6. Juli 2015

Trojaner im Bildungssystem

Jochen Krautz hat eine zusammenfassende Kritik zur Kompetenzorientierung an unseren Schulen zuhanden der demokratischen Öffentlichkeit verfasst. Die Schrift ist auch für den schweizerischen Kontext höchst relevant und deshalb uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen. Am Schluss des Textes weist ein Literaturverzeichnis auf weitere Veröffentlichungen zum Thema hin.
Kompetenzen machen unmündig, Streitschriften zur Bildung, Heft 1, Hrsg. Fachgruppe Grundschulen GEW Berlin, Juni 2015 


Der Beitrag fasst die wesentlichen Argumente zur Kritik der „Kompetenzorientierung“ von Unterricht zusammen. Das Kompetenzkonzept wurde durch die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) mittels ihrer PISA-Studien als neues Leitziel von Schule durchgesetzt. Dies geschah ohne demokratische Legitimation und am Souverän, den Bürgern, vorbei. Dabei kann das Kompetenzkonzept als wissenschaftlich ungeklärt gelten, es senkt empirisch nachweisbar das Bildungsniveau, widerspricht den Leitzielen eines demokratischen Bildungswesens, zersetzt didaktisches und pädagogisches Denken und Handeln und behindert Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung zu mündigen Staatsbürgern. Dennoch wird das Konzept weiterhin bildungspolitisch durchgesetzt. Lehrpläne werden dementsprechend umgeschrieben, Schulbücher danach umgestaltet, Lehrer daraufhin ausgebildet. Millionen von Steuergeldern fließen zudem in entsprechende Forschung. Daher muss die in der Wissenschaft und von vielen Lehrern geleistete Kritik am Kompetenzkonzept der Öffentlichkeit bekannt werden. Denn das anscheinend rein innerpädagogische Problem ist tatsächlich ein gesellschaftspolitisches, das alle angeht: Eltern, Vertreter von Kultur und Wirtschaft sowie alle anderen Bürger müssen diskutieren, ob sie die Entwicklung einer ungebildeten und unmündigen Jugend hinnehmen wollen. Denn deren Bildungsanspruch wird missachtet, Demokratie, Kultur und Wirtschaft werden gefährdet. Die nachfolgenden Thesen sind in möglichst allgemeinverständlich formuliert. Ihnen liegen umfangreiche wissenschaftliche Analysen zugrunde, die auch über publizistische Texte gut zugänglich sind auf der Webseite der „Gesellschaft für Bildung und Wissen“ (www.bildungwissen.eu). Fremdzitate werden hier nicht einzeln nachgewiesen, sondern sind den Literaturhinweisen am Schluss zu entnehmen.

Kompetenz ist ein Containerbegriff. Der Begriff „Kompetenz“ ist im Alltagsverständnis positiv besetzt: Wer kompetent ist, kann etwas. Er verfügt über entsprechende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Jeder wünscht sich einen kompetenten Arzt oder Heizungsinstallateur. Das hat auch das Marketing verstanden, weshalb der Kühlschrankhersteller neuerdings mit „Kühlkompetenz“ wirbt, der Herrenausstatter „Hosenkompetenz“ besitzt und einer AntiAging-Creme „Kernkompetenz“ zugeschrieben wird – Beispiele aus dem realen Leben. Insofern ist zunächst schwer nachvollziehbar, warum es problematisch sein soll, dass Schüler „Kompetenzen“ erwerben. Tatsächlich rechnete die Einführung des Kompetenzkonzepts in den Schulen genau mit dieser Unschärfe: Jeder verbindet etwas aus seiner Sicht Positives damit, sei es fachliches Können, seien es soziale Fähigkeiten, sei es kritisches Denken. So wurde der Begriff für unterschiedliche weltanschauliche Orientierungen und pädagogische Überzeugungen anschlussfähig, seien diese eher humanistisch, kritischemanzipatorisch oder reformpädagogisch begründet. Der Kompetenzbegriff kann wie ein „Container“ mit Interpretationen aller Art gefüllt werden. So wirkt er wie eine Beschwörungsformel, die Zustimmung erzeugen soll, obwohl niemand genau weiß, was „Kompetenz“ eigentlich genau meint. Das Kompetenzkonzept ist wissenschaftlich ungeklärt. Es dient dazu, Bildung messbar zu machen.

