1. Welche Klassengrösse
bietet das beste Lernumfeld?
Die Grösse der Klasse ist gar nicht so
entscheidend, weil viele Schüler nicht besser werden, wenn die Klassen kleiner
sind. Insbesondere die lernschwächeren, aber auch die stärksten Schüler
gewinnen nichts durch eine Verkleinerung der Klassen. Im Gegensatz dazu hilft
aber die Bereitstellung zusätzlicher Hilfslehrer genau den schwächsten Schülern
am meisten. Den nachhaltigsten positiven Effekt hat der Unterricht bei
erfahrenen Lehrern, und zwar unabhängig von der Klassengrösse. Eine generelle
Reduktion der Klassengrösse ist also nicht nur eine ineffektive und teure,
sondern gleichzeitig auch eine gefährliche Massnahme – weil es gar nicht
genügend erfahrene und gute Lehrer gäbe, wenn die Klassen verkleinert würden.
– Uschi Backes-Gellner und Simone Balestra, Bildungsökonomen an der Universität Zürich
– Uschi Backes-Gellner und Simone Balestra, Bildungsökonomen an der Universität Zürich
22 Fragen zum Schulanfang, Blick, 10.8.
2. Soll man Knaben und
Mädchen zeitweise separat unterrichten?
Menschen sollten niemals aufgrund ihrer
biologischen Eigenschaften zusammengerückt werden, sondern aufgrund ihrer
Interessen und Ziele. Besser, als geschlechtsspezifische Klassen zu bilden,
wäre es, Themen und Fächer zur Auswahl zu stellen, um jedes Mädchen und jeden
Jungen, ausgehend von seinen persönlichen Vorlieben, entscheiden zu lassen. Das
ist noch lange keine Gleichmacherei. Die geschlechtlichen Unterschiede kann man
doch bestens auf dem Pausenhof leben, wo man lustvoll miteinander flirtet, ganz
egal ob hetero, schwul oder lesbisch.
– Güzin Kar, Autorin, Kolumnistin und Filmerin
– Güzin Kar, Autorin, Kolumnistin und Filmerin
3. Braucht jedes Schulkind
einen Computer oder ein Tablet?
Keine schlechte Idee. Aus der Sicht der Forschung
ist es zum Beispiel sinnvoll, einen Computer samt Software zum Schreiben zu
nutzen. Der Wechsel zum digitalen Schreibwerkzeug führt zu vielen
Verbesserungen – gerade bei schwach schreibenden Kindern. Ihre Texte sind inhaltlich
besser, länger, besser strukturiert und orthografisch korrekter. Ausserdem
erhöht der Computereinsatz die Schreibmotivation. Aber Achtung: Der Computer
ersetzt nicht das Schreiben mit Hand und Stift, sondern er baut darauf auf.
Flüssig und leserlich mit der Hand zu schreiben, ist bei jungen Kindern wichtig
für die Textqualität und die Motorik. Und das ist es auch später: Forschende
haben herausgefunden, dass bei Studierenden die Examensnoten bei Prüfungen mit
Zeitlimit davon abhängen, wie zügig und lesbar sie das Alphabet schreiben
können.
– Maik Philipp, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Lesen der Fachhochschule Nordwestschweiz
– Maik Philipp, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Lesen der Fachhochschule Nordwestschweiz
4. Was würden Sie als
Erstes ändern, wenn Sie das Schweizer Schulsystem reformieren müssten?
Als ehemaliger Lehrer bin ich klar gegen Reformitis
in der Bildung. Aus meiner Sicht braucht es vorerst einmal eine Phase der Ruhe
in den Schulen. Mit dem Lehrplan 21 in der deutschsprachigen Schweiz und dem
Plan d’études romande in der Westschweiz sind die wichtigsten Schritte zu einer
Harmonisierung in den Schulen getan. Nun geht es darum, diese Lehrpläne richtig
umzusetzen. Das braucht Zeit und auch Geld. Jetzt bereits wieder von einer
Schulreform zu sprechen, wäre total falsch. Deshalb beantworte ich Ihre Frage
klar mit: Nichts.
