Im Eiltempo zum Schulabschluss, NZZ, 25.9. von Dorothée Vögeli
Auf der Flucht haben sie gelernt, ums nackte Überleben zu kämpfen.
Jetzt sind sie in der Schweiz, fern ihrer Familien. Manche haben ihre Eltern
während der Odyssee durch die Wüste und übers Meer verloren. Um sich alleine
durchschlagen zu können, trainierten sie sich ein Verhalten an, das mit einem
Schweizer Schulzimmer nicht kompatibel ist. Die fünf Teenager aus Eritrea und
Afghanistan, die an diesem Morgen die Treppe des Stadtzürcher
Oberstufenschulhauses Riedtli hochrennen, wirken allerdings absolut
wohlerzogen.
Grosse Niveauunterschiede
Ihr
Bus, mit dem sie von ihrer Asylunterkunft zur Schule fahren, hatte Verspätung.
Mit scheuem Lächeln geben sie der Lehrerin die Hand, setzen sich eiligst ans
Pult, packen ihre Sachen aus und warten wie ihre beiden syrischen
Klassenkameradinnen gespannt auf die Anweisungen von Janine Sobernheim. Der
Einstieg in die Deutschstunde scheint ihnen bestens vertraut zu sein: Welcher
Tag ist heute? Wie ist das Wetter, und wer ist alles hier? Der Reihe nach
beantworten sie die Fragen, deren Schlüsselwörter an der Wand notiert sind.
Dann gibt die Lehrerin das Tagesprogramm bekannt: Nach der Deutschstunde werden
sie in der Hauswirtschaft lernen, wie man Gemüse dämpft, am Nachmittag folgt
ein Test zu den Himmelsrichtungen - sie nicken eifrig.
Doch
zunächst stellen sie sich vor. Sie sind alle zwischen 13 und 15 Jahre alt - das
Geburtsdatum von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) beruht
allerdings auf einer Schätzung und ist deshalb bei den meisten auf den 1.
Januar datiert. Wie Schweizer Teenager spielen die Knaben gerne Fussball, sie
sind wie die Mädchen am liebsten mit Freunden zusammen. Und sie legen Wert auf
ein «cooles» Äusseres. Die Mädchen möchten Krankenschwester oder Polizistin
werden, die Burschen Mechaniker. Ob ihnen das gelingen wird, steht auf einem
anderen Blatt.
Ihre
Muttersprachen sind Kurdisch, Tigrinisch und Farsisch. Weil ihre Fluchten
allesamt durch arabische Länder führten, können sie sich bruchstückhaft
untereinander verständigen, Janine Sobernheim versteht sie nicht. Von Anfang an
bildete die deutsche Sprache die Grundlage, um im Eiltempo den Primarschulstoff
durchzuarbeiten. Innert weniger Monate behandelte Sobernheim die mathematischen
Grundoperationen, manche arbeiten nun bereits mit dem Lehrmittel der Oberstufe.
Alle
haben Lücken in ihrer Schulkarriere, sie sind aber unterschiedlich gross.
Ramin* besuchte eine Koranschule und hatte noch nie einen Zirkel in der Hand,
der Analphabet Faruk kennt auch Schrift und Grammatik seiner Muttersprache
nicht. Inzwischen hat er lesen gelernt, das Schreiben auf einer Linie gelingt
ihm zunehmend, und im Rechnen kann er gut mithalten. Im Vergleich zum
eritreischen Buben Awate, der später vielleicht in die Regelklasse übertreten
kann, braucht er aber einen längeren Atem. Denn bereits nächstes Jahr wird die
Lehrstellensuche aktuell. Faruk hat allerdings mehr Chancen als junge
erwachsene Asylbewerber: Weil in der Schweiz auch Flüchtlingskinder eingeschult
werden müssen, erhält er gezielte Förderung und ein offizielles
Abschlusszeugnis; nicht mehr schulpflichtige junge Asylsuchende haben diesen
unschätzbaren Startvorteil nicht. Mit Beschäftigungs-, Qualifizierungs- und Arbeitsintegrationsprogrammen
versucht man, sie beruflich einzugliedern.
In
der Stadt Zürich ist die im Februar gebildete Oberstufenklasse für unbegleitete
Flüchtlinge ein Novum. Hintergrund ist deren rasant steigende Zahl: Letztes
Jahr ersuchten 795 Flüchtlingskinder um Aufnahme in der Schweiz, was einer
Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr entsprach. Dieses Jahr haben bereits 1224
Kinder und Jugendliche ein Asylgesuch gestellt, die meisten stammen aus
Eritrea. Um das kantonale Zentrum Lilienberg in Affoltern für minderjährige
Asylsuchende zu entlasten, wurde Anfang Jahr eine erste Aussenstation in Zürich
Höngg eröffnet. In dieser Wohngruppe mit zwölf Plätzen leben fünf der sieben
Schülerinnen und Schüler von Janine Sobernheim.
Der
Start sei schwierig gewesen, berichtet sie. Die Klasse bestand ausschliesslich
aus Eritreern. Seit darin verschiedene Nationalitäten vertreten sind, hat sich
das Blatt gewendet. «Sie sind eine richtige Klasse geworden. Die Schüler sind
hochmotiviert, manche geben richtig Vollgas», bestätigt sie den Eindruck von
aussen. Sie selber hat gelernt, das anfänglich aggressive Verhalten einzelner
Schüler zu verstehen: «Wer im Lastwagen oder im Boot zuunterst war, arbeitet
die Traumatisierung auf, indem er auf absolute Autonomie pocht», führt sie aus.
Die Fluchtgeschichten kennt sie allerdings nicht im Detail. Auch die Betreuer
der Wohngruppe in Höngg, die von der Fachorganisation AOZ (Asyl-Organisation
Zürich) geführt wird, sprechen die Jugendlichen nicht darauf an - es sei denn,
sie wollen von sich aus erzählen, wie Sozialpädagogin Isabelle Herzig sagt. Das
sei selten der Fall: «Das Erlebte ist zu nah und würde sie bloss traurig
machen.»
Vertrauen gefasst
Auch
im Wohnheim lebten zunächst nur Eritreer. Die Frustrationstoleranz der
Neuankömmlinge, die altersbedingt ohnehin die Hörner abstossen müssen, war sehr
tief, einige wurden in andere Asylunterkünfte umplaciert. Inzwischen haben sie
Vertrauen zu den Betreuern gefasst und sich mit den neu zugezogenen Afghanen
befreundet. Wichtige Bezugspersonen sind die Beistände - und Lehrpersonen wie
Janine Sobernheim. Ihre Schützlinge waren an diesem Dienstagmorgen offenbar
nicht wegen der Anwesenheit der Journalistin so hochkonzentriert. Sie wollen
vorwärtskommen. Ihre Zukunft ist allerdings ungewiss. Noch haben nicht alle ein
Bleiberecht. Und wie es nach der Volksschule weitergeht, ist völlig offen.
* Alle Namen der Redaktion
bekannt.
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