In dieser Verwirrung beziehen sich Lehrpläne und wissenschaftliche Arbeiten in der Regel auf die am meisten verbreitete Kompetenzdefinition des Kognitionspsychologen Franz Weinert. Der definierte Kompetenz als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die  damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ Demnach sind Kompetenzen also zweckgerichtete (funktionale) Fähigkeiten des Denkens (Kognition), um Probleme zu lösen, sowie die dazu notwendige Motivation, der Wille und die sozialen Einstellungen. Was auf den ersten Blick plausibel klingt, erweist sich auf den zweiten als hochproblematisch: Schulisches Lernen bezieht sich nur zu einem Teil auf „kognitive Fähigkeiten“. Es besteht keineswegs nur aus „Problemlösen“ und zielt nicht allein auf „Anwendung“. Eine Vielzahl schulischer Lernvorgänge in Fächern wie Deutsch, Musik, Kunst, Sport, Geschichte u.a. lässt sich damit nicht erfassen. Und es sind gerade diese Anteile des Unterrichts, die nach Sinn und Bedeutung der Sache für den Lernenden fragen, die wir als „bildend“ bezeichnen. Weinert wusste, dass diese verkürzte Definition wissenschaftlich nicht konsensfähig ist. Dies hat er auch ausdrücklich in einem Gutachten für die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) von 1999 eingeräumt. (Vgl. Krautz 2013b) Doch die OECD suchte einen Maßstab für ihre geplanten PISA-Tests. Obwohl also das Kompetenzkonzept wissenschaftlich ungeklärt war und bis heute ist, wurde es von der OECD herangezogen, um die gewünschte Maßeinheit für ihre PISA-Tests zu liefern. Eine psychologische Messeinheit also, die ohne Fachinhalte und kulturelle Überlieferung auskommt, um global einheitliche, verwertbare Fertigkeiten zu messen, von denen die OECD behauptet, sie würden der globalisierten Wirtschaft dienen. (Vgl. Ladenthin 2015) Seitdem werden unsere Lehrpläne gemäß diesem Kompetenzkonzept umgeschrieben; seitdem werden Lehrer entsprechend ausgebildet und Schulbücher neu verfasst; seitdem unterrichten Schulen auf Grundlage dieses wissenschaftlich ungeklärten, letztlich ideologischen Konstrukts.

Bemerkenswert ist, dass die OECD Weinerts Gutachten von 1999 zunächst nicht veröffentlichte: „Bitte nicht zitieren!“ steht auf dem Deckblatt. Sie wird wissen warum: Es wäre von Beginn an offensichtlich gewesen, dass es sich hier um eine Chimäre handelt – ein fabelhaftes Mischwesen aus  Psychologie und Testtechnik, aber nicht um ein pädagogisch taugliches Konzept, das auf Bildung – also auf Sachverstand, Urteilsfähigkeit und Mündigkeit in sozialer Verantwortung – zielt. Kompetenzkataloge kann man nicht unterrichten. In der Folge erfinden nun Lehrpläne endlose Kataloge von Kompetenzen, Sub- und Teilkompetenzen, weil jetzt alle in der Schule angesprochenen Fähigkeiten einzeln aufgesplittet und aufgelistet werden müssen. Dies nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz, wie ein Auszug aus dem dortigen „Lehrplan 21“ zu den Grundlagen im Fach Deutsch zeigt. Dort werden unter „Sprechen“ folgende „Grundfertigkeiten“ benannt: „Die Schüler und Schülerinnen können ihre Sprechmotorik, Artikulation, Stimmführung angemessen nutzen. Sie können ihren produktiven Wortschatz und Satzmuster aktivieren, um angemessen flüssig zu sprechen.“ Dazu werden dann zahllose Teilkompetenzen aufgelistet: „Die Schülerinnen und Schüler ... - können die meisten Laute des Deutschen sprechmotorisch isoliert und im Wort bilden (…) - können das Zusammenspiel von Verbalem, Paraverbalem und Nonverbalem gestalten. (…) - können ihr Sprechtempo und ihre Stimmführung gezielt variieren.“ Usw. Auf diese Weise folgen für jedes Fach hunderte von Kompetenzformulierungen. Zunächst: Ironischerweise beschreibt nichts davon eine Kompetenz im Weinertschen Sinne, bei der es ja um innere Fähigkeitsdispositionen geht. Hier sind ausschließlich Performanzen beschrieben, also sichtbares und damit prüfbares Handeln. Aber genau darum geht es: Man hat nun einen diagnostischen Katalog, mit dem man Kinder testen kann. Dann: Die Formulierungen zergliedern einen natürlichen Zusammenhang (Sprechen) in Einzeltätigkeiten, die so isoliert nicht unterrichtbar sind. Man kann nicht „sprachmotorische Lautbildung“ unterrichten. Man kann Deutsch unterrichten und im Zusammenhang mit dem Kulturgut Sprache und Literatur bilden sich auch die hier angesprochenen Fähigkeiten. Darauf achten Lehrer im Zusammenhang des Unterrichts.  Und: Der Sinn all dieser Fähigkeiten geht verloren, denn er liegt nicht in „Sprachmotorik“ an sich, sondern z.B. darin, ein Gedicht sinnangemessen betont vorzutragen, dies als ästhetische Form zu erfahren und als eigenen Weltzugang deutend zu verstehen. Und dieser Sinn ist auch durch die Addition all jener Teilkompetenzen nicht mehr herstellbar: Sie bleiben rein funktional und damit sinn-los. (Vgl. Ladenthin 2015) So wimmeln schulische Lehrpläne heute von „Kompetenzen“, die letztlich willkürlich gesetzt sind, weil ihnen ein Aufbau fehlt, der sich an der Logik der Sache, also dem Fach und der entsprechenden Fachwissenschaft orientiert. Derart kann aber bei den Schülern keine geordnete und geklärte Vorstellung von den Sachgebieten entstehen. Fachliches Wissen und Können wird gerade verhindert. Kompetenzorientierung vernachlässigt die Inhalte und senkt das Bildungsniveau. Gemäß dem Kompetenz-Dogma sollen nicht mehr Inhalte, sondern „Fähigkeiten“ unterrichtet werden: Die Schüler sollen nicht nur „totes Wissen“ anhäufen, sondern etwas können, heißt es. Auch das klingt selbstverständlich, schließlich war das schon lange Ziel von Schule. Was also ist nun neu? Tatsächlich verkehrt sich das Unterrichtsprinzip vollständig: Traditionell plant man Unterricht gemäß dem logischen Aufbau der Fachinhalte. Diese werden auf den Entwicklungsstand der Schüler bezogen, so dass sie altersgemäß zugänglich werden. So erwerben die Schüler fachliche und überfachliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Jetzt soll Unterricht die Kompetenzen der Schüler „ansteuern“. Unterricht wird nicht mehr auf der Grundlage von Inhalten, sondern von erwünschten Fähigkeiten bzw. Verhalten geplant.

