26. September 2015

Im Eiltempo zum Schulabschluss

Kinder, die ohne Eltern in die Schweiz flüchten, sind oft verstört. In der Volksschule fassen sie Fuss und holen verpassten Schulstoff auf.
Im Eiltempo zum Schulabschluss, NZZ, 25.9. von Dorothée Vögeli


Auf der Flucht haben sie gelernt, ums nackte Überleben zu kämpfen. Jetzt sind sie in der Schweiz, fern ihrer Familien. Manche haben ihre Eltern während der Odyssee durch die Wüste und übers Meer verloren. Um sich alleine durchschlagen zu können, trainierten sie sich ein Verhalten an, das mit einem Schweizer Schulzimmer nicht kompatibel ist. Die fünf Teenager aus Eritrea und Afghanistan, die an diesem Morgen die Treppe des Stadtzürcher Oberstufenschulhauses Riedtli hochrennen, wirken allerdings absolut wohlerzogen.

Grosse Niveauunterschiede
Ihr Bus, mit dem sie von ihrer Asylunterkunft zur Schule fahren, hatte Verspätung. Mit scheuem Lächeln geben sie der Lehrerin die Hand, setzen sich eiligst ans Pult, packen ihre Sachen aus und warten wie ihre beiden syrischen Klassenkameradinnen gespannt auf die Anweisungen von Janine Sobernheim. Der Einstieg in die Deutschstunde scheint ihnen bestens vertraut zu sein: Welcher Tag ist heute? Wie ist das Wetter, und wer ist alles hier? Der Reihe nach beantworten sie die Fragen, deren Schlüsselwörter an der Wand notiert sind. Dann gibt die Lehrerin das Tagesprogramm bekannt: Nach der Deutschstunde werden sie in der Hauswirtschaft lernen, wie man Gemüse dämpft, am Nachmittag folgt ein Test zu den Himmelsrichtungen - sie nicken eifrig.
Doch zunächst stellen sie sich vor. Sie sind alle zwischen 13 und 15 Jahre alt - das Geburtsdatum von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) beruht allerdings auf einer Schätzung und ist deshalb bei den meisten auf den 1. Januar datiert. Wie Schweizer Teenager spielen die Knaben gerne Fussball, sie sind wie die Mädchen am liebsten mit Freunden zusammen. Und sie legen Wert auf ein «cooles» Äusseres. Die Mädchen möchten Krankenschwester oder Polizistin werden, die Burschen Mechaniker. Ob ihnen das gelingen wird, steht auf einem anderen Blatt.
Ihre Muttersprachen sind Kurdisch, Tigrinisch und Farsisch. Weil ihre Fluchten allesamt durch arabische Länder führten, können sie sich bruchstückhaft untereinander verständigen, Janine Sobernheim versteht sie nicht. Von Anfang an bildete die deutsche Sprache die Grundlage, um im Eiltempo den Primarschulstoff durchzuarbeiten. Innert weniger Monate behandelte Sobernheim die mathematischen Grundoperationen, manche arbeiten nun bereits mit dem Lehrmittel der Oberstufe.
Alle haben Lücken in ihrer Schulkarriere, sie sind aber unterschiedlich gross. Ramin* besuchte eine Koranschule und hatte noch nie einen Zirkel in der Hand, der Analphabet Faruk kennt auch Schrift und Grammatik seiner Muttersprache nicht. Inzwischen hat er lesen gelernt, das Schreiben auf einer Linie gelingt ihm zunehmend, und im Rechnen kann er gut mithalten. Im Vergleich zum eritreischen Buben Awate, der später vielleicht in die Regelklasse übertreten kann, braucht er aber einen längeren Atem. Denn bereits nächstes Jahr wird die Lehrstellensuche aktuell. Faruk hat allerdings mehr Chancen als junge erwachsene Asylbewerber: Weil in der Schweiz auch Flüchtlingskinder eingeschult werden müssen, erhält er gezielte Förderung und ein offizielles Abschlusszeugnis; nicht mehr schulpflichtige junge Asylsuchende haben diesen unschätzbaren Startvorteil nicht. Mit Beschäftigungs-, Qualifizierungs- und Arbeitsintegrationsprogrammen versucht man, sie beruflich einzugliedern.
In der Stadt Zürich ist die im Februar gebildete Oberstufenklasse für unbegleitete Flüchtlinge ein Novum. Hintergrund ist deren rasant steigende Zahl: Letztes Jahr ersuchten 795 Flüchtlingskinder um Aufnahme in der Schweiz, was einer Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr entsprach. Dieses Jahr haben bereits 1224 Kinder und Jugendliche ein Asylgesuch gestellt, die meisten stammen aus Eritrea. Um das kantonale Zentrum Lilienberg in Affoltern für minderjährige Asylsuchende zu entlasten, wurde Anfang Jahr eine erste Aussenstation in Zürich Höngg eröffnet. In dieser Wohngruppe mit zwölf Plätzen leben fünf der sieben Schülerinnen und Schüler von Janine Sobernheim.
Der Start sei schwierig gewesen, berichtet sie. Die Klasse bestand ausschliesslich aus Eritreern. Seit darin verschiedene Nationalitäten vertreten sind, hat sich das Blatt gewendet. «Sie sind eine richtige Klasse geworden. Die Schüler sind hochmotiviert, manche geben richtig Vollgas», bestätigt sie den Eindruck von aussen. Sie selber hat gelernt, das anfänglich aggressive Verhalten einzelner Schüler zu verstehen: «Wer im Lastwagen oder im Boot zuunterst war, arbeitet die Traumatisierung auf, indem er auf absolute Autonomie pocht», führt sie aus. Die Fluchtgeschichten kennt sie allerdings nicht im Detail. Auch die Betreuer der Wohngruppe in Höngg, die von der Fachorganisation AOZ (Asyl-Organisation Zürich) geführt wird, sprechen die Jugendlichen nicht darauf an - es sei denn, sie wollen von sich aus erzählen, wie Sozialpädagogin Isabelle Herzig sagt. Das sei selten der Fall: «Das Erlebte ist zu nah und würde sie bloss traurig machen.»

Vertrauen gefasst
Auch im Wohnheim lebten zunächst nur Eritreer. Die Frustrationstoleranz der Neuankömmlinge, die altersbedingt ohnehin die Hörner abstossen müssen, war sehr tief, einige wurden in andere Asylunterkünfte umplaciert. Inzwischen haben sie Vertrauen zu den Betreuern gefasst und sich mit den neu zugezogenen Afghanen befreundet. Wichtige Bezugspersonen sind die Beistände - und Lehrpersonen wie Janine Sobernheim. Ihre Schützlinge waren an diesem Dienstagmorgen offenbar nicht wegen der Anwesenheit der Journalistin so hochkonzentriert. Sie wollen vorwärtskommen. Ihre Zukunft ist allerdings ungewiss. Noch haben nicht alle ein Bleiberecht. Und wie es nach der Volksschule weitergeht, ist völlig offen.

* Alle Namen der Redaktion bekannt.

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