26. Mai 2015

Vom Wandel des Faches Geschichte

In bewegten Zeiten ist das Bedürfnis nach Orientierung stets am grössten. Nicht selten wird diese in der eigenen Geschichte gesucht: Das Wissen über die Vergangenheit soll die Pfade der Zukunft erleuchten; «historia magistra vitae», hiess es schon bei Cicero. Nach Jahren des akademischen Nasenrümpfens über die sogenannte Nationalgeschichte ist die Nachfrage nach süffigen Erzählungen über die Schweiz wieder erwacht - zumindest in Teilen der Bevölkerung. So füllen etwa die Bücher des omnipräsenten Historikers Thomas Maissen das erinnerungskulturelle Vakuum und verkaufen sich prächtig. Das Jahr 2015, das mit 700 Jahre Morgarten, 600 Jahre Eroberung des Aargaus, 500 Jahre Marignano und 200 Jahre Wiener Kongress einen Reigen an Grossjubiläen bietet, befördert zudem längst ad acta gelegte Debatten über Geschichtsmythen wieder in die öffentlichen Arenen.




Die Schlacht von Sempach: Wandbild von Karl Jauslin

Verblasste Heldensagen, NZZ, 26.5. von Marc Tribelhorn



Das Interesse an Schweizer Geschichte scheint zwar beträchtlich, das vorhandene Wissen hingegen ist nur rudimentär. Wer sich heute in der Sekundarschule erkundigt, wer Niklaus von Flüe oder Henry Dunant gewesen seien, erntet meist nur erstaunte Blicke. Die Frage stellt sich unweigerlich: Welches historische Wissen wird eigentlich in unseren Schulstuben vermittelt?
Patriotische Erziehung
Früher war der Geschichtsunterricht in der Volksschule buchstäblich staatstragend - gerade in der vielsprachigen und kleinteiligen Schweiz. Er sollte ein konfessionell und weltanschaulich gespaltenes Land einen und die Schüler zu Patrioten formen. Die Nation, die 1848 aus einer bürgerkriegsähnlichen Situation entstanden war, stellte den gesellschaftlichen Kitt vor allem aus dem Bilderarsenal der alten Eidgenossen her. Die mythisch überhöhte mittelalterliche Gründungszeit der Eidgenossenschaft mit Tell, dem Rütli, bösen Vögten und heroischen Schlachten spielte bis weit in den Kalten Krieg hinein eine zentrale Rolle. Einprägsam, weil stark vereinfacht, wurde die «Schweizergeschichte» (in einem Wort) als lineare Abfolge grosser Taten vorbildlicher und wehrhafter Vorfahren erzählt.
Mit gestrengem Blick rollten die Lehrer im Klassenzimmer spektakuläre Wandbilder wie jene des Basler Historienmalers Karl Jauslin aus: Gewalthaufen, Schwurszene und glänzende Hellebarden dienten der inneren Erbauung. Weniger Ruhmreiches - der Sonderbundskrieg, der Graben zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft oder die Schatten des Zweiten Weltkriegs - fanden dagegen wenig bis keine Erwähnung in der nationalen Meistererzählung. Vermittelt wurde der «Sonderfall», für Selbstkritik blieb keine Zeit. Die zahlreichen kantonalen Schulbücher, die allesamt die offizielle Deutung der Geschichte verbreiteten, trugen mitunter programmatische Titel wie «Denkwürdige Vergangenheit» oder «Wir wollen frei sein». Verfasst wurden sie in der Regel von einem Fachhistoriker, der den Schülern eine stringente Erzählung vorlegte. Quellenarbeit war überflüssig: Es ging in erster Linie um Identitätsstiftung und nicht um Geschichtswissenschaft. Tempi passati.

Verdrängte Meistererzählung
In heute weitverbreiteten Lehrmitteln wie «Durch Geschichte zur Gegenwart» oder «Menschen in Zeit und Raum» ist die klassische Befreiungsgeschichte weitgehend ausgeklammert. Der Geschichtsunterricht hat in der Volksschule keine staatspolitische Mission mehr und hat sich internationalen und kulturgeschichtlichen Perspektiven geöffnet. Wer moderne Schulgeschichtsbücher analysiert, sieht schnell, dass die einst sakrosankte nationale Erzählung inzwischen marginalisiert und zum Teil ersatzlos gestrichen worden ist. Ob und wie Sagenhelden wie Tell und Winkelried oder Schlachten wie Morgarten und Marignano im Unterricht noch eine Rolle spielen, ist heute meist von der jeweiligen Lehrperson abhängig.
Eingehend mit diesem Wandel in Schweizer Schulbüchern befasst hat sich der Luzerner Historiker und Geschichtsdidaktiker Markus Furrer. Laut ihm lässt sich der Bruch in der Darstellung und Vermittlung von Geschichte seit den 1970er Jahren empirisch belegen. Fortan sei nicht mehr die Identifikation mit dem Vaterland das Gebot der Stunde gewesen, sondern neue didaktische Prinzipien sollten das historische Lernen fördern. Die frische Generation von Lehrmitteln, die meist von einem Autorenkollektiv verfasst wurden, habe auf gebündeltes und schon weitgehend gedeutetes Orientierungswissen verzichtet, erklärt Furrer. Im Zuge von 1968 und mit der aufkommenden Sozialgeschichte war auch die zuvor im Schulbuch praktizierte nationale Nabelschau verpönt.
Quellen und erklärende Passagen zur Weltgeschichte lösten sich in den Darstellungen ab; die Schülerinnen und Schüler sollten lernen, eigenständig mit Geschichte umzugehen. In der Schule werden laut Furrer keine simplen Geschichtsbilder mehr vermittelt, sondern Zugänge zum historischen Denken eröffnet. Man orientiere sich eng an der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Damit sind die Mythen verdrängt worden - und zwar nicht nur die mittelalterlichen. Auch das Bild der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs wurde im Schulbuch längst aktualisiert, der Reduit-Mythos ist entkräftet. Trotz diesem Paradigmenwechsel komme die Schweiz in Darstellungen einer europäischen oder globalen Geschichte weiterhin nur isoliert vor, konstatiert Furrer. Als habe das Land nichts mit dem Weltgeschehen zu tun. Erst seit dem Umbruch von 1989 wird überdies das Thema Nation reflektiert statt ignoriert.
Verlust der Eigenständigkeit

Mit der Entwicklung der Geschichtswissenschaft zu einer Art Verunsicherungswissenschaft, die nicht mehr die Nation legitimiert, sondern Vergangenheit wie Gegenwart kritisch hinterfragt, ist in den letzten Jahrzehnten aber auch der Stellenwert des Fachs im Bildungskanon markant gesunken. Im Lehrplan 21, der in der Deutschschweiz die Schulsysteme harmonisieren soll, verschwindet die Geschichte nun sogar als eigenständiges Schulfach. Sie wird zusammen mit Geografie und politischer Bildung im Fachbereich «Räume, Zeiten, Gesellschaften» aufgehen. Die inhaltliche und pensenmässige Abwertung des Fachs könnte sich jedoch dereinst rächen, darin sind sich Historiker wie auch viele Didaktiker einig: Denn wer die gesellschaftlichen Herausforderungen der Jetztzeit bewältigen will, verfügt idealerweise über einen geschulten Blick für das Vergangene.

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