6. Juli 2015

Harte Landung in Absurdistan

Es liegen Beispiele vor, die ein Versagen der Kompetenzorientierung und der damit zusammenhängenden Neuausrichtung der Schulen, vor allem in Deutschland, aber auch in Österreich und Frankreich teils drastisch belegen. Das sind keine unmassgebliche Einzelfälle: Die Leistungsnivellierung nach unten wird, entgegen den offiziellen Beteuerungen, zur offensichtlichen Tatsache.
Nicht nur Theorie und Praxis klaffen immer weiter auseinander. Auffallend ist überdies die Zwanghaftigkeit politisch begründeter Bildungs- und Schulreformen, unter sichtbarer Dauerpräsenz von «Diktaten» und Angstmacherei, bei gleichzeitiger  Beschwichtigung. Der Verlust an Demokratie und auch der Verzicht auf bildungspolitische Eigenständigkeit werden als schwerwiegende Kollateralschäden schweigend in Kauf genommen.
Für die Ausrichtung unseres Bildungssystems sorgen längst – von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt – die Bürokraten in Brüssel und Paris (OECD). Das ist Tatsache, keine Verschwörungstheorie. Wie schlimm muss es um das Selbstverständnis unseres Staates bestellt sein, wenn die Bildungspolitik ein überaus erfolgreiches Bildungssystem ohne Not aus der Hand gibt und sich widerspruchslos fremden Bildungsdiktaten, selbst im Volksschulbereich, unterstellt? Der aktuelle Import aus der OECD-Küche, das Kompetenzkonzept des Lehrplans 21, soll unsere Kinder und ihre Lehrer «auf Kurs bringen».
Hans-Peter Klein an einer Anhörung zum Bildungsplan, 9. Mai 2014, Dauer: 22 Minuten

Harte Landung in Absurdistan, Blog Südostschweiz, 1.7. von Fritz Tschudi



Worst Case: USA
Die USA kommen trotz unübersehbarer Bildungsdefizite der Bevölkerung seit vielen Jahrzehnten sehr gut zurecht, weil einfach zu steuernde Massen mit den altbekannten «Brot und Spielen» zufriedenzustellen sind. Das funktioniert aber nur, wenn die Masse damit auch befriedigt werden kann. Wirtschaftlich muss das nicht nachteilig sein: Die USA sind trotz der gering gebildeten Durchschnittsbevölkerung der wissenschaftlich und wirtschaftlich dynamischste Staat des Planeten, weil sie sich auf eine extreme Elitenförderung beschränken und die Masse mit Unbildung neutralisieren. Quasi alles auf die (rund) fünf Prozent Begabtesten zu konzentrieren und den Rest mit Fastfood, Videospielen, Fernsehserien, Hollywoodfilmen zu betäuben, erwies und erweist sich als funktionierende, vielleicht nahezu optimale Lösung. Dies scheint auch der Weg zu sein, den die Eliten für Europa anstreben. Wir sind faktisch wohl schon dabei, weil die Leistungserwartungen an unseren Schulen durchgehend massiv gesenkt werden.
Deutschland: Kompetenzorientierung als Weichenstellung in den Bildungscrash?
Ein Statement (Video, 21 min.) von Prof. Dr. Hans-Peter Klein; Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main bietet Erhellendes zu den Folgen der Kompetenzorientierung in Deutschland:
·         Schülern der 9.Klasse (CH: Stufe 3. Sek/Real) wurde eine Abituraufgabe im Leistungsfach Biologie gestellt.
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·         Als Ergebnis erhielten die «Abschlussklässler» Noten von 1 bis 4 (1 ist die beste, 6 die schlechteste), obwohl die Schülerinnen und Schüler diesem Thema in ihrem Unterricht nie begegnet waren.
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·         Wie ist das möglich? – Nun: Die Schüler mussten nur Lesen können. Fachkenntnisse sind nicht nötig. Alle Antworten sind im Material der Aufgabe vorhanden. Die Schüler respektive Abiturienten mussten nur eine Art Ostereiersuche betreiben.
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·         Als Gipfel an Fürsorglichkeit wurde den Abiturienten das Abschreiben des Arbeitsmaterials offiziell angeraten.
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Fazit: Die Einführung der Kompetenzorientierung in Deutschland vor zehn Jahren hat nichts gebracht. Die Universitäten klagen über Durchfallquoten von 70 bis 90 Prozent und richten teure Brückenkurse ein, um die Abiturienten studierfähig zu machen (Prof. Klein).
Schweiz: Warum Monster-Kombifächer im Lehrplan 21?
Ahnen Sie, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, warum im Lehrplan 21 die naturwissenschaftlichen Fächer Physik, Chemie und Biologie im Untergrund einer Monster-Kombifachgruppe «Natur, Mensch, Gesellschaft» verschwinden mussten?
Weder in der Berufsausbildung, noch an Fachhochschulen und Hochschulen finden sich künstliche Konglomerate dieser Art. Ich kenne mit bestem Willen kein Fach, keinen Bildungsbereich, der nicht mit «Natur, Mensch und Gesellschaft» überschrieben werden könnte.
Was ist das anderes als aufgeblähte Theoretikerkost im Kostüm einer naiv daherkommenden, aber knallharten Kriegserklärung an den Anspruch der Lernenden auf Fachlichkeit im Unterricht. «Natur, Mensch, Gesellschaft» – ein Sammelgefäss der Vielfalt (beziehungsweise der Beliebigkeit), ein Tummelplatz für Ideologen?
Mit Verlaub, wie sieht die hochgejubelte Handlungskompetenz in der Realität aus, wenn Fachwissen (und -Können) substanziell abgebaut, ideologisch hinterlegte Thematiken stattdessen in den Vordergrund gerückt werden? Ist es abwegig anzunehmen, den Lehrplanverantwortlichen stünden andere Ziele näher als jene einer abnehmertauglichen fachlichen Grundausbildung unter dem Leitprinzip der gesellschaftlichen Mündigkeit, der Freiheit des Geistes und der demokratischen Gesinnung? Heisst das wahre «Bildungsziel» doch eher: «Widerspruchlose gesellschaftliche und berufliche Steuerbarkeit der künftigen Generationen? »
Unter diesen Umständen muss die Industrie wohl noch lange auf MINT(*)-freudige SchulabgängerInnen hoffen.

