Gewisse Behinderungen können eine Prüfung in einem ruhigen Raum nötig machen, Bild: Annick Ramp
Gleichstellung kann noch verbessert werden, NZZ, 27.6. von Walter Bernet
Der Fall warf unlängst hohe Wellen: Die
Gemeindeversammlung von Dürnten entschied, einem Mitbürger sei eine
Viertelmillion Franken zurückzubezahlen. Dieser hatte wegen einer Lese- und
Rechtschreibschwäche nie eine Steuererklärung ausgefüllt und konnte sich gegen
die viel zu hohen Steuerforderungen auch nicht wehren. Er zahlte, bis ihm
nichts mehr blieb. Dass Dyslexie eine Störung ist, die nicht zu ungerechten
Benachteiligungen führen darf, scheint eine gut verankerte Norm zu sein.
Im Umfeld der Schulen und Universitäten wird es
komplizierter. Ist es nicht eine Bevorzugung gegenüber anderen, wenn man einen
motorisch beeinträchtigten Schüler die Gymiprüfung mit dem Computer schreiben
lässt? Erst vor zwei Monaten hat das Bundesgericht gegen ein St. Galler
Gymnasium und die kantonalen Rekursinstanzen entschieden, dass der
Beeinträchtigung des jungen Bewerbers Rechnung zu tragen ist und er die Prüfung
nochmals machen darf - mit dem Computer. Im Einzelfall, so scheint es, ist die
Norm nur mit Schwierigkeiten fair anzuwenden.
Grosse Nachfrage nach Rat
Lehrkräfte, die solchen und anderen Defiziten ihrer
Schülerinnen und Schüler mit Hilfestellungen - etwa vergrösserten
Prüfungsblättern bei Sehschwäche - begegneten, hat es immer gegeben. In den
letzten Jahren ist der sogenannte Nachteilsausgleich aber zu einem grossen
Thema geworden. Das hat einerseits damit zu tun, dass spätestens seit dem
Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes 2004 ein Rechtsanspruch
auf Ausgleich besteht. Anderseits haben sich die Bedingungen in den Schulen
aller Stufen verändert. An der Universität Zürich zum Beispiel haben 2014 gegen
300 Studierende einen Nachteilsausgleich beansprucht, 90 Prozent mehr als noch
im Vorjahr. Als ein Grund dafür wird das Bologna-Modell mit seinen sich
pausenlos folgenden Prüfungen genannt. Bei den Zürcher Gymiprüfungen hat sich
der Hinweis auf den Nachteilsausgleich auf dem Anmeldeportal ausgewirkt. Und in
der Volksschule hat das Prinzip der Integration Behinderter in die Regelklassen
das Problem akzentuiert.
Dies spiegelt sich in einer Vielzahl von
Empfehlungen, Richtlinien und Artikeln von Ämtern, Rektorenkonferenzen,
Institutionen der Heilpädagogik und Behindertenverbänden, die - etwa im Fall
des Zürcher Volksschulamts - recht praxisnah und durchwegs neueren oder neuesten
Datums sind. Wie gross die Nachfrage nach Rat und Hilfe ist, hat am vergangenen
Samstag eine von 400 Personen besuchte Tagung des Verbands Dyslexie Schweiz zum
Thema in Zürich bewiesen.
Beim Nachteilsausgleich handelt es sich um
individuelle Massnahmen, die Benachteiligungen - etwa in Prüfungen -
kompensieren. In den Volksschulen werden diese Massnahmen in der Regel in den
Standortgesprächen vereinbart und schriftlich festgehalten. Voraussetzung ist
eine von Fachpersonen diagnostizierte Funktionsstörung, also eine dauerhafte
Behinderung. Das können Dyslexie oder Dyskalkulie, körperliche Behinderungen,
Störungen im Autismus-Spektrum sowie der Aufmerksamkeit und Hyperaktivität oder
auch chronische Krankheiten sein. Grundprinzip ist, dass am Kern der Lehr- und
Leistungsziele keine Abstriche gemacht, aber die Wege zu deren Erreichung der
Störung angepasst werden.
Unterschiedliche Handhabung
So weit, so klar. Die Schwierigkeiten ergeben sich
in der Praxis. Anschaulich schildert das etwa der Mittelschullehrer Daniel Kunz
in der März-Ausgabe der «Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik». Er hat
an der Kantonsschule Zürich Nord seit 2007 vor allem bezüglich
Lese-Rechtschreib-Störungen Pionierarbeit geleistet, die nach anfänglichem
Widerstand zu verbindlichen Richtlinien der Schulleiterkonferenz der
Mittelschulen geführt hat. Diese würden allerdings bis heute sehr
unterschiedlich gehandhabt, schreibt Kunz.
Besondere Aufmerksamkeit und intensive
Kommunikation erfordern laut Kunz Schul- und Stufenwechsel oder Repetitionen.
Immer öfter machten Eltern plötzlich «Schwächen» ihres Nachwuchses geltend,
wenn der Probezeit-Entscheid näher rücke. «Nicht ganz hinreichende Belege für
eine Rechtschreibschwäche» stehe dann in den eilig angeordneten Beurteilungen
der Fachstellen etwa. Das führe zu vielen Gesprächen und Schriftwechseln, aber
nie zu Vereinbarungen betreffend Nachteilsausgleich. Weiterbildung und
Information für Lehrpersonen seien gefragt.
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