Das hat gravierende Folgen: Die Inhalte werden zweitrangig. Sie haben keinen Wert an sich, sondern dienen nur als Mittel zur Zielerreichung. Denn mit welchem Inhalt man eine Fähigkeit erreicht, ist grundsätzlich gleichgültig: Für das Trainieren von „Lesekompetenz“ ist es unwesentlich, ob dazu ein Goethe-Gedicht oder die Bedienungsanleitung für ein Smartphone dient. Funktional für „Lesekompetenz“ ist beides. Bildender Unterricht ist aber davon ausgegangen, dass man Lesen lernt, um bildende Gehalte der Literatur erschließen zu können. Kompetenzvertreter behaupten nun, das sei so nicht gemeint, keineswegs sollten die Inhalte vernachlässigt werden. Faktisch lässt sich aber gerade dies bei neuen Lehrmaterialien und der Ausbildung junger Lehrer beobachten: Man plant das Training von Fertigkeiten und geht von den dazu passenden Methoden, nicht vom Inhalt aus. Die Frage nach dessen Sinn und Bedeutung ist letztlich nebensächlich und beliebig. Kompetent ist nun, wer mit Wissen „umzugehen“, Informationen „abzurufen“ und zu „organisieren“ versteht. Doch ist das „Googeln“ von Informationen über eine Sache eben nicht mit deren Verstehen und der Frage nach ihrer Bedeutung für mich und für uns gleichzusetzen. Google bildet nicht Verständnis und Urteilskraft. (Vgl. Liessmann 2014) So ersetzt „Informationsmanagement“ und „Methodenkompetenz“ fachliches Wissen und Können, womit das Bildungsniveau nachweislich sinkt: Der Biologiedidaktiker Hans Peter Klein hat in mehreren Versuchen gezeigt, dass z.B. kompetenzorientierte Aufgaben des Zentralabiturs im Fach Biologie in NRW problemlos von unvorbereiteten Schülern der Klasse 9 zu bewältigen sind. Das Geheimnis: Alle Lösungen sind im Aufgabentext enthalten, man benötigt nur „Lesekompetenz“, um sie zu finden und abzuschreiben. Fachwissen braucht es dazu nicht.