– Matthias Aebischer, SP-Nationalrat und Präsident der nationalrätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur
– Matthias Aebischer, SP-Nationalrat und Präsident der nationalrätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur
5. Eltern geben viel Geld
für den Nachhilfeunterricht ihrer Kinder aus. In welchen Fällen ist dies
nutzlos?
Nachhilfe für den Nachwuchs gehört in etwa jeder
dritten Familie zum Alltag. Jährlich geben Eltern zwischen 100 und 300
Millionen Franken dafür aus. Meist geht es nicht darum, Schwächen in einem Fach
auszumerzen, sondern um den Wunsch nach guten Noten. Denn der Sprössling soll
den Sprung ins Gymi schaffen oder nicht hinausfliegen. Diese Art von Lerndoping
ist höchst problematisch, weil Kinder oft unter psychischem Druck versuchen,
solche Ziele der Eltern zu befriedigen, und sich nicht getrauen zu rebellieren.
Die Rebellion kommt oft später, etwa in Form psychischer Probleme oder eines
Studienabbruchs.
– Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin
– Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin
6. Jammern Lehrpersonen zu
viel?
Zuerst: Jammern ist gut für die Psychohygiene.
Haben Sie sich schon mal im Tram oder Bus umgehört? Da wird gejammert, was das
Zeug hält! Jammern ist eine Form des Austausches, der Anteilnahme verlangt. So
ist es nur logisch, dass auch Lehrpersonen jammern – die einen mehr, die andern
weniger. Da jeder mal selbst zur Schule gegangen ist, meinen viele, Experte in
der Sache zu sein und beurteilen zu können, wie viel Jammern den Lehrpersonen
zusteht. Aber Lehrer haben einen anforderungsreichen Job, der in den letzten
Jahren sicher nicht einfacher geworden ist. Wenn sie also ab und zu mal jammern
– na und? Doch: Irgendeinmal muss es aufhören – sonst verpufft der Inhalt des
Jammerns.
– Barbara Leu, Psychotherapeutin und Coach bei ask! – Beratungsdienste für Ausbildung und Beruf Aargau
– Barbara Leu, Psychotherapeutin und Coach bei ask! – Beratungsdienste für Ausbildung und Beruf Aargau
7. Viele Kantone
unterrichten schwache Schüler im Sinne der integrativen Schule in einer
Regelklasse und nicht in einer Sonderschule. Gilt der Grundsatz «Integration um
jeden Preis» immer?
Nein, nicht Integration um jeden Preis, aber wenn
immer möglich. Ausschlaggebend ist die Gesamtsicht auf das Kind – die Klasse,
die Schule und sein familiäres Umfeld. Praktische Gründe können gegen einen
integrativen Rahmen sprechen. Wenn ein Kind verschiedene Therapien braucht,
finde ich es kräfteschonender, wenn diese an einem Ort stattfinden. Kommt eine
ganze Schulklasse zu kurz, weil ein einzelnes Kind sehr viel Aufmerksamkeit
braucht, würde ich zum Besuch einer Sonderschule raten. Der gemeinsame
Unterricht sollte die Regel, die Sonderschulung die – begründete – Ausnahme
sein.
– Beatrice Kronenberg, Direktorin des Schweizer Zentrums für Heil- und Sonderpädagogik
– Beatrice Kronenberg, Direktorin des Schweizer Zentrums für Heil- und Sonderpädagogik
8.Wieso braucht es
Religionsunterricht in der Schule?
Es ist unerlässlich, dass man unseren Schulkindern
ein Wertesystem vermittelt. Die christliche Religion vertritt das Konzept der
bedingungslosen und transzendenten Nächstenliebe. Das ist Nahrung für den Geist
und die Seele. Eine solche Grundlage verhindert, dass unsere Kinder das Opfer
von Sekten, Drogen und Depression werden oder in den Dschihad ziehen. Es geht
dabei weder um engstirnige Dogmatik noch um oberflächliches Berieseln, sondern
darum, unseren Kindern die Grundwerte unseres Rechtssystems und unserer
Zivilisation zu vermitteln.
