6. Juli 2015

Die Häfelischule wird 175

Vor 175 Jahren gründete Friedrich Fröbel in Deutschland den ersten Kindergarten - und revolutionierte damit die Vorschule rund um den Erdball. An keiner anderen pädagogischen Einrichtung entzünden sich heute mehr bildungspolitische Diskussionen.






Das ovale Dach des Fuji-Kindergartens in Tokio ist Laufbahn und Spielplatz zugleich, Bild: Katsuhisa Kida

Soziallabor Kindergarten, NZZaS, 28.6. von Nicole Althaus



Die Vorgabe für den innovativsten Kindergarten der Welt bestand aus einem einzigen Satz: Bau uns ein Haus, in dem die Kinder so sein können, wie sie von Natur aus sind. Heute rennen die kleinen Kinder johlend über das ovale Dach des Fuji-Kindergartens mitten in Tokio. Antreiben muss sie niemand, sie?rennen freiwillig und gerne im Kreis, manche legen über fünf Kilometer an einem Tag zurück. Der Architekt Takaharu Tezuka hat bei seinen eigenen Kindern beobachtet, dass sie häufig Runden um den Garten drehen, um ihr Revier zu «markieren» und den Bewegungsdrang zu stillen. So entstand 2007 die Idee für das offene ovale Gebäude, dessen Dach als Spielplatz genutzt wird: Manchmal sitzen die Kinder am Rand, lassen die Beine baumeln und beobachten das Geschehen in den offenen Unterrichtsräumen darunter, oder sie klettern auf einen der Bäume, die durch das Dach wachsen und eine «kleine Dosis Gefahr» in den heute oft totalüberwachten Kinderalltag zurückbringen. Stundenplan gibt es keinen, die Schüler pendeln nach Lust und Laune zwischen drinnen und draussen. Dafür gibt es lange Wartelisten für einen Platz in der Vorschule, die heute in Tests hervorragend abschneidet. Dies dank einer simplen Erkenntnis, die Friedrich Fröbel, der geistige Vater des Kindergartens, vor exakt 175 Jahren formuliert hat: Kleine Kinder können gar nicht anders als lernen. Man muss ihnen bloss die Umgebung bieten, die ihre Neugierde fördert statt verhindert.
Wenn Fröbel das ovale Schulgebäude mitten in Tokio sehen und der Internet-vorlesung des Architekten Takaharu Tezuka folgen könnte, wäre er wohl doppelt verblüfft: einerseits darüber, wie global und radikal wortwörtlich seine 1840 formulierte Idee eines «Gartens für Kinder» als Ort des selbstgesteuerten Wachsens und Gedeihens» umgesetzt wurde. Anderseits über die totale Umkehr der erzieherischen Agenda: War man vor 175 Jahren vorab darum besorgt, dass die Kleinen nicht zu viel Zeit unkontrolliert verbrachten, so muss man heute dafür kämpfen, dass sie das überhaupt noch können und dürfen. Von Amerika bis Japan wird zurzeit heftig diskutiert, wie akademisch das Curriculum kleiner Kinder sein soll und wie viel Freiheit und Natur sie brauchen. Viele Zürcher Kindergärten haben einen Waldtag eingeführt, damit die Zöglinge nicht nur aus dem Bilderbuch erfahren, was?ein Baum ist. Es sieht also ganz so aus, als ob man sich in der globalisierten und auf Effizienz getrimmten Welt des neuen Jahrtausends wieder stärker auf das pädagogische Grundprinzip zurückbesinne, das Fröbel 1840 formuliert hatte: Bildung geschieht im und durch das Spiel, und Erziehung ist die Hilfe zur Selbstentfaltung.
Die Schriften des Pädagogen, der einige Zeit bei Pestalozzi in der Schweiz verbracht hatte, mögen heute pathetisch anmuten, doch seine Ideen waren visionär: Weltweit haben Länder den Begriff «Kindergarten» entlehnt (etwa China und Japan) oder sogar wie im angelsächsischen Sprachraum wörtlich übernommen. Und das Spiel ist heute Mittelpunkt jeder Kleinkinderpädagogik. Dem durchschlagenden Erfolg von Fröbels Idee steht allerdings der andauernde Kampf des Kindergartens um gesellschaftliche und bildungspolitische Anerkennung gegenüber, der bis heute nicht ausgefochten ist. «Kindergarten ist für weite Kreise der Deutschschweiz nicht Schule, dieses Abgrenzungsmotiv gehört zum Kernbestand seiner pädagogischen Identität», sagt Bildungshistoriker Andreas Hoffmann-Ocon. Wie stark es bis in die Gegenwart wirkt, konnte man 2003 am Nein des Zürcher Stimmvolks zur Grund- oder Basisstufe sehen und zuletzt an der vehementen Kritik am Lehrplan 21, der für den Kindergarten bindende Lernziele setzt.

Singen, Beten, Auswendiglernen
Sowohl der Erfolg wie auch der Anerkennungskampf des Kindergartens lassen sich aus seiner Geschichte heraus erklären. Diese reicht bis in die Zeit der Aufklärung zurück. Bereits 1780 skizzierte der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi in seinem Erziehungsroman «Lienhard und Gertrud» die Idee eines Kinderhauses für bedürftige Kinder, die nicht nur betreut, sondern auch gefördert werden sollten. Zwischen 1750 und 1850 entstand in Deutschland, aber auch in der Schweiz nämlich eine Vielzahl von Stätten, in denen Kleinkinder versorgt wurden. «Warteschule» nannte man sie oder «Hüteschule» und «Bewahranstalt». Allen gemeinsam war, dass sie im Gegensatz zur Schule keine staatlichen Einrichtungen waren, sondern von wohltätigen, oft christlichen Vereinen gegründete Anstalten. Die Erwerbstätigkeit der Mütter in den «arbeitenden Classen» war schon vor der Industrialisierung weit verbreitet, wurde mit der Fabrikarbeit aber akut. Kleinkinder wurden zu Hause eingesperrt, was häufig zu Unfällen führte, oder von älteren Geschwistern beaufsichtigt, die auf der Strasse herumlungerten und die Schule verpassten. Nicht die Bildung, sondern die Arbeitstätigkeit der Mutter war also das Hauptmotiv für die Gründung von Kleinkinderstätten. Viele waren mit 100 oder mehr Kindern in einem Raum und einem Personalschlüssel von 1:50 in der Tat reine Verwahranstalten. Die Ausstattung war kärglich, Spielzeug gab es kaum, der Stundenplan bestand aus Gesang und Gebet, Auswendiglernen von Versen und Sprechübungen.
Weil sich im gleichen Zeitraum die Idee von der bürgerlichen Familie herausbildete und mit ihr die Überzeugung, dass sich ein Kind nur im privaten Rahmen und unter der Aufsicht der Mutter gut entwickeln könne, wurden die Kleinkinder-Verwahranstalten von Beginn weg als «widernatürliche» Einrichtungen kritisiert. Es bildete sich ein Spannungsfeld zwischen privatfamilialer und öffentlicher Kleinkindererziehung heraus, das bis in die Gegenwart nachwirkt.
Ähnliche Argumente, wie sie die SVP in jüngster Vergangenheit gegen die Basisstufe oder die Einführung von Hochdeutsch im Kindergarten einbrachte, kursierten schon zu Zeiten Fröbels: Die Kinder-Einrichtungen entfremdeten das Kind von seiner Mutter, seinen kulturellen Wurzeln und griffen in die familiäre Privatsphäre ein, klagten die Gegner. «Wir haben niemals verkannt», verteidigte sich Fröbel, «dass die Kinder in ihrem zarten Alter am besten in dem häuslichen Kreis erzogen werden, wenn die Mutter die hinreichende Zeit, die rechte Liebe und Weisheit zu ihrer Erziehung hat.» Dem stehe aber entgegen, dass man «den einen Teil der Eltern nicht von ihrem Broterwerb wegziehen und dem anderen nicht die Erziehungsweisheit einimpfen» könne. Mit seinem Konzept der «professionellen Mutterschaft» etablierte der Pädagoge einen Kompromiss, der auch im Bürgertum die nötige Akzeptanz fand: Er entwarf seinen Kindergarten bewusst als Ergänzung und nicht als Konkurrenz zur Familie und legte der Kindergärtnerinnen-Ausbildung sogenannt mütterliche Kernkompetenzen wie Intuition, Empathie und Fürsorge zugrunde.
Am 28. Juni 1840 stiftete Fröbel im thüringischen Blankenburg den ersten Kindergarten, den er als Modell und Ausgangspunkt einer gesamtdeutschen Bewegung verstand. Das Modell wurde schnell exportiert. Bereits 1845 etwa wurde in Zürich Riesbach der erste Kindergarten in der Schweiz nach Fröbelschem Vorbild errichtet. Der Erfolg des Kindergartens erklärt sich laut Andreas Hoffmann einerseits damit, dass Fröbel nicht nur ein pädagogisches Konzept entwickelte, sondern mit seinen «Spielgaben», den Würfelkästen oder Verschränkstäbchen, auch didaktische Hilfsmittel lieferte. Andererseits sorgte der konfessionsneutrale Zugang seiner Pädagogik dafür, dass seine Ideen sowohl katholische als auch reformierte oder jüdische Vereine erreichen konnte.

