eltern,
Lehrerverbände und Bildungspolitiker gegenseitig auf den Füssen herum. In
jüngster Zeit haben die Lehrerverbände die Initiative ergriffen: Der nationale Verband LCH tritt für eine Landessprache
als erste Fremdsprache ein und heimste damit kürzlich eine Auszeichnung für
Verdienste um den nationalen Zusammenhalt ein. Für seine Haltung spricht das
Harmonisierungsgebot. Damit, dass die Ostschweizer Kantone seit mehr als einem
Jahrzehnt mit ihrem Frühenglisch ausscheren, konnte man bisher aber gut leben.
Es müsste weiterhin möglich sein. Immerhin sind erhebliche Mittel in diesen
Unterricht investiert worden.
Der Zürcher Lehrerverband hat eben erst die Federführung in der Kampagne
zur Abschaffung der zweiten Fremdsprache in der Primarschule übernommen, will
sich aber nicht zur Frage äussern, welche es denn sein soll. Eine vertrackte
Situation! Sicher ist, dass der nationale Zusammenhalt auch dann nicht
gefährdet ist, wenn Französisch erst auf der Sekundarstufe unterrichtet würde.
Sofern am Ende der Schulzeit die Resultate vergleichbar sind, müssten pädagogische
Argumente entscheidend sein – wenn es sie denn in der gewünschten Eindeutigkeit
gäbe. Auch nach einem Vierteljahrhundert Primarschulfranzösisch und einem guten
Jahrzehnt Frühenglisch zeichnet sich die Wissenschaft mit wenigen Ausnahmen
durch floskelhaftes Argumentieren oder gänzliche Abstinenz in diesen
Diskussionen aus. Die Praktiker in den Schulhäusern haben die Nase vorn mit
ihrem Argument, ein vernünftiges Resultat sei mit den wenigen zur Verfügung
stehenden Lektionen unmöglich.
Viel gewonnen wäre, wenn die absehbaren Auseinandersetzungen im Wissen
darum geführt würden, dass die vorhandenen Probleme der Schule nicht primär von
im Verborgenen wirkenden Mächten verursacht wurden, sondern zu einem grossen
Teil die Folge gesellschaftlicher Veränderungen sind. Die Frage muss also sein,
wie sie zu lösen sind, nicht, wer daran schuld ist. Weder die letzte Studie
noch die jüngste Evaluation wird die Lösung bringen. Gefunden wird sie nur im
konstruktiven Dialog – und nur auf Zeit.
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