10. August 2015

Liessmann: Entscheidend sind die Lehrer, nicht die Lehrpläne

Bildungsforscher Konrad Paul Liessmann empfiehlt der Schweiz ein Bildungsreform-Moratorium. Entscheidend für den Erfolg der Schule seien nicht die Lehrpläne, sondern die Lehrpersonen.




"Es ist absurd, wenn junge Menschen neun Jahre lang zur Schule gehen und am Schluss doch nicht lesen können", Bild: Adrian Moser

"Ich empfehle der Schweiz ein Bildungsreform-Moratorium", Bund, 8.8. von Bernhard Ott


Herr Liessmann, die Schule will nicht mehr nur Wissen, sondern auch Kompetenzen vermitteln. Warum haben Sie da Bedenken? 
Zurzeit gibt es einen unglaublichen Reformdruck im Bildungswesen. Allerdings scheint es dabei oft um eine Reform der Reform willen zu gehen. Zuerst wird ein neues Konzept entwickelt wie zum Beispiel dasjenige der Kompetenzorientierung, und dann wird ein Reformbedarf behauptet.

Die wichtigsten Bildungsziele seien seit dem 18. Jahrhundert bekannt, heisst es in Ihrem letzten Buch.
Es geht mir sicher nicht darum, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Natürlich entwickelt sich die Schule – wie auch die Gesellschaft. Die Frage ist aber, in welchem Tempo dies geschieht. Bildungseinrichtungen sollen auch Kontinuität und Vertrauen vermitteln, jedes Jahr Lehrpläne und Didaktiken zu ändern, verunsichert alle: Schüler, Eltern, Lehrer. Das ist kontraproduktiv. Und vor allem: Die Grund­ideen einer modernen Bildung des ­Menschen haben sich seit Wilhelm von Humboldt (1767–1835) nicht wesentlich geändert.

Inwiefern?
Es geht um Aufklärung, um ein mündiges Subjekt, es geht auch heute noch darum, Menschen zu befähigen, am Gemeinwesen teilzunehmen, sie so zu bilden, dass ihre Einstellung zur und ihr Wissen von der Welt im Wesentlichen durch Wissenschaftlichkeit und Rationalität geprägt wird, es geht um Urteilskraft und Kritikfähigkeit. Das waren die Ideen des 18. Jahrhunderts. Was davon soll heute denn nicht mehr aktuell sein?

Wissen ist heute im Internet ­verfügbar. Die Schüler müssen es bloss abrufen können. 
Im Internet finden sie keine Antwort auf die Frage, welche Persönlichkeit jemand entwickeln muss, um ein aktiver Bürger zu werden oder soziale Konflikte zu lösen. Die Basisinformationen im Internet werden erst lebendig, wenn jemand sie sich in einem Lernprozess aneignet. Das Internet ist nichts anderes als eine universell gewordene Bibliothek mit unendlich vielen Vorteilen. Aber ich bin noch nicht literarisch gebildet, wenn ich weiss, wo ich im Internet die Romane und Theaterstücke von Friedrich Dürrenmatt oder Max Frisch finde. Gebildet bin ich erst dann, wenn ich diese Texte gelesen habe und deren Lektüre in mir etwas zu bewirken vermochte.

Heute bilden die Schulen aber nicht mehr, sie bilden nur noch aus?
Ich möchte Ausbildungen überhaupt nicht abwerten. Wir alle müssen ausgebildet werden, um zum Beispiel Sprachen, Methoden, Techniken zu erlernen. Dafür braucht es Trainingsprozesse, und Lehrkräfte können in diesem Sinn als Coaches verstanden werden. In der Bildung geht es aber nicht bloss darum, etwas zu können, sondern auch darum, etwas zu verstehen – von sich und der Welt. Es geht darum, in einer bestimmten Art und Weise in der Welt zu sein. Und das ist etwas, das einem niemand beibringen kann.

Früher lernte man im Geschichts­unterricht Jahreszahlen und hatte nichts begriffen. Heute aber analysiert man Quellen. 
Natürlich gab es früher denkbar schlechten Geschichtsunterricht, der sich darin erschöpfte, Jahreszahlen und Fakten mechanisch zu reproduzieren. Was wir aber gegenwärtig erleben, ist der Verlust jedes Verstehens von historischen Zusammenhängen, der Verlust jeder Sensibilität für zeitliche Dimensionen, für Entwicklungsprozesse, für Gewordenheiten. Der Geschichtsunterricht erschöpft sich oft im Erarbeiten von «Querschnittsmaterien» – mit dem Resultat, dass für viele Schüler alles Vergangene gleich weit entfernt ist, egal ob es 50 oder 2000 Jahre zurückliegt.

Steckt hinter der Reformwelle im Bildungswesen nicht auch eine Angst vor der Globalisierung?
Das trifft sicher zu. Die Frage ist nur, warum auf dynamische Entwicklungen immer mit Hektik und Panik reagiert werden muss. Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass die ökonomischen Probleme in jenen Staaten am grössten sind, welche die Reformempfehlungen der OECD im Bildungswesen am besten erfüllt haben. In der Schweiz hingegen mit der niedrigsten Maturanden- und Akademikerquote Europas und einem kantonal organisierten dualen Bildungssystem gibt es relativ wenig Probleme. Die erfolgreichsten Gesellschaften betreiben eine eher konservative Bildungspolitik.