Kompetenzen vernachlässigen die Moralität und steuern das Wollen. Mit den Inhalten vernachlässigt die Kompetenzorientierung zudem die Bildung von kritischem Urteilsvermögen und Moralität: Ohne Inhalte kommen keine Prozesse der Urteils- und Wertebildung in Gang. Mehr noch: Da Kompetenzen nur funktional sind, sind sie ethisch neutral. Sie enthalten keine Wertorientierung mehr. Kompetenzen sind für alles einsetzbar: Mit Rechenkompetenz kann man Sprengstoffanteile einer Bombe berechnen; Sozialkompetenz ist auch nützlich zum Führen einer Verbrecherbande. Ob das als gut oder schlecht einzuschätzen ist, dazu gibt kompetenzorientierter Unterricht keinen Maßstab. Erziehender Unterricht geht dagegen davon aus, dass mit den Sachfragen auch diese Wertfragen geklärt werden: Eine Fabel liest man im Deutschunterricht der  Klasse 5 nicht nur der „Lesekompetenz“ wegen, sondern weil daran altersgemäß moralische Grundfragen besprochen werden können. Grammatik, Rechtschreibung oder Techniken der Nacherzählung übt man auch; aber eben ausgehend vom Inhalt. So ergibt sich eine weitere, etwas versteckte, aber gravierende Folge: Da die Schüler nicht mehr durch den Inhalt zum Lernen angeregt werden können, müssen sie nun verstärkt von außen „motiviert“ werden, etwas zu tun. Während eine auf Bildung zielende Didaktik immer versucht, das Interesse der Schüler an der Sache zu wecken, werden sie nun mit Tricks der Motivationspsychologie angehalten, ihre Aufgaben zu erledigen, die an sich nur wenig Reiz haben. Dabei soll aber der Eindruck entstehen, dass sie dies selbstmotiviert tun. Sie sollen nun wollen, was sie wollen sollen, ohne dass noch einsichtig wäre, warum und wozu. Der Schüler soll „motiviert sein, das zu tun, was andere wollen“, wie Volker Ladenthin treffend zusammenfasst: „So betrachtet (…) ist die Kompetenztheorie die bisher ausgeprägteste Form einer Theorie der Fremdsteuerung.“ (Ladenthin 2011, 3) Am Beispiel: Der Entwurf für den Bildungsplan der Sekundarstufe I im Fach Deutsch in Baden-Württemberg nennt als zur „kommunikativen Kompetenz“ gehörende „Einstellung“, die Schüler seien „bereit, ihre Argumentations- und Gesprächskompetenz zu verbessern.“ Hier ist also eine volitionale (Willens-)Einstellung genannt, wie sie Weinert vorsieht. Doch wie erreicht man diesen Willen? Indem man den Schülern sagt: „Sei bereit, deine Argumentationskompetenz zu verbessern“? Das wäre schlicht autoritär, weil nicht einsehbar. Wenn man aber im Unterricht eine Argumentationssituation schafft, die für die Schüler so relevant ist, dass sie gerne ihre Argumente ausarbeiten, diese austauschen und sich darin korrigieren, dann erwächst der eigene Wille aus der gemeinsamen Sache. Er muss nicht gesteuert werden.

