Eine oder zwei Fremdsprachen in der Schule? Ein
Lehrplan für alle Deutschschweizer Kantone oder 21 verschiedene Vorgaben? Mehr
Integration oder mehr Separation in der Klasse? Die Diskussionen über diese und
andere Fragen haben eines gemeinsam: Gestritten wird selten aus der Perspektive
dessen, was im Schulzimmer am Ende richtig oder falsch ist. Zu oft dominieren
politische und ideologische Argumente oder diffuse Werthaltungen die Debatten.
Es gibt aber Themen, die direkt zu den ganz konkreten Problemstellungen führen,
denen Lehrkräfte im Schulalltag aller Stufen ausgesetzt sind und die nicht mit
dem Zweihänder zu lösen sind. Dazu gehört der Umgang mit Behinderungen und
anderen individuellen Defiziten von Schülern und Studenten. Mit den
integrativen und inklusiven Schulungsformen sind Antworten noch dringender
geworden. Ein Begriff dazu ist in Bildungskreisen in letzter Zeit in aller
Munde, aber noch kaum in der Öffentlichkeit angekommen: der Nachteilsausgleich.
Der Einzelfall und die Gerechtigkeit, NZZ, 27.6. Kommentar von Walter Bernet
Die Idee des Nachteilsausgleichs ist es, die
spezifischen Funktionsstörungen Behinderter, welche die normalen Lern- und
Leistungsziele an sich erreichen können, mit gezielten Massnahmen zu
kompensieren und sie so - etwa durch Zeitzuschläge bei Prüfungen - gegenüber
Nichtbehinderten gerecht zu behandeln. Dies verlangt das Diskriminierungs- und
Benachteiligungsverbot, wie es national und international im
(Behinderten-)Recht festgeschrieben ist. Anpassungen der Lernziele oder der
Prüfungsanforderung sind nicht nötig, ein Zeugniseintrag deshalb auch nicht.
Einen Rechtsanspruch darauf haben allerdings nur Behinderte im juristischen
Sinn; Voraussetzung ist also eine Diagnose durch Fachpersonen.
Das wirft viele Fragen auf. Kaum ein Kind mit einer
Aufmerksamkeitsstörung wird sich als behindert betrachten, und noch weniger
werden es seine Eltern tun. Wer den Nachteilsausgleich will, muss aber das
Stigma der Behinderung in Kauf nehmen. Was, wenn Eltern das ihrem ins Gymnasium
übertretenden Kind nicht zumuten wollen? Was, wenn das Kind deshalb die
Probezeit nicht besteht? Ist es nur Aufgabe der Eltern, einen Nachteilsausgleich
zu beantragen, oder müssten sich Lehrer und schulische Heilpädagogen
mitverantwortlich fühlen? Warum können Kinder mit Legasthenie einen
Nachteilsausgleich beanspruchen, nicht aber Kinder aus fremdsprachigen
Familien, die mit Sprachschwierigkeiten kämpfen?
Ungleich, aber gerecht
Es kann nicht sein, dass am Ende 10 von 18 Kindern
einer Klasse Nachteilsausgleich erhalten. Zu gross ist die Gefahr, dass sich
die Kompensation einer Benachteiligung in eine Bevorzugung verwandelt. Eine
enge Definition, ein genaues Prozedere und eine periodisch erneuerte
schriftliche Vereinbarung sind deshalb der richtige Weg. Es geht um
Gerechtigkeit gegenüber dauerhaft Behinderten. Für andere Fälle gibt es andere
Wege. Anderseits gehören «Nachteilsausgleiche» im kleineren Rahmen durchaus zum
pädagogischen Rüstzeug jeder guten Lehrkraft. Jeder wirkliche Pädagoge gewährt
da einmal eine zusätzliche Hilfestellung und gibt dort etwas mehr Zeit, keiner
wird eine im Lesen unsichere Schülerin blossstellen, indem er sie einen komplizierten
Text vorlesen lässt.
Wo sind die Grenzen zu ziehen? Und wie steht es bei
dieser ungeregelten Form des «Nachteilsausgleichs» mit der Gerechtigkeit?
Chancengerechtigkeit ist nicht nur ein bildungspolitisches Schlagwort, sondern
ein Anspruch, der im schulischen Alltag sehr schwer zu beantwortende Fragen
aufwirft. Die Antworten müssen im Einzelfall gefunden werden. Das ist es, was
das Handwerk des Lehrens so anspruchsvoll macht: Schüler zugleich ungleich und
gerecht zu behandeln - und zwar so, dass es für alle Beteiligten
nachvollziehbar ist.
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