Als
ich 1977 mein Lehrerpatent am staatlichen Seminar Biel erhielt, gab es für mich
keine Aussicht auf eine sichere Stelle. Denn inzwischen hatte der Pillenknick
seine Wirkung entfaltet, die Schülerzahlen sanken und ganze Jahrgänge von
frisch ausgebildeten Junglehrern und-lehrerinnen fanden nur mit Mühe eine
Anstellung.
Alain Pichard: Vom Saulus zum Paulus, Bild: Biel-Bienne.ch
Es ist alles eine Frage der Wirkung, Berner Zeitung, 8.6. von Alain Pichard
Kurz
darauf flüchteten Hunderttausende von Vietnamesen aus dem kommunistischen
Paradies, einige von ihnen landeten bei uns. Und so stand die Bieler Schule vor
über dreissig Jahren erstmals vor der Herausforderung, sich besondere
Massnahmen für die Integration von Schülern zu überlegen, die kein Wort Deutsch
sprachen und aus einem völlig anderen Kulturkreis stammten.
Als
wirbliger linker Junglehrer mit guten Verbindungen zum SP-Establishment schlug
meine Stunde. Ich empfahl meinem Velokollegen und späteren Gemeinderat Raymond
Glas, eine Art Deutschunterricht für Ausländer zu installieren. Das Motto hiess
damals: Zu viele Lehrer? Eine Chance für eine bessere Schule!
Im
Auftrag der Bieler Schuldirektion durfte ich ein Konzept ausarbeiten, konnte
selber die Vernehmlassung organisieren und sorgte schliesslich dafür, dass 15
Lehrkräfte mit Lektionen aus diesem neuen Lektionenpool eine Art Auskommen
erzielten.
Das
Konzept war simpel. Die fremdsprachigen Schüler wurden für einige Lektionen aus
dem Unterricht genommen, um mit ihnen intensiv Deutsch zu lernen.
Natürlich
kreierte ich noch eine sogenannte Koordinationsstelle, welche das Ganze
begleiten sollte. Und selbstredend bot mir der damalige Schulamtsleiter diese
von mir vorgeschlagene Stelle gleich selber an, was ich freilich ablehnte, weil
mir das Unterrichten näher lag.
In
meinem Kollegium gab es einen älteren Kollegen, der dieser ganzen Sache etwas
skeptisch gegenüberstand. Walter Marti hatte zwei Vietnamesinnen in seiner
Klasse, die er nun immer wieder abgeben musste.
Nach
etwa einem halben Jahr meinte Walter in einer Konferenz: „Die lernen ja gar
nichts in diesem Unterricht.“
Ich
war tödlich beleidigt und reagierte dementsprechend gehässig. Mit einem
Wortschwall schalt ich diesen verdienten Kollegen als konservativ, ja ich
unterstellte ihm sogar eine Fremdenfeindlichkeit. Er reagierte stoisch: „Weißt
du, Kollege, es ist alles eine Frage der Wirkung.“
Im
Rückblick weiss ich nicht einmal, ob Walter Marti ein konservativer Lehrer war.
Fremdenfeindlich war er sicher nicht, sondern durch und durch
sozialdemokratisch gesinnt. Er pflegte unter anderem seine Klasse mit Ukulelen auszurüsten und
veranstaltete mit ihnen richtig mitreissende Konzerte im Unterricht. Seine
Schüler konnten aus dem Stand sicher an die 15 Lieder auswendig singen und zum
Teil auch begleiten. Das können meine Schüler nicht mehr, dafür haben sie 2000
Songs auf ihrem Handy gespeichert.
Und
natürlich hatte Walter Marti Recht. Das von mir ausgearbeitete Konzept war
schlecht. Ich hatte keine Ahnung von Fremdsprachendidaktik, im Vordergrund
standen die Stellenschaffungen. Vor allem aber wurde dieser Unterricht allzu
oft von Lehrkräften erteilt, denen die Lektionen lediglich als willkommener
Zusatzverdienst für andere Tätigkeiten diente.
Hätte
der 2009 verstorbene Walter die heutige Entwicklung miterlebt, würde er sich
wohl im Grabe umdrehen. Entgegen der albernen Behauptung der Linken, wonach der
Staat kaputt gespart würde, tummeln sich heute an die 36 Institutionen rund um
die Schule, die alle denselben Anspruch haben: Sie wollen unterstützen,
beraten, helfen oder steuern, aber nicht rudern.
Und
der vom Saulus zum Paulus gewordene Schreiber dieser Zeile darf mit Schmunzeln
feststellen, dass ihm genau dieselben gehässigen Unterstellungen
entgegenschlagen, mit denen er auf den bedauernswerten Walter eindrosch, wenn
er es heute wagt, gewisse soziale Einrichtungen in Frage zu stellen. Ob Case
Management, Junior Coaching, Integrationsfachstelle, FAI, die Schaffung einer
Hilfsinstitution an sich ist noch kein humanitärer Akt. Das ist sie erst, wenn
sie auch etwas bringt, oder wie es Walter damals ausdrückte: Es ist alles eine
Frage der Wirkung.
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