Abbildungen von Mundformen helfen auch älteren Schülern aus anderen Kulturen, das Abc zu lernen, Bild: Christian Beutler
Alles fremd, NZZ, 4.7. von Dorothee Vögeli
Für viele schulpflichtige Kinder von Ausländern,
die in der Schweiz ankommen, ist alles neu - unabhängig davon, ob ihre Eltern
als IT-Fachkräfte an die ETH geholt worden sind oder ob sie eine Flucht übers
Mittelmeer hinter sich haben. Manchen ist das lateinische Alphabet fremd, der
Schulbetrieb aber grundsätzlich vertraut. Andere haben noch nie einen Bleistift
oder eine Schere in der Hand gehalten. Entsprechend gross ist die Spannweite
der momentan 10 Schützlinge, denen Jan Gunz die deutsche Sprache beizubringen
hat. Der Primarlehrer mit Zusatzausbildung «Deutsch als Zweitsprache» (DaZ)
unterrichtet in einem Schulhaus in Zürich Schwamendingen 10- bis 13-jährige
Ausländerkinder. «Der Graben zwischen wohlformulierten schulischen
Integrationszielen und der Realität ist gross», sagt er.
Sozialer Austausch zentral
Natürlich gebe es - von der Nationalität völlig
unabhängig - auch blitzgescheite Kinder mit gebildeten Eltern, betont er.
Diesen gelinge es innert weniger Wochen mit elterlicher Unterstützung, in der
Regelschule Fuss zu fassen. Es kommen aber auch Kinder zu ihm, deren Eltern
keine Stundenpläne lesen können. Sie leben in der nahe gelegenen städtischen
Asylunterkunft oder in Notwohnungen. Oft werden sie kurzfristig zugeteilt und
müssen sich während des allmorgendlichen DaZ-Unterrichts erst einmal
orientieren. Nachmittags sitzen sie in der Regelklasse, im besten Fall im
Werken, im schlechtesten Fall in der Deutschstunde, und können dem Unterricht
nicht folgen.
Manche kommen mit der Zeit erstaunlich gut zurecht,
wie Gunz festhält. Andere seien aber auch nach einem Jahr DaZ-Anfangsunterricht
in der Regelklasse überfordert. Zwar erhalten sie danach im zweijährigen
DaZ-Aufbauunterricht weiterhin individuelle Förderung. Das Problem aber bleibt:
«Einige können in diesem Alter nicht mehr auf den fahrenden Zug aufspringen und
leiden darunter, stets das Schlusslicht zu sein.»
Anders sieht das Schulleiterin Bettina Erzinger,
eine vehemente Verfechterin des DaZ-Anfangsunterrichts-Modells: «Für die
allermeisten Kinder funktioniert die schrittweise Integration in die
Regelklasse. Am Anfang geht es nicht primär um den Schulstoff, sondern um den
Austausch mit anderen Kindern. Da geschieht die Integration zum Beispiel im
gemeinsamen Fussballspiel.» Gewisse Eltern vermöchten ihre Kinder tatsächlich
nicht zu unterstützen, seien aber in der Regel sehr kooperativ, sagt sie.
Angesichts der guten Erfahrungen mit dem DaZ-Modell
wäre für sie eine Separierung neu ankommender Flüchtlingskinder der falsche
Weg. Sie hält fest: «Die Begleitung und Unterstützung von Kindern mit wenig
Deutschkenntnissen ist für die Lehrkräfte eine schwierige, aber dankbare
Aufgabe. Unser Team meistert sie hervorragend.»
Spezialklassen für Kinder von Asylsuchenden gibt es
in Gemeinden mit kantonalen Durchgangszentren oder auch im Testbetrieb Juch, wo
der Bund beschleunigte Asylverfahren testet. Seit Februar werden im
Stadtzürcher Schulkreis Waidberg zudem erste Erfahrungen gesammelt mit einer
Oberstufen-Aufnahmeklasse für unbegleitete minderjährige Asylsuchende, die
vorwiegend aus Eritrea und Somalia stammen. Bei diesen Jugendlichen ist meist
nicht der Übertritt in die Regelschule das Ziel. Vielmehr werden
Anschlusslösungen gesucht. Obwohl nicht nur die Zahl unbegleiteter
Minderjähriger, sondern die Zahl der Asylgesuche insgesamt steigt, ist ein
Ausbau des Angebots für Flüchtlingskinder kein Thema, wie Martin Wendelspiess,
Chef des Volksschulamts, sagt. «Wir sind noch weit weg von der Situation
während des Bosnienkriegs - damals schufen wir kurzfristig Spezialklassen.» Es
habe in letzter Zeit Anfragen zur schulischen Integration von
Flüchtlingskindern gegeben - «aber nicht in gewaltigem Ausmass». Das
Volksschulamt werde die Entwicklung auf alle Fälle genau beobachten.