– Oskar Freysinger, SVP-Nationalrat, Walliser Staatsrat und ehemaliger Gymnasiallehrer
– Oskar Freysinger, SVP-Nationalrat, Walliser Staatsrat und ehemaliger Gymnasiallehrer
9. Je nach Kanton gibt es
in den ersten Schuljahren keine Noten, sondern einen Lernbericht.
Anthroposophisch geprägte Schulen verzichten während der Primarschulzeit ganz
auf Noten. Welcher Weg ist sinnvoll?
In der Schule geht es um Leistung, und Noten sind
ein Weg, diese zu messen und vergleichbar zu machen. Es ist immer
problematisch, wenn man aufgrund einer Machtposition kategorische Urteile über
Mitmenschen fällt, Ungerechtigkeiten sind nicht zu verhindern. Anderseits
fühlen sich viele Kinder wegen der Notengebung ernst genommen und haben das
Gefühl, wirklich in der Schule zu sein. Noten täuschen Objektivität vor. Das
ist der Vorteil gegenüber sprachlichen Regelungen, bei denen Kinder das Gefühl
haben, der Willkür der Lehrperson ausgesetzt zu sein. Wenn eine Schule Noten
erteilt, dann ist es ehrlicher, wenn sie es von der ersten Klasse an tut.
– Allan Guggenbühl, Kinder- und Jugendpsychologe
– Allan Guggenbühl, Kinder- und Jugendpsychologe
10. Warum lernen die Kinder
nicht in allen Kantonen das Gleiche?
Was in der Schule gelernt wird, steht in den
kantonalen Lehrplänen. Diese sind bis anhin unterschiedlich. Doch das wird sich
ändern: Mit dem Lehrplan 21, der in allen deutschsprachigen Kantonen eingeführt
werden soll und von diesen gemeinsam entwickelt worden ist, werden die Ziele
der Volksschule in der Deutschschweiz harmonisiert. Neu lernen alle Kinder in
allen Kantonen das Gleiche. Unterschiedlich bleiben nur regionale
Besonderheiten. So wird zum Beispiel in den an die Westschweiz angrenzenden
Kantonen als erste Fremdsprache Französisch und in den übrigen Kantonen
Englisch unterrichtet. Ein gemeinsamer Lehrplan erleichtert den Wohnortswechsel
von Familien mit schulpflichtigen Kindern.
– Stefan Kölliker, Vorsteher des Bildungsdepartements des Kantons St. Gallen und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
– Stefan Kölliker, Vorsteher des Bildungsdepartements des Kantons St. Gallen und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
11. Die Schule beginnt oft
zwischen 7.30 und 8 Uhr. Das entspricht nicht der biologischen Uhr von Kindern
und Jugendlichen. Was ist zu tun?
Wir haben in Dänemark in den letzten zehn Jahren
viele Experimente gemacht mit der Startzeit des Unterrichts. Manche Gymnasien
haben ihr Schulprogramm dem Biorhythmus der Jugendlichen angepasst und starten
am Morgen eine Stunde später, also um neun Uhr. Das hat sich als sehr sinnvoll
erwiesen, die Produktivität der Jugendlichen hat sich erhöht. Mit
Kindergärtlern und Primarschülern gab es noch keine Experimente, weil da die
Situation komplizierter ist: Sie sind am Morgen noch abhängiger vom Zeitplan
der Eltern, die vielleicht früh arbeiten gehen wollen und die Kinder zum
Beispiel in die Schule fahren.
– Jesper Juul, dänischer Familientherapeut und Bestsellerautor
– Jesper Juul, dänischer Familientherapeut und Bestsellerautor
12. Wozu braucht es noch
Schulzimmer, wenn der Unterricht via Skype stattfinden könnte?
