6. Juli 2015

Herausforderungen durch Flüchtlingskinder

Flüchtlingskinder, die unser Alphabet nicht beherrschen oder Analphabeten sind, stellen das Bildungssystem vor neue Herausforderungen. Die Zürcher Schulen setzen auf integrative Modelle und auf Spezialklassen.





Abbildungen von Mundformen helfen auch älteren Schülern aus anderen Kulturen, das Abc zu lernen, Bild: Christian Beutler

Alles fremd, NZZ, 4.7. von Dorothee Vögeli


Für viele schulpflichtige Kinder von Ausländern, die in der Schweiz ankommen, ist alles neu - unabhängig davon, ob ihre Eltern als IT-Fachkräfte an die ETH geholt worden sind oder ob sie eine Flucht übers Mittelmeer hinter sich haben. Manchen ist das lateinische Alphabet fremd, der Schulbetrieb aber grundsätzlich vertraut. Andere haben noch nie einen Bleistift oder eine Schere in der Hand gehalten. Entsprechend gross ist die Spannweite der momentan 10 Schützlinge, denen Jan Gunz die deutsche Sprache beizubringen hat. Der Primarlehrer mit Zusatzausbildung «Deutsch als Zweitsprache» (DaZ) unterrichtet in einem Schulhaus in Zürich Schwamendingen 10- bis 13-jährige Ausländerkinder. «Der Graben zwischen wohlformulierten schulischen Integrationszielen und der Realität ist gross», sagt er.

Sozialer Austausch zentral
Natürlich gebe es - von der Nationalität völlig unabhängig - auch blitzgescheite Kinder mit gebildeten Eltern, betont er. Diesen gelinge es innert weniger Wochen mit elterlicher Unterstützung, in der Regelschule Fuss zu fassen. Es kommen aber auch Kinder zu ihm, deren Eltern keine Stundenpläne lesen können. Sie leben in der nahe gelegenen städtischen Asylunterkunft oder in Notwohnungen. Oft werden sie kurzfristig zugeteilt und müssen sich während des allmorgendlichen DaZ-Unterrichts erst einmal orientieren. Nachmittags sitzen sie in der Regelklasse, im besten Fall im Werken, im schlechtesten Fall in der Deutschstunde, und können dem Unterricht nicht folgen.
Manche kommen mit der Zeit erstaunlich gut zurecht, wie Gunz festhält. Andere seien aber auch nach einem Jahr DaZ-Anfangsunterricht in der Regelklasse überfordert. Zwar erhalten sie danach im zweijährigen DaZ-Aufbauunterricht weiterhin individuelle Förderung. Das Problem aber bleibt: «Einige können in diesem Alter nicht mehr auf den fahrenden Zug aufspringen und leiden darunter, stets das Schlusslicht zu sein.»
Anders sieht das Schulleiterin Bettina Erzinger, eine vehemente Verfechterin des DaZ-Anfangsunterrichts-Modells: «Für die allermeisten Kinder funktioniert die schrittweise Integration in die Regelklasse. Am Anfang geht es nicht primär um den Schulstoff, sondern um den Austausch mit anderen Kindern. Da geschieht die Integration zum Beispiel im gemeinsamen Fussballspiel.» Gewisse Eltern vermöchten ihre Kinder tatsächlich nicht zu unterstützen, seien aber in der Regel sehr kooperativ, sagt sie.
Angesichts der guten Erfahrungen mit dem DaZ-Modell wäre für sie eine Separierung neu ankommender Flüchtlingskinder der falsche Weg. Sie hält fest: «Die Begleitung und Unterstützung von Kindern mit wenig Deutschkenntnissen ist für die Lehrkräfte eine schwierige, aber dankbare Aufgabe. Unser Team meistert sie hervorragend.»
Spezialklassen für Kinder von Asylsuchenden gibt es in Gemeinden mit kantonalen Durchgangszentren oder auch im Testbetrieb Juch, wo der Bund beschleunigte Asylverfahren testet. Seit Februar werden im Stadtzürcher Schulkreis Waidberg zudem erste Erfahrungen gesammelt mit einer Oberstufen-Aufnahmeklasse für unbegleitete minderjährige Asylsuchende, die vorwiegend aus Eritrea und Somalia stammen. Bei diesen Jugendlichen ist meist nicht der Übertritt in die Regelschule das Ziel. Vielmehr werden Anschlusslösungen gesucht. Obwohl nicht nur die Zahl unbegleiteter Minderjähriger, sondern die Zahl der Asylgesuche insgesamt steigt, ist ein Ausbau des Angebots für Flüchtlingskinder kein Thema, wie Martin Wendelspiess, Chef des Volksschulamts, sagt. «Wir sind noch weit weg von der Situation während des Bosnienkriegs - damals schufen wir kurzfristig Spezialklassen.» Es habe in letzter Zeit Anfragen zur schulischen Integration von Flüchtlingskindern gegeben - «aber nicht in gewaltigem Ausmass». Das Volksschulamt werde die Entwicklung auf alle Fälle genau beobachten.

