9. Juni 2015

Eine Frage der Wirkung


Als ich 1977 mein Lehrerpatent am staatlichen Seminar Biel erhielt, gab es für mich keine Aussicht auf eine sichere Stelle. Denn inzwischen hatte der Pillenknick seine Wirkung entfaltet, die Schülerzahlen sanken und ganze Jahrgänge von frisch ausgebildeten Junglehrern und-lehrerinnen fanden nur mit Mühe eine Anstellung.
 

 
Alain Pichard: Vom Saulus zum Paulus, Bild: Biel-Bienne.ch
 
Es ist alles eine Frage der Wirkung, Berner Zeitung, 8.6. von Alain Pichard
 

 
Kurz darauf flüchteten Hunderttausende von Vietnamesen aus dem kommunistischen Paradies, einige von ihnen landeten bei uns. Und so stand die Bieler Schule vor über dreissig Jahren erstmals vor der Herausforderung, sich besondere Massnahmen für die Integration von Schülern zu überlegen, die kein Wort Deutsch sprachen und aus einem völlig anderen Kulturkreis stammten.

Als wirbliger linker Junglehrer mit guten Verbindungen zum SP-Establishment schlug meine Stunde. Ich empfahl meinem Velokollegen und späteren Gemeinderat Raymond Glas, eine Art Deutschunterricht für Ausländer zu installieren. Das Motto hiess damals: Zu viele Lehrer? Eine Chance für eine bessere Schule!

Im Auftrag der Bieler Schuldirektion durfte ich ein Konzept ausarbeiten, konnte selber die Vernehmlassung organisieren und sorgte schliesslich dafür, dass 15 Lehrkräfte mit Lektionen aus diesem neuen Lektionenpool eine Art Auskommen erzielten.

Das Konzept war simpel. Die fremdsprachigen Schüler wurden für einige Lektionen aus dem Unterricht genommen, um mit ihnen intensiv Deutsch zu lernen.

Natürlich kreierte ich noch eine sogenannte Koordinationsstelle, welche das Ganze begleiten sollte. Und selbstredend bot mir der damalige Schulamtsleiter diese von mir vorgeschlagene Stelle gleich selber an, was ich freilich ablehnte, weil mir das Unterrichten näher lag.

In meinem Kollegium gab es einen älteren Kollegen, der dieser ganzen Sache etwas skeptisch gegenüberstand. Walter Marti hatte zwei Vietnamesinnen in seiner Klasse, die er nun immer wieder abgeben musste.

Nach etwa einem halben Jahr meinte Walter in einer Konferenz: „Die lernen ja gar nichts in diesem Unterricht.“

Ich war tödlich beleidigt und reagierte dementsprechend gehässig. Mit einem Wortschwall schalt ich diesen verdienten Kollegen als konservativ, ja ich unterstellte ihm sogar eine Fremdenfeindlichkeit. Er reagierte stoisch: „Weißt du, Kollege, es ist alles eine Frage der Wirkung.“

Im Rückblick weiss ich nicht einmal, ob Walter Marti ein konservativer Lehrer war. Fremdenfeindlich war er sicher nicht, sondern durch und durch sozialdemokratisch gesinnt. Er pflegte unter anderem  seine Klasse mit Ukulelen auszurüsten und veranstaltete mit ihnen richtig mitreissende Konzerte im Unterricht. Seine Schüler konnten aus dem Stand sicher an die 15 Lieder auswendig singen und zum Teil auch begleiten. Das können meine Schüler nicht mehr, dafür haben sie 2000 Songs auf ihrem Handy gespeichert.

Und natürlich hatte Walter Marti Recht. Das von mir ausgearbeitete Konzept war schlecht. Ich hatte keine Ahnung von Fremdsprachendidaktik, im Vordergrund standen die Stellenschaffungen. Vor allem aber wurde dieser Unterricht allzu oft von Lehrkräften erteilt, denen die Lektionen lediglich als willkommener Zusatzverdienst für andere Tätigkeiten diente.

Hätte der 2009 verstorbene Walter die heutige Entwicklung miterlebt, würde er sich wohl im Grabe umdrehen. Entgegen der albernen Behauptung der Linken, wonach der Staat kaputt gespart würde, tummeln sich heute an die 36 Institutionen rund um die Schule, die alle denselben Anspruch haben: Sie wollen unterstützen, beraten, helfen oder steuern, aber nicht rudern.

Und der vom Saulus zum Paulus gewordene Schreiber dieser Zeile darf mit Schmunzeln feststellen, dass ihm genau dieselben gehässigen Unterstellungen entgegenschlagen, mit denen er auf den bedauernswerten Walter eindrosch, wenn er es heute wagt, gewisse soziale Einrichtungen in Frage zu stellen. Ob Case Management, Junior Coaching, Integrationsfachstelle, FAI, die Schaffung einer Hilfsinstitution an sich ist noch kein humanitärer Akt. Das ist sie erst, wenn sie auch etwas bringt, oder wie es Walter damals ausdrückte: Es ist alles eine Frage der Wirkung.

 

 

 

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