Die Schule muss Kindern ausser Wissen mündliche
Ausdrucksfähigkeit, soziale Umgangsformen und Schweizer Tugenden wie
Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit beibringen. Dafür muss man sich in die Augen
schauen können; ein Blickaustausch ist für das Lernen wichtiger als hundert
Klicks auf dem PC. Soziales Lernen findet in der Klasse statt. Wenn alle Kinder
nur von zu Hause aus via Skpye lernen, verliert unsere Gesellschaft den inneren
Zusammenhalt. Die Volksschule ist das Herz der Schweiz. Wenn es nicht mehr
schlägt, sind wir als Menschen und als Nation gestorben.
– Beat W. Zemp, Präsident des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH)
– Beat W. Zemp, Präsident des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH)
13. Französisch wird nicht
in allen Kantonen als erste Fremdsprache gelehrt. Mancherorts wird gar eine
Abschaffung dieser Landessprache in der Primarschule diskutiert. Welche
Gefahren birgt das?
Für den Zusammenhalt der Nation ist es wichtig,
dass in der Deutschschweiz das Französisch einen grossen Stellenwert hat.
Natürlich gilt dies auch für den umgekehrten Fall mit Deutsch in der Romandie.
In der viersprachigen Schweiz muss man die Sprache der Nachbarn können, c’est
indispensable! In der Schule dürfen die Kinder nämlich durchaus gefordert
werden. Deshalb ist der jetzige Kompromiss mit zwei Fremdsprachen auf
Primarstufe richtig und wichtig.
– Christoph Eymann, Präsident der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
– Christoph Eymann, Präsident der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
14. Wie und wann lernen
Kinder mit Migrationshintergrund am ehesten Deutsch?
Je früher und je häufiger ein Kind mit
Migrationshintergrund mit Deutsch in Kontakt kommt, zum Beispiel in der Krippe,
desto besser gelingt es ihm, Deutsch als Zweitsprache zu lernen. Eine von mir
und meinem Team durchgeführte Studie zeigt, dass Kinder mit geringen
Deutschkenntnissen bereits profitieren, wenn sie schon vor dem Kindergarten
zwei Halbtage pro Woche eine solche Einrichtung besuchen. Je später Kinder und
Jugendliche Deutsch lernen, desto anspruchsvoller und aufwändiger gestaltet
sich der Spracherwerb. Jedoch gilt weiterhin: Je intensiver jemand die Sprache
spricht und je bedeutungsvoller die Orte des Lernens sind, also mit Freunden,
in der Schule oder im Beruf, desto schneller, umfassender und kompetenter
erwirbt er die Fremdsprache.
– Alexander Grob, Professor für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Basel
– Alexander Grob, Professor für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Basel
15. Dürfen sich Eltern bei
den Lehrern über schlechte Noten beschweren?
Ich kenne kein Gesetz, das dies verbieten würde.
Die Frage ist, was Eltern damit erreichen wollen. Noten zeigen die Leistungen
des Kindes auf einer durch die Lehrperson erstellten Skala. Es gibt viele
Ursachen für schlechte Leistungen. Sie können auch in der Familie oder im
Umfeld liegen. Als Erstes ist das Gespräch mit dem Kind wichtig. Hat es eine
Erklärung für die schlechten Noten? Falls ja, wie kann es seine Leistung
verbessern? Der Dialog mit allen Beteiligten ist wirkungsvoller als eine
Beschwerde.
– Maya Mulle, Geschäftsführerin Elternbildung CH
– Maya Mulle, Geschäftsführerin Elternbildung CH
16. Liegt die Zukunft der
Schule in der Vergangenheit, also im Frontalunterricht?
Die Forschung legt nahe, dass autoritäre
Lernumgebungen und traditionellere Lehrmethoden wie der Frontalunterricht die
kognitive Leistung von Kindern steigern – insbesondere diejenige von Mädchen
und Knaben aus sozial benachteiligten Familien. Progressive Methoden haben in
diesen Zusammenhängen nicht funktioniert. Das heisst allerdings nicht, dass
alle neuen Methoden zwingend schlecht sind. Wir brauchen Innovation in der
Bildung. Aber die neuen Lösungen muss man sehr sorgfältig prüfen, bevor man sie
im grossen Stil anwendet. Das wurde längst nicht immer gemacht. Wichtig ist,
die Balance zwischen den unterschiedlichen Unterrichtsformen zu finden. Denn
Forscher sehen in den neuen, interaktiven Lehrmethoden zum Beispiel einen
Gewinn bei der Ausbildung der Sozialkompetenz oder der Argumentationsfähigkeit.
