Eigentlich
müssten die kantonalen Erziehungsdirektoren in Feierlaune sein. Das
überwältigende Ja zum Bildungsartikel in der Bundesverfassung jährt sich bald
zum zehnten Mal. Das Stimmvolk sprach sich 2006 mit 86 Prozent für die
Angleichung der 26 verschiedenen Bildungssysteme der Kantone aus. Familien und
Lehrer sollten endlich problemlos von einem Kanton in den anderen ziehen
können.
Die Harmonisierung ist vor allem bei den Fremdsprachen vonnöten, Bild: Urs Jaudas
Gutachten sind keine Lösung, Tages Anzeiger, 9.6. von Anja Burri
Der Weg schien frei für
die «Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen
Schule», kurz Harmos, und für den ersten gemeinsamen Lehrplan. Doch statt den
Champagner kühl zu stellen, müssen sich nun viele Erziehungsdirektoren darauf
vorbereiten, das Erreichte in neuen Abstimmungskämpfen zu verteidigen. In mehr
als der Hälfte der Deutschschweizer Kantone wollen Gegner den Lehrplan 21 oder
den Fremdsprachenunterricht in der Primarschule verhindern oder umkrempeln.
Beides sind wesentliche Teile der Harmonisierungsbemühungen.
Der Lehrplan ist den
Kritikern zu umfangreich, zu ideologisch oder zu wenig auf Schulwissen
aufgebaut. Zwei Fremdsprachen in der Primarschule – in der Regel Englisch und
Französisch – seien zu anspruchsvoll für Lehrer und Kinder, heisst es. Kommt
hinzu, dass in vielen Kantonen das Geld für eine befriedigende Umsetzung der
anspruchsvollen Reformen fehlt.
Es
geht um Ideologien
Doch
das ist nicht alles, wie die Serie #Schulewohin aufgezeigt hat: Die unter Spardruck
stehenden Kantone sehen sich auch mit Lohnforderungen der Lehrkräfte und mit
Lohnklagen konfrontiert. Und die Integration von Sonderschülern – ebenfalls ein
Prestigeprojekt der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz – sorgt in Städten
und Agglomerationsgemeinden für Unruhe. Auch dort fehle das Geld für eine
angemessene Betreuung, klagen betroffene Eltern und Lehrer.
Kurz: Über die
Volksschule wird wieder einmal heftig gestritten. Pädagogische Argumente werden
dabei weniger gehört als politische Schlagworte. Es geht um Geld, um
Chancengleichheit, um Ideologien. Was die SVP als erste Partei begriff, dämmert
nun, im Wahljahr, auch anderen: Kaum ein anderes Thema ist näher bei den Leuten
als die Schule. Dort steht die Zukunft der eigenen Kinder auf dem Spiel. Es ist
kein Zufall, dass sich die Bürgerlichen nach den Regierungsratswahlen in den
Kantonen Baselland und Zürich die Erziehungsdirektionen sicherten.
Die Reformen rückgängig
zu machen, kommt für die meisten Bildungsdirektoren kaum infrage. Denn mit der
Verankerung des Bildungsartikels in der Verfassung ist die Harmonisierung zur
staatspolitischen Frage geworden. Schaffen es die Kantone nicht, den
Flickenteppich beim Sprachenunterricht oder bei den Schulstufen zu beseitigen,
greift der Bund in ihre Bildungshoheit ein. Innenminister Alain Berset hat es
bereits deutlich gesagt: Sollte ein Deutschschweizer Kanton seinen
Primarschülern nur noch Englisch beibringen, werde er dies nicht akzeptieren.
Die Schonfrist vonseiten des Bundes ist bald abgelaufen: Diesen Sommer müssen
die kantonalen Erziehungsdirektoren Bilanz ziehen, ob die angestrebte
Harmonisierung gelungen ist.
Sprachen
sind der heikle Punkt
Obwohl bis heute von 26
Kantonen nur 15 den Harmos-Beitritt beschlossen haben, dürften verschiedene
Vorgaben wie etwa das einheitliche Schuleintrittsalter erreicht werden. Beim
Fremdsprachenunterricht sieht es aber schlecht aus. Der Kanton Thurgau ist
bereits dabei, sich von der Fremdsprachenstrategie der Erziehungsdirektoren zu
verabschieden: Für Primarschüler soll bald nur noch Englisch obligatorisch
sein. Die Erziehungsdirektoren befinden sich in einer ungemütlichen
Sandwichposition zwischen den Reformgegnern und den in der Verfassung
verankerten Verpflichtungen. Dabei mutet es in einem so kleinen Land wie der
Schweiz geradezu grotesk an, dass sich die Kantone nicht auf ein einigermassen
harmonisiertes Schulsystem einigen können.
In derart verzwickten
Lagen kommen wie so oft die Juristen ins Spiel. In St. Gallen oder Graubünden
haben die Erziehungsdirektoren respektive das Parlament Volksinitiativen, die
nur noch eine statt zwei Fremdsprachen in der Primarschule fordern, für
ungültig erklärt. Doch damit ist der Streit nicht erledigt; stattdessen
verhärten sich die Fronten. Die Schulkritiker wehren sich mit Beschwerden und
alternativen Volksinitiativen. In St. Gallen und Baselland ist es ihnen
gelungen, erneute Volksabstimmungen über das Harmos-Konkordat zu erzwingen.
Statt echte Lösungen zu suchen, findet hinter den Kulissen ein juristisches
Aufrüsten statt; Gegner und Befürworter der Reformen geben bei Rechtsprofessoren
Gutachten in Auftrag.
Das ist gefährlich. Fast
zehn Jahre nach der Volksabstimmung über den Bildungsartikel geht es in vielen
Deutschschweizer Kantonen wieder um die Ursprungsfrage: Wie viel Harmonisierung
brauchen die kantonalen Bildungssysteme? Anstatt sich erneut auf diese
Grundsatzdiskussion einzulassen, sollten die Kantone die konkrete
Auseinandersetzung mit den Reformgegnern an der Urne wagen. Nur offene Debatten
und demokratische Entscheide können die unsichere Pattsituation beenden. Das
zeigt das Beispiel Nidwalden: Dort konnten die Stimmbürger kürzlich über die
Streichung des Frühfranzösisch abstimmen. Sie haben sich dagegen entschieden –
und zwar, weil sie ihren Kanton nicht isolieren wollten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen