6. Juli 2015

Nachteilsausgleich: Ein Begriff ist noch nicht in der Öffentlichkeit angekommen.

Eine oder zwei Fremdsprachen in der Schule? Ein Lehrplan für alle Deutschschweizer Kantone oder 21 verschiedene Vorgaben? Mehr Integration oder mehr Separation in der Klasse? Die Diskussionen über diese und andere Fragen haben eines gemeinsam: Gestritten wird selten aus der Perspektive dessen, was im Schulzimmer am Ende richtig oder falsch ist. Zu oft dominieren politische und ideologische Argumente oder diffuse Werthaltungen die Debatten. Es gibt aber Themen, die direkt zu den ganz konkreten Problemstellungen führen, denen Lehrkräfte im Schulalltag aller Stufen ausgesetzt sind und die nicht mit dem Zweihänder zu lösen sind. Dazu gehört der Umgang mit Behinderungen und anderen individuellen Defiziten von Schülern und Studenten. Mit den integrativen und inklusiven Schulungsformen sind Antworten noch dringender geworden. Ein Begriff dazu ist in Bildungskreisen in letzter Zeit in aller Munde, aber noch kaum in der Öffentlichkeit angekommen: der Nachteilsausgleich.
Der Einzelfall und die Gerechtigkeit, NZZ, 27.6. Kommentar von Walter Bernet



Die Idee des Nachteilsausgleichs ist es, die spezifischen Funktionsstörungen Behinderter, welche die normalen Lern- und Leistungsziele an sich erreichen können, mit gezielten Massnahmen zu kompensieren und sie so - etwa durch Zeitzuschläge bei Prüfungen - gegenüber Nichtbehinderten gerecht zu behandeln. Dies verlangt das Diskriminierungs- und Benachteiligungsverbot, wie es national und international im (Behinderten-)Recht festgeschrieben ist. Anpassungen der Lernziele oder der Prüfungsanforderung sind nicht nötig, ein Zeugniseintrag deshalb auch nicht. Einen Rechtsanspruch darauf haben allerdings nur Behinderte im juristischen Sinn; Voraussetzung ist also eine Diagnose durch Fachpersonen.
Das wirft viele Fragen auf. Kaum ein Kind mit einer Aufmerksamkeitsstörung wird sich als behindert betrachten, und noch weniger werden es seine Eltern tun. Wer den Nachteilsausgleich will, muss aber das Stigma der Behinderung in Kauf nehmen. Was, wenn Eltern das ihrem ins Gymnasium übertretenden Kind nicht zumuten wollen? Was, wenn das Kind deshalb die Probezeit nicht besteht? Ist es nur Aufgabe der Eltern, einen Nachteilsausgleich zu beantragen, oder müssten sich Lehrer und schulische Heilpädagogen mitverantwortlich fühlen? Warum können Kinder mit Legasthenie einen Nachteilsausgleich beanspruchen, nicht aber Kinder aus fremdsprachigen Familien, die mit Sprachschwierigkeiten kämpfen?
Ungleich, aber gerecht
Es kann nicht sein, dass am Ende 10 von 18 Kindern einer Klasse Nachteilsausgleich erhalten. Zu gross ist die Gefahr, dass sich die Kompensation einer Benachteiligung in eine Bevorzugung verwandelt. Eine enge Definition, ein genaues Prozedere und eine periodisch erneuerte schriftliche Vereinbarung sind deshalb der richtige Weg. Es geht um Gerechtigkeit gegenüber dauerhaft Behinderten. Für andere Fälle gibt es andere Wege. Anderseits gehören «Nachteilsausgleiche» im kleineren Rahmen durchaus zum pädagogischen Rüstzeug jeder guten Lehrkraft. Jeder wirkliche Pädagoge gewährt da einmal eine zusätzliche Hilfestellung und gibt dort etwas mehr Zeit, keiner wird eine im Lesen unsichere Schülerin blossstellen, indem er sie einen komplizierten Text vorlesen lässt.
Wo sind die Grenzen zu ziehen? Und wie steht es bei dieser ungeregelten Form des «Nachteilsausgleichs» mit der Gerechtigkeit? Chancengerechtigkeit ist nicht nur ein bildungspolitisches Schlagwort, sondern ein Anspruch, der im schulischen Alltag sehr schwer zu beantwortende Fragen aufwirft. Die Antworten müssen im Einzelfall gefunden werden. Das ist es, was das Handwerk des Lehrens so anspruchsvoll macht: Schüler zugleich ungleich und gerecht zu behandeln - und zwar so, dass es für alle Beteiligten nachvollziehbar ist.


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