Kompetenzorientierung ist Grundlage des sog. „selbstgesteuerten Lernens“. Kompetenzorientierung ist nicht logisch gekoppelt an Konzepte der „Selbststeuerung“ des Lernens, wird aber meist praktisch damit  verbunden: Der Klassenunterricht wird aufgelöst; Schüler sollen in „Lernlandschaften“ an Einzelarbeitsplätzen Arbeitsblätter ausfüllen und ihren eigenen „Kompetenzfortschritt“ in Kompetenzraster eintragen. Lehrer unterrichten nicht mehr, sondern dienen als „Lernbegleiter“ und „Coaches“. (Vgl. Burchardt 2013) Oft sollen nun auch Computer den Lehrer ersetzen. Dem liegt ein technisches Menschenbild zugrunde, das den Menschen als eine Art Maschine versteht, die sich selbst steuert: Aufgabe auf dem Arbeitsblatt als „Input“ – die Maschine (also der Schüler) arbeitet – die Lösung („Output“) kontrolliert er selbst und soll so sein Arbeiten „nachregulieren“. Kompetenzen liefern das Instrument, um das „selbstgesteuerte“ Fertigkeitstraining messbar zu machen. „Kompetent“ ist, wer sich durch die von außen gesetzten Vorgaben steuern lässt und seine „Lernjobs“ erledigt. Doch ist solche „Selbststeuerung“ nicht jene geistige Selbständigkeit, auf die Bildung zielt. Dazu bedürften die Schüler eines Lehrers und einer Klassengemeinschaft, mit denen sie gemeinsam denken und diskutieren lernen könnten. Ohne zwischenmenschliche Beziehung ist die Entwicklung von Vernunft und Moral nicht möglich. (Vgl. Krautz/Schieren 2013) Kompetenzen zielen auf Anpassung. Es wird deutlich: Kompetenzorientierung zielt nicht auf Selbständigkeit, sondern auf unhinterfragte Anpassung an Vorgaben. So versteht auch die für die PISA-Tests verantwortliche OECD unter „Schlüsselkompetenzen“ die Fähigkeit, "sich an eine durch Wandel, Komplexität und wechselseitige Abhängigkeit gekennzeichnete Welt anzupassen.“ Sie fragt: „Welche anpassungsfähigen Eigenschaften werden benötigt, um mit dem technologischen Wandel Schritt zu halten?“ (Vgl. Krautz 2009) „Kompetenz“ wird hier aus einem verengten, nur scheinbar ökonomischen Blick auf den Menschen verstanden: Er soll sich geschmeidig und auch etwas „kreativ“ einpassen in ein System permanenter Umstrukturierung. Es soll funktionieren, aber nicht über das Ganze nachdenken oder es gar hinterfragen. Was sich auf der praktischen Ebene des Unterrichts zeigte, sind also nicht „ungewollte Nebenwirkungen“ eines „gut gemeinten“ Konzepts, sondern ist dezidierte Absicht: Nicht Mündigkeit, sondern Anpassung und Steuerbarkeit ist das Ziel der Kompetenzorientierung. Damit unterläuft sie den Anspruch der Aufklärung: Der Mensch solle Ausgang nehmen aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, heißt es bei Immanuel Kant. Ziel der Schule ist demnach, dass der junge Mensch lernen kann und soll, selbständig und kritisch zu denken und zu urteilen sowie human und verantwortlich zum Wohle des Gemeinwesens zu handeln. Dies spricht die OECD dem Menschen ab. Er soll sich nicht seiner Vernunft bedienen, sondern sich anpassen. Die Durchsetzung des Kompetenzkonzepts zeigt Merkmale von Propaganda. Das Kompetenzkonzept ist insofern antiaufklärerisch und inhuman. Es widerspricht allen Traditionen von Bildung, sowohl der christlichen wie humanistischen und aufklärerischen. Und dennoch wurde es von der OECD in den letzten 15 Jahren über die PISA-Studien in den Schulen des deutschsprachigen Raums um- und durchgesetzt. Dies war nur mit Mitteln der Propaganda möglich. Denn es mussten tief verwurzelte kulturelle Überzeugungen großer Teile der Bevölkerung verändert werden. Kernelement von Propaganda ist, nicht offen für etwas Werbung zu machen – dann würde jeder die Absichten des Akteurs erkennen. Propaganda inszeniert vielmehr Scheinwirklichkeiten, auf die die Medien und dann die Bevölkerung und die Politik erst reagieren, so etwa Walter Lippmann, einer der Begründer des Propaganda-Konzepts schon 1921: „Man fügt eine Scheinwelt zwischen den Menschen und seine Umwelt ein. Sein Verhalten ist eine Reaktion auf diese Scheinwelt. Aber weil es Verhalten ist, operieren die Konsequenzen […] nicht in der Scheinwelt […], sondern in der tatsächlichen Umwelt […].“ Die Scheinwirklichkeit der OECD ist der PISA-Test. Er gibt vor, „Bildung“ zu messen und „objektive Daten“ über den Leistungsstand der Schüler zu liefern. Tatsächlich misst er eben Kompetenzen, die den Lehrplänen nicht entsprechen und führt ein Menschenbild mit sich, das dem des Grundgesetzes und der Länderverfassungen widerspricht.

Gleichwohl wurden die Ergebnisse medial skandalisiert und ein „PISA-Schock“ ausgerufen. Nun fragte niemand mehr, was dort eigentlich gemessen wird, sondern alle reagierten zustimmend oder ablehnend nur noch auf die PISA-Ergebnisse. In der Schockstarre griffen Politiker dann nur zu gerne auf die seitens der OECD angebotenen Kompetenzkonzepte zurück, um bei den nächsten Tests in jedem Fall besser abzuschneiden. Und ganze Heerscharen von Wissenschaftlern begannen mit Feuereifer, dem neuen Paradigma hinterherzulaufen – nicht zuletzt, weil es dafür nun Unmengen an Forschungsgeldern gab. Die OECD setzte ihr Konzept so per „Schock-Strategie“ und „diskursiver Streuung“ durch: Man steuerte das Verhalten souveräner Staaten und ihrer Bürger über indirekte, propagandistische Beeinflussung. Die PISA-Tester selbst behaupteten dabei, sie würden ja „nur messen“. Doch liegt die normative Macht dieser Messung in der verdeckten Durchsetzung eines alle kulturellen Überzeugungen negierenden Bildungsverständnisses an den Bürgern vorbei. Diese Strategie beschreibt die OECD selbst ganz offen: In Peer-Reviews wie PISA sieht sie den „effizienteste(n) Weg, Einfluss auf das Verhalten souveräner Staaten auszuüben“, obwohl ihr dieser Einfluss nicht zusteht. Dieses manipulative Vorgehen der OECD ist seitens der Politikwissenschaft auch empirisch in seiner durchschlagenden Wirkung nachgewiesen. (Vgl. hierzu ausführlich Krautz 2013a, b und Graupe/Krautz 2014)