– Gabriel Heller-Sahlgren, schwedischer Bildungsexperte, der eine Studie über die sinkenden Schulerfolge von Pisa-Star Finnland verfasste
– Gabriel Heller-Sahlgren, schwedischer Bildungsexperte, der eine Studie über die sinkenden Schulerfolge von Pisa-Star Finnland verfasste
17. Die Volksschule fördert
insbesondere starke und schwache Kinder. Was passiert mit dem Mittelfeld?
Randgruppen benötigen mehr Aufmerksamkeit, aber das
bedeutet nicht unbedingt mehr Förderung. Weil das Mittelfeld oft selbständiger
ist und weniger Probleme zeigt, liegt der Fokus der Lehrpersonen meist nicht
auf ihnen. Eltern sind rasch alarmiert, wenn ihr Kind nicht die Leistungen
zeigt, die sie von ihm erwarten. Sie denken, ihr Kind werde nicht da abgeholt,
wo es steht, und erwarten die Lösung von der Schule. Doch kann eine Schule,
deren tägliche Bewertungen auf einer abwertenden Fehlerkultur beruhen, den
unterschiedlichen Begabungen aller Kinder gerecht werden? Wenn einzig das Ziel
dominiert, die nächste Klasse zu erreichen, verlieren sie die Freude am Lernen
und bekommen Angst. Doch für mehr Gerechtigkeit braucht die Schule nicht mehr
Druck, sondern eine Kultur des Gelingens. Das heisst, es wird gefeiert, was ein
Kind schon kann, und man misst es an seinem individuellen Fortschritt und nicht
an der Norm.
– Nadine Zimet, Leiterin des Zentrums für Begabungsförderung, Zürich
– Nadine Zimet, Leiterin des Zentrums für Begabungsförderung, Zürich
18. Frauen dominieren den
Lehrberuf. Ist es schlecht für mein Kind, wenn es nur von Frauen unterrichtet
wird?
Tatsächlich ist es heute möglich, eine komplette
Schullaufbahn zu absolvieren, ohne jemals von einem Mann unterrichtet worden zu
sein. Klar, dass so etwas – wie andere gesellschaftliche Phänomene auch – bei
Kindern Geschlechterstereotype befördert, zum Beispiel: Sich um andere zu
kümmern, ist weiblich. Oder: Freizeit und Action sind Männer-sache. Gerade im
Kindergarten- und frühen Primarschulalter findet bei Kindern die
Rollenidentifikation statt. Da der schulische Männermangel aber nicht einfach
zu ändern ist, wird Ihr Kind darauf angewiesen sein, ausserhalb der Schule eine
Reihe von positiven männlichen Bezugspersonen zu haben: Vater, Grossvater,
Trainer, Musiklehrer, Nachbarn, Freunde.
– Frank Köhnlein, Kinder- und Jugendpsychiater sowie Schriftsteller
– Frank Köhnlein, Kinder- und Jugendpsychiater sowie Schriftsteller
19. Ist es die Aufgabe der
Schule, Versäumnisse der Eltern zu kompensieren – etwa bei der Sexualaufklärung
oder im Kochunterricht?
Die Gesellschaft ist heute der Ansicht, dass
Sexualität und Haushalt Themen sind, die auch in der Schule ihren Platz haben und
die Lehrpersonen stufengerecht mit den Kindern behandeln sollen. Ich kenne dazu
keine Klagen von Kindern oder Jugendlichen, im Gegenteil. Ich denke, der Wurm
steckt woanders drin: Heute sollen Lehrpersonen schwierige Kinder fördern.
Allzu oft finden sie heraus, dass nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern
Versäumnisse haben. Es ist jedoch nicht Aufgabe der Schule, Familienprobleme zu
lösen. Lehrpersonen müssen sich auf das Lernen des Kindes in der Schule und auf
das Lernen des Kindes zu Hause konzentrieren. Sie sollen Eltern anleiten, wie
sie das Lernen des Kindes zu Hause und in der Schule am besten unterstützen
können. Mehr nicht.
