In bewegten Zeiten ist das Bedürfnis nach
Orientierung stets am grössten. Nicht selten wird diese in der eigenen
Geschichte gesucht: Das Wissen über die Vergangenheit soll die Pfade der
Zukunft erleuchten; «historia magistra vitae», hiess es schon bei Cicero. Nach
Jahren des akademischen Nasenrümpfens über die sogenannte Nationalgeschichte
ist die Nachfrage nach süffigen Erzählungen über die Schweiz wieder erwacht -
zumindest in Teilen der Bevölkerung. So füllen etwa die Bücher des
omnipräsenten Historikers Thomas Maissen das erinnerungskulturelle Vakuum und verkaufen
sich prächtig. Das Jahr 2015, das mit 700 Jahre Morgarten, 600 Jahre Eroberung
des Aargaus, 500 Jahre Marignano und 200 Jahre Wiener Kongress einen Reigen an
Grossjubiläen bietet, befördert zudem längst ad acta gelegte Debatten über
Geschichtsmythen wieder in die öffentlichen Arenen.
Die Schlacht von Sempach: Wandbild von Karl Jauslin
Verblasste Heldensagen, NZZ, 26.5. von Marc Tribelhorn
Das Interesse an Schweizer Geschichte scheint zwar
beträchtlich, das vorhandene Wissen hingegen ist nur rudimentär. Wer sich heute
in der Sekundarschule erkundigt, wer Niklaus von Flüe oder Henry Dunant gewesen
seien, erntet meist nur erstaunte Blicke. Die Frage stellt sich unweigerlich:
Welches historische Wissen wird eigentlich in unseren Schulstuben vermittelt?
Patriotische Erziehung
Früher war der Geschichtsunterricht in der
Volksschule buchstäblich staatstragend - gerade in der vielsprachigen und
kleinteiligen Schweiz. Er sollte ein konfessionell und weltanschaulich
gespaltenes Land einen und die Schüler zu Patrioten formen. Die Nation, die
1848 aus einer bürgerkriegsähnlichen Situation entstanden war, stellte den gesellschaftlichen
Kitt vor allem aus dem Bilderarsenal der alten Eidgenossen her. Die mythisch
überhöhte mittelalterliche Gründungszeit der Eidgenossenschaft mit Tell, dem
Rütli, bösen Vögten und heroischen Schlachten spielte bis weit in den Kalten
Krieg hinein eine zentrale Rolle. Einprägsam, weil stark vereinfacht, wurde die
«Schweizergeschichte» (in einem Wort) als lineare Abfolge grosser Taten
vorbildlicher und wehrhafter Vorfahren erzählt.
Mit gestrengem Blick rollten die Lehrer im
Klassenzimmer spektakuläre Wandbilder wie jene des Basler Historienmalers Karl
Jauslin aus: Gewalthaufen, Schwurszene und glänzende Hellebarden dienten der
inneren Erbauung. Weniger Ruhmreiches - der Sonderbundskrieg, der Graben
zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft oder die Schatten des Zweiten Weltkriegs
- fanden dagegen wenig bis keine Erwähnung in der nationalen Meistererzählung.
Vermittelt wurde der «Sonderfall», für Selbstkritik blieb keine Zeit. Die
zahlreichen kantonalen Schulbücher, die allesamt die offizielle Deutung der
Geschichte verbreiteten, trugen mitunter programmatische Titel wie «Denkwürdige
Vergangenheit» oder «Wir wollen frei sein». Verfasst wurden sie in der Regel
von einem Fachhistoriker, der den Schülern eine stringente Erzählung vorlegte.
Quellenarbeit war überflüssig: Es ging in erster Linie um Identitätsstiftung
und nicht um Geschichtswissenschaft. Tempi passati.
Verdrängte Meistererzählung
In heute weitverbreiteten Lehrmitteln wie «Durch
Geschichte zur Gegenwart» oder «Menschen in Zeit und Raum» ist die klassische
Befreiungsgeschichte weitgehend ausgeklammert. Der Geschichtsunterricht hat in
der Volksschule keine staatspolitische Mission mehr und hat sich
internationalen und kulturgeschichtlichen Perspektiven geöffnet. Wer moderne
Schulgeschichtsbücher analysiert, sieht schnell, dass die einst sakrosankte
nationale Erzählung inzwischen marginalisiert und zum Teil ersatzlos gestrichen
worden ist. Ob und wie Sagenhelden wie Tell und Winkelried oder Schlachten wie
Morgarten und Marignano im Unterricht noch eine Rolle spielen, ist heute meist
von der jeweiligen Lehrperson abhängig.
Eingehend mit diesem Wandel in Schweizer
Schulbüchern befasst hat sich der Luzerner Historiker und Geschichtsdidaktiker
Markus Furrer. Laut ihm lässt sich der Bruch in der Darstellung und Vermittlung
von Geschichte seit den 1970er Jahren empirisch belegen. Fortan sei nicht mehr
die Identifikation mit dem Vaterland das Gebot der Stunde gewesen, sondern neue
didaktische Prinzipien sollten das historische Lernen fördern. Die frische Generation
von Lehrmitteln, die meist von einem Autorenkollektiv verfasst wurden, habe auf
gebündeltes und schon weitgehend gedeutetes Orientierungswissen verzichtet,
erklärt Furrer. Im Zuge von 1968 und mit der aufkommenden Sozialgeschichte war
auch die zuvor im Schulbuch praktizierte nationale Nabelschau verpönt.
Quellen und erklärende Passagen zur Weltgeschichte
lösten sich in den Darstellungen ab; die Schülerinnen und Schüler sollten
lernen, eigenständig mit Geschichte umzugehen. In der Schule werden laut Furrer
keine simplen Geschichtsbilder mehr vermittelt, sondern Zugänge zum
historischen Denken eröffnet. Man orientiere sich eng an der wissenschaftlichen
Geschichtsschreibung. Damit sind die Mythen verdrängt worden - und zwar nicht
nur die mittelalterlichen. Auch das Bild der Schweiz während des Zweiten
Weltkriegs wurde im Schulbuch längst aktualisiert, der Reduit-Mythos ist
entkräftet. Trotz diesem Paradigmenwechsel komme die Schweiz in Darstellungen
einer europäischen oder globalen Geschichte weiterhin nur isoliert vor,
konstatiert Furrer. Als habe das Land nichts mit dem Weltgeschehen zu tun. Erst
seit dem Umbruch von 1989 wird überdies das Thema Nation reflektiert statt
ignoriert.
Verlust der Eigenständigkeit
Mit der Entwicklung der Geschichtswissenschaft zu
einer Art Verunsicherungswissenschaft, die nicht mehr die Nation legitimiert,
sondern Vergangenheit wie Gegenwart kritisch hinterfragt, ist in den letzten
Jahrzehnten aber auch der Stellenwert des Fachs im Bildungskanon markant
gesunken. Im Lehrplan 21, der in der Deutschschweiz die Schulsysteme
harmonisieren soll, verschwindet die Geschichte nun sogar als eigenständiges
Schulfach. Sie wird zusammen mit Geografie und politischer Bildung im
Fachbereich «Räume, Zeiten, Gesellschaften» aufgehen. Die inhaltliche und
pensenmässige Abwertung des Fachs könnte sich jedoch dereinst rächen, darin
sind sich Historiker wie auch viele Didaktiker einig: Denn wer die
gesellschaftlichen Herausforderungen der Jetztzeit bewältigen will, verfügt
idealerweise über einen geschulten Blick für das Vergangene.
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