Die OECD verfolgt eine Strategie kultureller Entwurzelung. PISA und die Kompetenzorientierung folgen dem Paradigma neoliberaler Wirtschaftstheorie, das von Vertretern des Think-Tanks „Chicago School of Economics“ Anfang der 1960er Jahre bei der OECD eingeführt wurde. Bildung sei demnach „wirtschaftliche Investition“ in den Menschen; Schulen stünden neben „Stahlwerken“ und „Kunstdüngerfabriken“, die einen Ertrag produzieren sollen, nämlich angepasst funktionierende Menschen, sogenanntes „Humankapital“. Lehrer seien somit „Produktionsfaktor“, Schüler das „Rohmaterial“: „Das bedeutet nicht  weniger, als dass Millionen Menschen von einer Lebensweise losgerissen werden sollen, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden das Lebensmilieu ausmachte. Alles, was bisher an Schule und in der Erziehung in diesen Ländern geleistet wurde, verfolgte soziale und religiöse Ziele, die vorwiegend (…) Resignation und spirituelle Tröstung gewährten; Dinge, die jedem wirtschaftlichen Fortschrittsdenken glatt zuwiderlaufen. Diese jahrhundertealten Einstellungen zu verändern, ist vielleicht die schwerste, aber auch die vordringlichste Aufgabe der Erziehung“, so die OECD 1961 wörtlich. Erst dann würden Menschen bereit, sich dem „Fortschritt“ zu öffnen, den die OECD definiert. Schon 1961 wurde daher als Ziel die „Befähigung zu immer neuer Anpassung“ beschrieben. (Vgl. Graupe/Krautz 2014) Diese Ziele hat die OECD bis heute nicht revidiert. Auch PISA basiert auf denselben theoretischen Grundannahmen („Humankapital-Theorie“). Insofern kann deren Arbeit als eine Form indirekter Steuerung von Politik und individuellem Verhalten durch kulturelle Entwurzelung und das verdeckte Etablieren neuer Leitbilder eingeschätzt werden: Wer die eigenen Traditionen nicht mehr kennt, wer nicht über Urteilskraft und demokratisches Bewusstsein verfügt, ist leichter verfügbar für die globalen ökonomischen und politischen Steuerungsprozesse und deren Ideologie Gesellschaftliche Folgen: Untergraben von Demokratie, Kultur und Wirtschaft. Entsprechend gravierend sind die Folgen des ökonomistischen Kompetenzkonzepts: Es untergräbt die Grundlagen der Demokratie, weil diese von mündigen Bürgern lebt, die im Dialog die Sachfragen verhandeln und klären können und sich dabei am gemeinsamen Wohl orientieren. Es untergräbt die europäische kulturelle Tradition, die in der Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte gründet und die Selbstbestimmung des Einzelnen mit Gerechtigkeit und sozialer Verantwortung verbindet. Der Wiener Erziehungswissenschaftler Marian Heitger warnte daher, vor dem „Tod der Bildung“, wenn diese „nichts mehr mit Selbstbestimmung zu tun [hat], nichts mit Urteilskraft, schon gar nichts mehr mit der Fähigkeit, verantwortlich zu werten und zu handeln. Sie wird zum Gegenteil dessen, was ihre Dignität ausmacht. Sie instrumentalisiert den Menschen, statt ihn in seiner Selbständigkeit zu fördern, ihm zu helfen, eine unabhängige Persönlichkeit zu werden.“ Zugleich untergräbt die ökonomisierte „Bildung“ die Wirtschaft selbst, für die die OECD angeblich spricht. Tatsächlich entsprechen dem Bild der OECD allenfalls globalisierte Konzerne angloamerikanischer Prägung, die anpassungsbereite Mitarbeiter mit standardisierten Fertigkeiten bevorzugen, die sie weltweit beliebig hin- und herschieben können. Global standardisierte Kompetenzen braucht nur, wer weltweit nach einheitlichen Standards produzieren will. (Vgl. Ladenthin 2015) Mittelstand und Handwerk bemerken dagegen längst, dass die „kompetenzorientierten“ Schulabsolventen immer weniger können und wissen. Sie beklagen sich zurecht über den mangelnden Bildungstand der Jugendlichen und versuchen das im Betrieb zu kompensieren. Leider setzen die Wirtschaftsverbände aber oft noch auf die wirtschaftsnah klingenden, aber falschen Konzepte der OECD, weil in deren Bildungsabteilungen meist Bildungsökonomen sitzen, die an die „Humankaptaltheorie“ glauben. Tatsächlich zersetzen aber die eigenen Konzepte damit die Grundlagen der Volkswirtschaft. Folge in Schule und Elternhaus: Verwirrung und Verlust von Pädagogik und Didaktik. In der schulischen Praxis und im Leben der beteiligten Schüler und Eltern zeigt sich das beschriebene Problem v.a. als zunehmende Verwirrung und Destabilisierung: Die in Didaktiken und Lehrplänen kursierenden Kompetenzkataloge sind weder verständlich noch kann man danach unterrichten. Wenn ein Schüler mit einer „kompetenzorientierte Diagnose von Leistungsdefiziten“ nach Hause kommt, derzufolge er trainieren soll, mit Zahlen zu „operieren“ oder im Rahmen von „Modellen“ zu „mathematisieren“, kann damit niemand etwas anfangen. Warum soll es veraltet sein, ihm schlicht aufzutragen, das Addieren und Subtrahieren von Brüchen oder Textaufgaben zu üben? Während erfahrene Kollegen oftmals weiter wie bisher unterrichten, lernen dies junge Lehrer kaum mehr. Statt fachlicher Zielklarheit und didaktischer Struktur ist eine zunehmende Orientierung an Methoden zu beobachten: „Heute machen wir mal Gruppenarbeit und morgen Stationenlernen, denn da trainieren wir Lese- und Sozialkompetenz“. So geht der innere Zusammenhang der Unterrichtsgegenstände verloren. Auch Schulbücher unterlaufen zunehmend jede Systematik. Statt eines schrittweisen logischen Aufbaus wird ein wechselndes Potpourri von Themen ausgebreitet, damit die Schüler beständig vor Probleme gestellt werden, die sie „selbstgesteuert“ lösen sollen. Man verwirrt die Schüler und verhindert geradezu gezielt den Aufbau eines strukturierten Verständnisses. Die Folgen spüren Eltern täglich: Ihre überforderten, frustrierten oder auch gelangweilten Kinder kommen aus der Schule und wissen nicht, was sie gelernt haben oder wie sie die Hausaufgaben lösen sollen. Also arbeiten die Eltern mit ihnen am Nachmittag nach, verstehen aber die Schulbücher oft selbst kaum noch. So wirkt die Kompetenzorientierung in der schulischen Praxis v.a. als Nivellierung fachlicher Ansprüche und Zersetzung didaktischen Denkens. Die Folgen sind gleichwohl die ausgeführten, auch wenn dies eigentlich kein Lehrer beabsichtigt. Timeo Danaos: Kompetenz als Trojaner. Beginnt man einen Aufsatz mit einem lateinischen Zitat, meint mancher, dies solle „Bildung“ zur Schau zu stellen. Das ist jedoch ein bildungsbürgerliches Missverständnis. Das Motiv aus der lateinischen Literatur dient hier zur Erhellung eines Vorganges der Gegenwart: „Was immer das auch ist - ich fürchte die Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen!“ rief der trojanische Priester Laokoon seinen Mitbürgern zu, um sie vor dem hölzernen Pferd zu warnen, das die Griechen vor Troja zurückgelassen hatten. Es war mit Kriegern gefüllt, die die Stadt zerstörten, nachdem die Trojaner - die Warnung missachtend - das „Geschenk“ doch in ihre Mauern gezogen hatten. Ähnlich funktionieren heute Computerviren, die man daher „Trojaner“ nennt: Sie schleichen sich unerkannt ins Betriebssystem ein und zerstören es von innen heraus. „Kompetenz“ ist ein solcher Trojaner: ein von politischen „Hackern“ eingeschleustes Schadprogramm, dass unbemerkt das Denken über Bildung infiziert und das pädagogische Handeln verändert. Mit dem Anschein und der Behauptung, Kompetenzorientierung sei dasselbe wie Bildung, nur „moderner“ und besser zu messen, sickert sie ins Bildungswesen ein und zersetzt pädagogisches Denken und Handeln im Innern. Zugleich wird an diesem „timeo Danaos“ noch einmal der Unterschied von Bildung und Kompetenz deutlich: Eine „kompetenzorientierte“ Abiturprüfung in Latein besteht in Österreich heute z.B. ernsthaft darin, in lateinischen Texten die Entsprechungen zu deutschen Fremdworten wiederzuerkennen und Deutungen per Ankreuztest abzufragen. Sicher ist es ein praktischer Effekt, wenn man sie nun ersparen kann, Fremdworte zu „googlen“. Doch werden die ganzen Jahre des Unterrichts in der Reduktion auf Funktionalität und „Problemlösung“ zugleich im wahrsten Sinne sinn-los: Denn Bildung zielt darauf, den Sinn der alten Texte verstehen zu lernen und ihren Gehalt aktualisieren zu können: Das trojanische Pferd zeigt sich dann als ein strategisches Muster verdeckter Kriegsführung, mit dem man auch heute politische Vorgänge verstehen kann – von sogenannten „False-Flag-Operations“ bis hin zu einer kulturell-ökonomischen Kriegsführung, wie sie im Hintergrund des hier diskutierten Problems aufscheint. Nur darin hat auch lateinische Literatur heute ihre Berechtigung im Schulunterricht: Wenn die Auseinandersetzung damit jenes selbstständige und kritische Denken entwickelt, auf das Bildung zielt.  

Literatur zur Vertiefung: Burchardt, Matthias: Bildung oder Selbstregulation? In: lehrer NRW 7/2013, S. 13-16 (http://www.lehrernrw.de/fileadmin/user_upload/lehrernrw.de/de/docu ments/pdf/Zeitschrift_lehrer_nrw/Ausgaben_2013/2013-07-lehrer-nrw- 72dpi.pdf)

Graupe, Silja/Krautz, Jochen: Die Macht der Messung. Wie die OECD mit PISA ein neues Bildungskonzept durchsetzt. In: Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte. Beiheft 4: Der andere Blick: Fragendes Denken zum theoretischen Rahmen der empirischen Bildungsforschung. Hrsg. v. Schwaetzer, Harald/Hueck, Johanna/Vollet, Matthias. Kueser Akademie, Bernkastel Kues 2014, S. 139-146 (http://bildungwissen.eu/wpcontent/uploads/2014/05/graupe_krautz_macht_der_messung_Coincide ntia.pdf)

Krautz, Jochen: Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie. Kreuzlingen/München 2007

Krautz, Jochen: Bildung als Anpassung? Das Kompetenz-Konzept im Kontext einer ökonomisierten Bildung. In: Fromm Forum 13/2009, S. 87- 100 (http://fachbereich-bildungswissenschaft.de/wpcontent/uploads/krautz-bildung-als-anpassung.pdf)

Krautz, Jochen: Bildungsreform und Propaganda. Strategien der Durchsetzung eines ökonomistischen Menschenbildes in Bildung und Bildungswesen. In: Frost, Ursula/Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): Demokratie setzt aus: Gegen die sanfte Liquidation einer politischen Lebensform. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik - Sonderheft 2013(a), S. 86-128 (http://phvn.de/images/krautz.pdf)

Krautz, Jochen: Ökonomismus in der Bildung: Menschenbilder, Reformstrategien, Akteure. In: Gymnasium in Niedersachsen 1/2013(b), S. 12-21 (http://bildungwissen.eu/wp-content/uploads/2013/01/Gymnasium-in-NDS-1-2013.pdf)

Krautz, Jochen/Schieren, Jost (Hrsg.): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik. Beiträge zur Pädagogik der Person. Weinheim, Basel 2013  

Ladenthin, Volker: Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit. In: Profil, Mitgliederzeitung des Deutschen Philologenverbandes, 9/2011, S. 1-6 (http://bildung-wissen.eu/wpcontent/uploads/2012/03/ladenthin-kompetenz.pdf)

Ladenthin, Volker: Vorschlag für einen pädagogischen Kompetenzbegriff. Allgemeine Überlegungen anlässlich des „Bildungsplans zur Erprobung für die Bildungsgänge der Höheren Berufsfachschule, die zu beruflichen Kenntnissen und zur Fachhochschulreife führen (Entwurf 2013)“. In: Obermann, Andreas/Meyer-Blank, Michael (Hrsg.): Die Religion des Berufsschulreligionsunterrichts: Überlegungen zur Kommunikation religiöser Themen mit Jugendlichen heute. Münster 2015, S. 99-127


Liessmann, Konrad Paul: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien 2014 In gekürzter Fassung zuerst erschienen in: Wernicke, Jens/Bultmann, Torsten (Hrsg.): Die wissenschaftliche Konstruktion sozialer Ungleichheit. BdWi-Studienheft 10. Marburg 2015

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