Geschützter Rahmen
Aufnahmeklassen für Fremdsprachige nicht nur aus Asylunterkünften können die Zürcher Schulgemeinden trotz den 2008 aufgelösten Sonderklassen in eigener Kompetenz schaffen. Das damals in Kraft gesetzte Volksschulgesetz erlaubt es, zwischen dem Konzept der Aufnahmeklasse - wie die frühere Sonderklasse E heute heisst - und dem DaZ-Modell zu wählen. Für die Weiterführung der Aufnahmeklassen entschieden sich damals die beiden Stadtzürcher Schulkreise Glatttal und Waidberg. Die Aufnahmeklassen dauern ungefähr ein Jahr. Die Schüler lernen dort nicht nur Deutsch, sondern das ganze Schulprogramm - das Tempo ist aber langsamer und wird individuell angepasst.
Karin Diener, Mittelstufenlehrerin mit Zusatzausbildung DaZ, unterrichtet seit 17 Jahren in einer der drei Aufnahmeklassen im Schulkreis Waidberg. Ihr Fazit ist positiv: «Auch wir haben häufig Kinder, die noch nie oder schon lange nicht mehr in der Schule waren. Sie sind sehr unsicher und müssen erst richtig ankommen. Das verbindet sie mit Kindern hochgebildeter Familien etwa aus Japan oder Indien. In der gemeinsamen Sprache Deutsch lernen sie, wie die Schweiz, wie die Schule und die Gesellschaft funktionieren, das wirkt motivierend.» Diener ist deshalb dezidiert gegen reine Flüchtlingsklassen, hat aber auch Vorbehalte gegenüber einer schrittweisen Integration für alle vom ersten Tag an, wie sie das DaZ-Modell vorsieht: «Unsere Schüler sind froh über den geschützten Rahmen. Und für Überflieger und Expat-Kinder ist ein Übertritt natürlich immer möglich.»
Vor- und Nachteile hätten beide Modelle - es sollte keine Glaubensfrage sein, hält sie fest. DaZ-Schülerinnen und -Schüler hätten in der Tat schneller Kontakte im neuen Umfeld, weil sie im Wohnquartier zu Schule gehen. Was aber geschieht nach der geschützten Phase in der Aufnahmeklasse? «Wir bereiten den Übertritt gut mit den Lehrpersonen vor und fragen nach einem halben Jahr nach», sagt Diener. Viele ehemalige Schüler kämen später immer wieder zu Besuch, auch im Erwachsenenalter: «Die Aufnahmeklasse ist ihr erstes Zuhause in der Schweiz.»
Die Wirksamkeit und die Kosten der beiden Modelle sind noch kaum erforscht. Deshalb bleibt es eben doch eine Glaubensfrage - vor finanztechnischem Hintergrund: Schwamendingen hat einen sehr viel höheren Anteil fremdsprachiger Kinder als der Schulkreis Waidberg und entsprechend mehr DaZ-Ressourcen. Der Schulkreis Waidberg setzt deshalb 300 Stellenprozente des ihm zustehenden Lehrerstellen-Kontingents für Aufnahmeklassen ein - und nimmt dafür eine Erhöhung der Klassengrösse um durchschnittlich 0,3 Kinder in Kauf, wie Schulpräsident Urs Berger ausführt.
Allerdings werden die Klassen im Gebiet Waidberg wegen des Zuzugs von Gutverdienenden ohnehin stetig grösser. Die 300 Stellenprozente könnte man also auch anders einsetzen. Angesichts der positiven Rückmeldungen aus der Lehrerschaft hält man aber an den Aufnahmeklassen fest.


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