Geschützter Rahmen
Aufnahmeklassen für Fremdsprachige nicht nur aus
Asylunterkünften können die Zürcher Schulgemeinden trotz den 2008 aufgelösten
Sonderklassen in eigener Kompetenz schaffen. Das damals in Kraft gesetzte
Volksschulgesetz erlaubt es, zwischen dem Konzept der Aufnahmeklasse - wie die
frühere Sonderklasse E heute heisst - und dem DaZ-Modell zu wählen. Für die
Weiterführung der Aufnahmeklassen entschieden sich damals die beiden
Stadtzürcher Schulkreise Glatttal und Waidberg. Die Aufnahmeklassen dauern
ungefähr ein Jahr. Die Schüler lernen dort nicht nur Deutsch, sondern das ganze
Schulprogramm - das Tempo ist aber langsamer und wird individuell angepasst.
Karin Diener, Mittelstufenlehrerin mit
Zusatzausbildung DaZ, unterrichtet seit 17 Jahren in einer der drei
Aufnahmeklassen im Schulkreis Waidberg. Ihr Fazit ist positiv: «Auch wir haben
häufig Kinder, die noch nie oder schon lange nicht mehr in der Schule waren.
Sie sind sehr unsicher und müssen erst richtig ankommen. Das verbindet sie mit
Kindern hochgebildeter Familien etwa aus Japan oder Indien. In der gemeinsamen
Sprache Deutsch lernen sie, wie die Schweiz, wie die Schule und die Gesellschaft
funktionieren, das wirkt motivierend.» Diener ist deshalb dezidiert gegen reine
Flüchtlingsklassen, hat aber auch Vorbehalte gegenüber einer schrittweisen
Integration für alle vom ersten Tag an, wie sie das DaZ-Modell vorsieht:
«Unsere Schüler sind froh über den geschützten Rahmen. Und für Überflieger und
Expat-Kinder ist ein Übertritt natürlich immer möglich.»
Vor- und Nachteile hätten beide Modelle - es sollte
keine Glaubensfrage sein, hält sie fest. DaZ-Schülerinnen und -Schüler hätten
in der Tat schneller Kontakte im neuen Umfeld, weil sie im Wohnquartier zu
Schule gehen. Was aber geschieht nach der geschützten Phase in der
Aufnahmeklasse? «Wir bereiten den Übertritt gut mit den Lehrpersonen vor und
fragen nach einem halben Jahr nach», sagt Diener. Viele ehemalige Schüler kämen
später immer wieder zu Besuch, auch im Erwachsenenalter: «Die Aufnahmeklasse
ist ihr erstes Zuhause in der Schweiz.»
Die Wirksamkeit und die Kosten der beiden Modelle
sind noch kaum erforscht. Deshalb bleibt es eben doch eine Glaubensfrage - vor
finanztechnischem Hintergrund: Schwamendingen hat einen sehr viel höheren
Anteil fremdsprachiger Kinder als der Schulkreis Waidberg und entsprechend mehr
DaZ-Ressourcen. Der Schulkreis Waidberg setzt deshalb 300 Stellenprozente des
ihm zustehenden Lehrerstellen-Kontingents für Aufnahmeklassen ein - und nimmt
dafür eine Erhöhung der Klassengrösse um durchschnittlich 0,3 Kinder in Kauf,
wie Schulpräsident Urs Berger ausführt.
Allerdings werden die Klassen im Gebiet Waidberg
wegen des Zuzugs von Gutverdienenden ohnehin stetig grösser. Die 300
Stellenprozente könnte man also auch anders einsetzen. Angesichts der positiven
Rückmeldungen aus der Lehrerschaft hält man aber an den Aufnahmeklassen fest.
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