Unser duales Bildungssystem –handfester Hoffnungsträger!
Diese Bildungsperle, um die uns die halbe Welt beneidet, gründet auf einer eigenständigen und bewährten Berufsbildungspolitik auf Basis der praxisbezogenen menschlichen Vernunft. Hier findet sich auf festem Fundament der Orientierungsrahmen für die Ausgestaltung und Entwicklung unserer Volksschulen. Der Dialog mit den Abnehmern ist die logische Basis für eine sinnvolle sachdienliche Schulentwicklung, einschliesslich sinnvoller Lehrpläne.
Ich bin mir sicher: Ein geistiger Schuldenschnitt mit der Neuausrichtung auf die Berufswelt, würde die jetzige, völlig unnötig geschaffene Verwirrung und das Chaos an unseren Volksschulen beseitigen. Verzichten wir schnellstens auf die Endlosschleifen in verordneter Selbstreflexion, fixiert auf die Zwangsverbreitung künstlich hochgejubelter, aber fraglicher Unterrichtskonzepte. Der Schuldenschnitt beinhaltet auch die Rückkehr zu klar strukturierten, systemtisch aufgebauten, und auch für Eltern einsichtigen Lehrmitteln. Konzentrieren wir uns auf die Sache (Lerninhalte), nicht auf Ideologien.
Die Orientierung der Volksschulen an den Ansprüchen der Berufswelt schafft ein verlässliches Gespür für Relevanz, bietet Bodenhaftung und sorgt für eine bessere Glaubwürdigkeit der Reformen. Ein bildungskundiger Besucher des grössten vorarlbergischen Kraftwerkbetriebs schreibt:
«Die Illwerke/VKW haben auch hochwertige Bildung zu bieten. Männliche und weibliche Elektrotechnik-Lehrlinge haben … den Besuchern freundlich und mit Sachkenntnis ihre Arbeitsplätze gezeigt und erklärt. Diese Fachleute, die auch komplexe Automatikanlagen programmieren können, sind die wahre Elite von morgen. Sie wirken motiviert und selbstbewusst, weil sie wissen, dass sie die Akkus unseres materiellen Wohlstandes sein werden.»
Auch Eberhard von Kuenheim, langjähriger Chef von BMW, stellte sich und der Wirtschaft die Titelfrage dieses Beitrags und meinte:
«Es wird Zeit, dass sich gerade die Wirtschaft überlegt, was sie ernsthaft will: geistige Eunuchen oder demokratiefähige Bürger, die etwas wissen und können.»
Genau diese Fragen hätten zuvor geklärt werden müssen, als es um das Konzept des neuen Lehrplans 21 ging: Wollen wir den mündigen Menschen, den selbständig denkenden, den fragenden, den eigenständigen, den argumentierenden, den demokratiefähigen, oder wollen wir den widerspruchlos schwammigen, den klaglos funktionierenden und stets ängstlich angepassten geistigen «Eunuchen»?


(*)(MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)

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