– Martin Straumann, Leiter der Professur für Schultheorie an der Pädagogischen Hochschule FHNW
– Martin Straumann, Leiter der Professur für Schultheorie an der Pädagogischen Hochschule FHNW
20. «Medien und Informatik»
ist im Lehrplan 21 als Modul, nicht als Fach vorgesehen. Reicht das angesichts
der Tatsache, dass soziale Medien im Leben junger Menschen immer bestimmender
sind?
Die Verbindlichkeit ist ein Fortschritt, doch
Papier ist geduldig – ein Lehrplan alleine macht noch niemanden kompetent.
Jetzt sind die Kantone in der Umsetzung gefragt: Es braucht Lehrmittel und
genügend Zeit, sowohl für die Weiterbildung der Lehrpersonen als auch im
Stundenplan. Digitale Geräte sind immer früher ein fester Bestandteil im Alltag
von Kindern und Jugendlichen. Mit pauschalen Handy-Verboten schützt die Schule
nicht vor den damit verbundenenGefahren. Gefragt sind stattdessen Konzepte, um
die Medienkompetenz zu fördern und die persönlichen Geräte, welche die
Schülerinnen und Schüler sowieso in den Unterricht mitnehmen, sinnvoll zu
nutzen.
– Beat Döbeli, Professor am Institut für Medien und Schule an der Pädagogischen Hochschule Schwyz
– Beat Döbeli, Professor am Institut für Medien und Schule an der Pädagogischen Hochschule Schwyz
21. Wieso braucht es
Tagesschulen?
Viele Frauen müssen arbeiten, auch wenn sie ein
kleines Kind haben. Die Scheidungsrate ist hierzulande hoch, eine Frau darf
sich nicht darauf verlassen, auf Dauer vom Einkommen ihres Mannes leben zu
können. Je besser ausgebildet sie ist, umso weniger kann sie es sich leisten,
während der Kinderjahre daheimzubleiben. Sonst findet sie später keine
entsprechende Stelle mehr. So gesehen finde ich es wichtig, dass eine Frau
während der Kinderjahre zumindest mit einem Bein im Beruf bleibt. Tagesschulen
sind da eine gute Sache, ich begrüsse ihren Ausbau. Zumindest Blockzeiten
sollte jede Schule einrichten.
– Marianne Botta Diener, Lebensmittelingenieurin ETH und Mutter von acht Kindern
– Marianne Botta Diener, Lebensmittelingenieurin ETH und Mutter von acht Kindern
22. Wie sieht die Schule
der Zukunft aus?
Ich mache mir keine Illusionen: Die Schule ändert
sich nur langsam. Also: Wie die Schule in zehn Jahren aussehen sollte? Sie soll
eine klare Tagesstruktur mit Mittagessen und täglichen betreuten Lernstunden
haben. Neue Medien gehören nahtlos integriert – Tablets können viele
Schulbücher ersetzen und durch Verlinkungen individuell je nach Neigung und Fähigkeiten
weitere Zusammenhänge erschliessen. Für die Hausaufgaben sollte es das
virtuelle Lernzimmer geben, in dem die Lehrerin online erreichbar ist. Dies
schafft mehr Chancengleichheit, denn jedes Kind hat so die gleiche
Hilfestellung bei den Hausaufgaben. Trotzdem darf «digital» nicht dominieren:
Beim Lernen geht es um das Begreifen – im Wortsinn! Daher stehen Musik, Sport
und Projekten, welche Kopf, Herz und Hand fordern, mehr Platz zu. Der
wichtigste Reformbedarf: Fremdsprachen und Mathematik müssen Spass machen! Wenn
heute eine Mehrheit der Schüler in diesen Fächern Forfait gibt, ist das ein
Problem der Schule und nicht das Problem der Schüler.
– Georges T. Roos, Zukunftsforscher
– Georges T. Roos, Zukunftsforscher
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