6. Juli 2015

Nachteilsausgleich für Behinderte ist noch keine gefestigte Praxis

Trotz einer Legasthenie die Gymiprüfung bestehen? Das muss möglich sein. Betroffene haben einen Rechtsanspruch auf den Ausgleich ihrer Störung - unter gewissen Voraussetzungen. Aber jeder einzelne Fall ist eine Herausforderung.






Gewisse Behinderungen können eine Prüfung in einem ruhigen Raum nötig machen, Bild: Annick Ramp

Gleichstellung kann noch verbessert werden, NZZ, 27.6. von Walter Bernet


Der Fall warf unlängst hohe Wellen: Die Gemeindeversammlung von Dürnten entschied, einem Mitbürger sei eine Viertelmillion Franken zurückzubezahlen. Dieser hatte wegen einer Lese- und Rechtschreibschwäche nie eine Steuererklärung ausgefüllt und konnte sich gegen die viel zu hohen Steuerforderungen auch nicht wehren. Er zahlte, bis ihm nichts mehr blieb. Dass Dyslexie eine Störung ist, die nicht zu ungerechten Benachteiligungen führen darf, scheint eine gut verankerte Norm zu sein.
Im Umfeld der Schulen und Universitäten wird es komplizierter. Ist es nicht eine Bevorzugung gegenüber anderen, wenn man einen motorisch beeinträchtigten Schüler die Gymiprüfung mit dem Computer schreiben lässt? Erst vor zwei Monaten hat das Bundesgericht gegen ein St. Galler Gymnasium und die kantonalen Rekursinstanzen entschieden, dass der Beeinträchtigung des jungen Bewerbers Rechnung zu tragen ist und er die Prüfung nochmals machen darf - mit dem Computer. Im Einzelfall, so scheint es, ist die Norm nur mit Schwierigkeiten fair anzuwenden.
Grosse Nachfrage nach Rat
Lehrkräfte, die solchen und anderen Defiziten ihrer Schülerinnen und Schüler mit Hilfestellungen - etwa vergrösserten Prüfungsblättern bei Sehschwäche - begegneten, hat es immer gegeben. In den letzten Jahren ist der sogenannte Nachteilsausgleich aber zu einem grossen Thema geworden. Das hat einerseits damit zu tun, dass spätestens seit dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes 2004 ein Rechtsanspruch auf Ausgleich besteht. Anderseits haben sich die Bedingungen in den Schulen aller Stufen verändert. An der Universität Zürich zum Beispiel haben 2014 gegen 300 Studierende einen Nachteilsausgleich beansprucht, 90 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Als ein Grund dafür wird das Bologna-Modell mit seinen sich pausenlos folgenden Prüfungen genannt. Bei den Zürcher Gymiprüfungen hat sich der Hinweis auf den Nachteilsausgleich auf dem Anmeldeportal ausgewirkt. Und in der Volksschule hat das Prinzip der Integration Behinderter in die Regelklassen das Problem akzentuiert.
Dies spiegelt sich in einer Vielzahl von Empfehlungen, Richtlinien und Artikeln von Ämtern, Rektorenkonferenzen, Institutionen der Heilpädagogik und Behindertenverbänden, die - etwa im Fall des Zürcher Volksschulamts - recht praxisnah und durchwegs neueren oder neuesten Datums sind. Wie gross die Nachfrage nach Rat und Hilfe ist, hat am vergangenen Samstag eine von 400 Personen besuchte Tagung des Verbands Dyslexie Schweiz zum Thema in Zürich bewiesen.
Beim Nachteilsausgleich handelt es sich um individuelle Massnahmen, die Benachteiligungen - etwa in Prüfungen - kompensieren. In den Volksschulen werden diese Massnahmen in der Regel in den Standortgesprächen vereinbart und schriftlich festgehalten. Voraussetzung ist eine von Fachpersonen diagnostizierte Funktionsstörung, also eine dauerhafte Behinderung. Das können Dyslexie oder Dyskalkulie, körperliche Behinderungen, Störungen im Autismus-Spektrum sowie der Aufmerksamkeit und Hyperaktivität oder auch chronische Krankheiten sein. Grundprinzip ist, dass am Kern der Lehr- und Leistungsziele keine Abstriche gemacht, aber die Wege zu deren Erreichung der Störung angepasst werden.
Unterschiedliche Handhabung
So weit, so klar. Die Schwierigkeiten ergeben sich in der Praxis. Anschaulich schildert das etwa der Mittelschullehrer Daniel Kunz in der März-Ausgabe der «Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik». Er hat an der Kantonsschule Zürich Nord seit 2007 vor allem bezüglich Lese-Rechtschreib-Störungen Pionierarbeit geleistet, die nach anfänglichem Widerstand zu verbindlichen Richtlinien der Schulleiterkonferenz der Mittelschulen geführt hat. Diese würden allerdings bis heute sehr unterschiedlich gehandhabt, schreibt Kunz.

Besondere Aufmerksamkeit und intensive Kommunikation erfordern laut Kunz Schul- und Stufenwechsel oder Repetitionen. Immer öfter machten Eltern plötzlich «Schwächen» ihres Nachwuchses geltend, wenn der Probezeit-Entscheid näher rücke. «Nicht ganz hinreichende Belege für eine Rechtschreibschwäche» stehe dann in den eilig angeordneten Beurteilungen der Fachstellen etwa. Das führe zu vielen Gesprächen und Schriftwechseln, aber nie zu Vereinbarungen betreffend Nachteilsausgleich. Weiterbildung und Information für Lehrpersonen seien gefragt.

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