Und mit dem Lehrplan 21 setzt die Schweiz dies ohne Not aufs Spiel?
Der «Pisa-Schock» fand in der Schweiz ja gar nicht statt. Sie schnitt in den Vergleichstests immer recht gut ab. Entscheidend für den Erfolg einer Schule sind ja weniger die Organisation oder die Lehrpläne als die Lehrer. Wie gut sind die ausgebildet? Können sie wirklich junge Menschen für etwas begeistern?

Die Lehrer sollen laut Lehrplan 21'4500 standardisierte Kompetenzen vermitteln und zugleich nach innerer Differenzierung unterrichten. 
Diese Form von Widersprüchlichkeit ist atemberaubend. Es sind ja oft wichtige Gedanken, die hinter einer Reform stecken. Die Perversion geschieht aber bei der Umsetzung. Es ist absurd, wenn junge Menschen neun Jahre lang zur Schule gehen und am Schluss doch nicht lesen können. Es gibt angeblich bis zu 25 Prozent funktionale Analphabeten in Deutschland und Österreich.

Rechtschreibung soll an gewissen Schulen in Deutschland nur noch nach dem Gehör vermittelt werden. 
«Schreiben, wie man spricht» ist eine gängige Schreibdidaktik. Die Lehrer sind angehalten, Fehler nicht zu korrigieren, weil das die Kinder traumatisieren könnte. Wenn man Standards definieren will, dann sicher bei den Kulturtechniken. Aber man sollte nicht alle Schulen zwingen, sich dabei auf eine Methodik einzuschwören.

Welches Wissen könnte bei den Schülern durch die Einführung des Lehrplans 21 verloren gehen?
Das Problem liegt bei der Ausrichtung auf die Kompetenzorientierung. Der Lehrplan ist so kleinteilig ausformuliert, dass jede Bewegung eines Schülers und jede Reaktion eines Lehrers als Kompetenz und als Kompetenzüber­prüfungskompetenz festgelegt ist. Wer ein Kompetenzraster gesehen hat, der weiss: Das lähmt jeden Unterricht.

Der Lehrer wird gehemmt, und damit auch die Schüler.
Genau. Ein wunderbarer Text wie «Robinson Crusoe» zum Beispiel wird in einem kompetenzorientierten Lesebuch für 12- bis 13-Jährige schon nach fünf Zeilen mit den ersten Kontrollfragen nach dem Satzbau und nach Namen und Objekten unterbrochen, alles muss sofort überprüft und klassifiziert werden. Was immer das Ziel solcher Lehrmittel ist: Die Lust am Lesen wird damit bei jungen Menschen sicher nicht geweckt.

Eine Folge des «Pisa-Schocks» war ja der Glaube an die Mess- und Vergleichbarkeit von Bildung.
Pisa selber ist das beste Beispiel für einen künstlich erzeugten Wettbewerb, der von völlig falschen Annahmen ausgeht. Dabei wurden aufgrund einer sehr knappen Definition von Kompetenzen auf eine nachgerade fahrlässige Weise Aussagen über die Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen gemacht. Pisa suggeriert, dass Bildungssysteme vergleichbar seien im Hinblick auf künstlich definierte Kompetenzen, wobei Fremdsprachen, Geschichte, Politik, die musischen Fächer und Religion gar nicht vorkommen. Einseitiger und ungebildeter geht es nicht mehr.

Die Messbarkeit von Bildung wird von der Wirtschaft gewünscht. 
Mittlerweile gibt es eine Reihe von Studien, die zeigen, dass es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Prosperität und Pisa-Test-Ergebnissen gibt. Pikanterie am Rande: Die 15-Jährigen des Jahres 2000, deren schlechtes Abschneiden im Test zum ersten «Pisa-Schock» in Deutschland führte, bilden heute den Kernstock des neuen deutschen Wirtschaftswunders. Deutschland dominiert ökonomisch den Kontinent mit den angeblich inkompe­tentesten Menschen, die es gemäss Pisa je hervorgebracht hat. Irgendetwas kann da nicht stimmen.

Ist der Erfolg von Bildung denn gar nicht messbar?
Natürlich können bestimmte Dimensionen des Könnens, Wissens und Verstehens gemessen werden. Jeder Lehrer, der eine Arbeit beurteilt, macht das. Wenn es aber um Argumentations- und Urteilsfähigkeit, um ästhetische und moralische Sensibilität geht, dem eigentlichen Bereich der Individualisierung, wird Messen schwierig. Und vor allem können anhand weniger Indikatoren nicht die Leistungen von Systemen ­gemessen werden.

Dank dem Messen sind Rankings von Schulen möglich. 
Rankings, die z.B. nur auf Umfragen über Forschungsleistungen beruhen, sind nicht seriös. Es macht einen Unterschied, ob ich an einer Hochschule unterrichte, wo das Betreuungsverhältnis 1 zu 10 ist oder 1 zu 250. Wenn an einer Massen­universität viel publiziert wird, so ist das eine bessere Universität als eine Elite­universität, weil von den Dozenten vielseitigere Fähigkeiten verlangt werden und die Belastungen grösser sind.

Um bei den Unis zu bleiben: Bologna scheint für Sie ein nachgerade bildungsfeindliches System zu sein. 
Bologna hat zu einer dramatischen Verschulung und Entakademisierung geführt. Was einst eine Universität ausgemacht hat, forschungsorientiertes Lehren und Lernen, beginnt heute allenfalls auf der Stufe Master. Wer bloss seinen Bachelor macht, hat einfach eine zusätzliche Schule absolviert, was ja nicht schlecht sein muss. Aber es geht dabei nicht um eine freie und lebendige Auseinandersetzung und Einarbeitung in eine wissenschaftliche Disziplin.

Zur Verschulung gehört für Sie auch das «Power-Point-Karaoke». Immerhin lernen die Studierenden dabei, wie sie sich verkaufen können.
Studierende haben heute die Tendenz, nur noch das für wichtig zu halten, was auf einer Folie steht. Was sonst noch erklärt wird, zählt nicht. Ein Kollege von mir hat einmal in einer Vorlesung auf einer Folie Sätze festgehalten, die Negationen darstellten im Sinne von «Pädagogik ist nicht...». Die Studierenden haben nicht realisiert, dass es um Warnungen ging. Sie haben die ersten Begriffe der Folie auswendig gelernt. Die Power-Point-Kultur erstickt systematisch jedes kritische und selbstständige Denken.

Sie haben postuliert, dass die Wirtschaft ein Interesse daran habe. 
Ich habe daraufhin viele Reaktionen aus der Wirtschaft erhalten und sehe es heute anders. Ich denke, dass es um eine Art vorauseilenden falschen Gehorsam von Bildungseinrichtungen geht. Sie glauben, sie seien auf diese Weise wirtschaftsnah. Auf diese schmalspurig ausgebildeten jungen Menschen ist die Wirtschaft aber gar nicht mehr neugierig. Weil klar ist, dass diese jungen Leute nur eine Show abziehen.

Wir sollten über Bildungsinhalte reden. Warum tun wir es nicht?
In der multikulturellen Gesellschaft haben viele Angst, wichtige Bildungs­inhalte zu definieren. In Österreich wird jede Debatte über die Einführung eines Kanons in Literatur und Kunst gescheut. Es ist verboten, in den Lehrplänen Autoren und Werke zu nennen.

Verboten?
Verboten. Es darf nur noch erwähnt werden, dass Schüler die Kompetenz erwerben sollen, sich mit literarischen Texten auseinanderzusetzen.

Aber Literaturgeschichte gehört doch ans Gymnasium. 
Sie ist aber keine Kompetenz. Es ist gleichgültig, ob die Schüler Walter von der Vogelweide lesen oder einen Kommentar in einer Boulevardzeitung. Literarische Themen sind an der neuen Zentralmatura kaum möglich. Es darf auf kein Wissen mehr ­rekurriert werden.

Worum geht es stattdessen im Deutschunterricht?
Man übt Textsorten, lernt Kommentare und Leserbriefe schreiben, Power-Point-Präsentationen zusammenzustellen oder Reden zu halten. Hin und wieder werden auch literarische Texte gelesen, die aber nicht zu lange sein dürfen und ohne historischen oder literarischen Kontext problemorientiert behandelt werden müssen. Das führt schon einmal dazu, dass Texte von Franz Kafka in Hinblick auf Fragen des Tourismus «gedeutet» werden müssen.

Es gibt keine literarischen Werke mehr, über die man geprüft wird?
Nein. Das hat auch zu einem Protest der Interessengemeinschaft österreichischer Autoren geführt, auch weil der Markt für Autoren verschwindet. Sie fordert die Rückkehr der Literatur in den Deutschunterricht. Es ist ja mittlerweile nicht nur in Österreich so, sondern auch in einigen deutschen Bundesländern. Ich empfehle der Schweiz ein Moratorium in Sachen Bildungsreform.

Sie möchten die Schule als eine Art Schutzraum erhalten. Das klingt nach heiler Welt. 
Das wäre ja nichts Schlechtes. Aber Spass beiseite: Wie gesagt, ich will nicht zurück in die Vergangenheit. Aber nicht alles aus der Vergangenheit ist überholt. Im Bildungsbereich gibt es Prinzipien, die nicht überholt sind. Im Wort «Schule» steckt das griechische Wort für Musse, «scholé». Bildung braucht Musse. Ginge es nur um Arbeitsmarkttauglichkeit, könnte man Kinder ja auch einfach arbeiten lassen, da würden sie auch alles lernen, was notwendig ist. Aber Disziplinierung und Konzentration ist eben nur in einem Schonraum möglich, der Musse zulässt. Das ist heute eine ziemliche Herausforderung. Es hat ja sonst kaum mehr jemand die Musse, etwa den «Zauberberg» von Thomas Mann zu lesen. In einer guten Schule sollte dies zumindest möglich sein.


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