10. August 2015

Adorno und der Lehrplan 21

Sommer ist Bücherzeit. Fräulein gehört bei mir ebenso dazu wie Philipp Thers Buch über die neoliberale Ordnung des europäischen Kontinents. Letzteres hab ich für ein österreichisches Magazin mit «Titten aus Zement», mit einem Essay über Frauen im Neoliberalismus, ergänzt. Dabei fiel mir wieder Adornos «Minima Moralia» in die Hand–ein poetisch ­philosophisches Must für alle Menschen, die sich in der Politik umtreiben. Auf Seite 223 beispielsweise steht meine Randnotiz: «Kritik Adornos an Bologna». Nun muss man wissen, dass «Bologna» für Adorno damals einfach eine Stadt in Norditalien war. 
Minima Moralia heute, Basler Zeitung, 21.7. von Regula Stämpfli

So ist es gewissermassen keck, auf Seite 223 bei Adorno eine Kritik «avant la lettre» der Bildungsrevolution im 21. Jahrhundert vorwegzunehmen. Nichtsdestotrotz funktioniert dies prächtig: «So unterwirft Denken sich der gesellschaftlichen Leistungskontrolle nicht dort bloss, wo sie ihm beruflich aufgezwungen wird, sondern gleicht seine ganze Komplexion ihr an.» Schon seit Längerem werde ich durch einen klugen Zeitgenossen bestürmt, doch endlich Stellung gegenüber der Reformhektik im öffentlichen Schulwesen zu beziehen. Dies tue ich nun gerne mit Adorno. Der Lehrplan 21, ein bürokratisches, neoliberales Ungetüm, das den einfachen Wunsch von Eltern, die Lehrzeiten und ­pläne so anzugleichen, dass sie auch mal mit schulpflichtigen Kindern umziehen dürfen, brutal mit monströser Antipädagogik erschlägt. Alain Pichard und Beat Kissling, die mutigen Organisatoren des Widerstands, bringen Lehrplan 21 auf den Punkt: Es handelt sich um das Regime der «Marginalisierung von Lehrpersonen zugunsten technokratischer Managementregimes». Also kurz: Hört endlich auf und hört hin. «Auch wo es nichts zu knacken gibt, wird Denken zum Training auf irgend abzulegende Übungen», meint Adorno weiter. Mit anderen Worten: Das Denken verliert seine Autonomie und seine Freiheit. Es entsteht mehr und mehr ein intellektueller Habitus des neopositivistischen Formalismus, sodass jeder Gedanke entweder zum Quiz oder zur simulierten Informiertheit degeneriert. «Irgendwo müssen die richtigen Antworten schon verzeichnet stehen», beschreibt Adorno dieses «wishful thinking». Denken heisst so nichts anderes mehr, als in jedem Augenblick darüber zu wachen, ob man auch stromlinienförmig denken kann. So geht das Denken wie von sich selbst zugrunde, ohne dass dies die Denkenden überhaupt noch zu denken wagen. Kinder, die bekanntlich oft die besseren, klareren Fragen noch zu denken wagen, sollen also nun mit Lehrplan 21 zugeschnitten werden. Lehrplan 21 zielt dahin, die Urteilskraft durch die Schwächung jedes Ichs aufzulösen. Denn gefestigte Ichs sind frei. Und damit eine Gefahr für die Herrschenden. Wer Leere und Mechanik in einen für alle gültigen Lehrplan presst, konstruiert einen Bildungsmarsch hinter den neuen Götzen unkritischer Technik. Aber es passt in den Trend verstaatlichter Information, zu dem das Volk überdies noch Ja gesagt hat. Dazu gehört auch die Zerstörung klassischer, unnützer Sprachen, als ob Verständlich­ oder Nützlichkeit wichtig fürs freie Denken wären! Unter dem Deckmantel von Gleichheit wird dann Gleichförmigkeit gelehrt, scheusslich. Also. Es ist Sommerzeit, die uns auffordert, sich der manchmal fast unerträglichen Hitze hinzugeben. Und sei es auch nur, um immer wieder Nein zu sagen im Garten eigener heisser, wilder Gedanken.

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