Häfelischüler und Basteltanten
Die bürgerliche Frauenbewegung jedenfalls erkannte schnell, dass sich mit der öffentlichen Kleinkindererziehung eine neue standesgemässe Erwerbsmöglichkeit für Frauen auftat. So war der Kindergarten nicht nur eine pädagogische und soziale Innovation, sondern funktionierte im 19. Jahrhundert auch als Emanzipations-Motor und führte zur Errichtung von Ausbildungsstätten für Frauen. 1873 wurde in St.?Gallen das erste Kindergärtnerinnen-Institut der Schweiz errichtet. Doch so pragmatisch und fortschrittlich das Konzept der professionellen Mütterlichkeit damals war, so sehr erwies es sich in der Folge als Bremsklotz. Der Kindergarten ist zu einem Frauenbiotop geworden, in dem bis heute um professionelle Anerkennung und entsprechende Entlöhnung gekämpft wird.
Auch bildungshistorisch sind die «Häfelischule» und die Ausbildung der «Basteltanten» Stiefkinder geblieben. Dabei spielt der Kindergarten gesellschaftlich eine zentrale Rolle: Gerade weil er an der Grenze zwischen Elternhaus und Schule angesiedelt ist, spiegelt er wie keine andere pädagogische Institution deren Werte. Er ist sozusagen das Experimentierfeld für die Erprobung gesellschaftspolitischer Ideen: Nicht umsonst nutzte die DDR den Kindergarten, um den Kindern «sozialistische Moral» einzuimpfen. Und zwar bis in das Sauberkeitstraining hinein: Zur festen Uhrzeit setzte man die Kinderschar auf das Töpfchen. Es ist auch kein Zufall, dass 2010 der Stockholmer Kindergarten «Egalia» als erste Einrichtung mit Gleichstellung als pädagogischer Basis Schlagzeilen schrieb. Die Nähe zur Familie und damit die Möglichkeit zur erzieherischen Intervention ist nirgendwo grösser. Als logische Folge entzünden sich an keiner anderen pädagogischen Institution mehr Diskussionen: In der Schweiz löste zuletzt die Sexualkunde im Kindergarten Grabenkämpfe aus. Sie wurde als Eingriff in die elterliche Erziehungshoheit empfunden.


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