Nach oben gekämpft, NZZaS, 26.4. von Hannes Grassegger
Wenn man ein System bewahren will, dann sollte man unbedingt verhindern, dass Leute wie Marco Maurer hineinkommen. Maurer ist 35-jährig, unrasiert, trägt Hemd und Turnschuhe: ein Journalist, der eben ein rotes Buch veröffentlicht hat, auf dem eine auffällig ausgestreckte weisse Hand prangt. So wie «Hallo» oder «Stopp hier!». Darüber ein schwarzer Titel: «Du bleibst was du bist».
Grade tingelt Maurer mit einem noch etwas schüchternen Lächeln, aber blitzenden Augen durch Deutschlands Talkshows, Radiosendungen und Zeitungen. Seine Kunde: Etwas ist faul im Staate Deutschland. Dabei stützt er sich auf eine eingängige Zahlenkombination: 100-77-23. Von 100 Akademikerkindern schaffen es in Deutschland 77 auf die Universität. Von 100 Arbeiterkindern sind es 23.
Akademiker, das sind die, die mehr verdienen, länger leben, höher stehen in Rang und Status. Vor allem in Maurers Heimatland. Die drei Zahlen belegen eine sogar im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Vererbung der Ungleichheit und damit das Versagen eines zentralen Anliegens der Politik: die Herstellung der Chancengerechtigkeit. Der Möglichkeit jedes Einzelnen, sich entsprechend seiner Wünsche zu entfalten. Bereitgestellt wird dieses Gut vor allem via Bildung, dem wohl wertvollsten Gut, das Staaten zu verteilen haben.
Dass dessen Wert im Informationszeitalter steigt, haben Wohlhabende längst erkannt. Auch in der Schweiz fluten sie die teuren Privatschulen. Die Reichen hätten entdeckt, dass Bildung der beste Weg sei, um Reichtum zu vererben, erklärte kürzlich das britische Wochenmagazin «The Economist».
Das Bildungssystem bestimmt Aufbau und Struktur der Gesellschaft, die Lebenswege aller. Seine Wirkmacht ist eigentlich zu gross, um sie fassen zu können. Doch Maurers Buch ermöglicht das - weil er von seiner eigenen furiosen Bildungsvendetta erzählt. Gegen das schnelle Urteil seines einstigen Klassenlehrers. Der hatte dem elfjährigen Marco mit knappen Worten nämlich davon abgeraten, die Aufnahmeprüfung für die Realschule überhaupt zu versuchen, jenen Mittelweg im deutschen Schulsystem zwischen Gymnasium und Hauptschule. «Das schaffst du nicht», sagte er.
Maurers Schock war gewaltig. «Ich fühlte mich wie ein beschränktes, unnützes Kind, das keine Zukunft hat», erinnert er sich. Der einst selbstbewusste Dorfbub, Stürmer, Torschützenkönig sah sich mit einem übermächtigen Gegner konfrontiert, einem Chancenzuteilungs-Monster, gegen das ihm niemand helfen würde. Vor allem nicht seine Eltern, seine Mutter die Friseurin, sein Vater der Kaminfeger. Er war allein. Und versuchte es trotzdem, kämpfte sich durch Realschule und eine Lehre zum Molkereifachmann. Dann folgte das Abitur, ein Grundstudium und schliesslich das Traumstudium: Journalismus, im schweizerischen Freiburg. 24 Bildungsjahre hatte ihn der Weg dahin gekostet. Weil ihm als Arbeiterkind vom System so viele Hürden gelegt worden seien, sagt Maurer.
Wer Maurer kennenlernt, merkt, dass in ihm immer noch der Stürmer steckt, nur das Tor vor Augen. Er wurde zum x-fach ausgezeichneten Jung-Autor für angesehene Medien. Er lernte alle Tricks und Kniffe, bevor er zur Attacke überging: seine Anklage auf der Front des Stammblatts der deutschen Bildungsbürger, der Wochenzeitung «Die Zeit». Dort erzählte er die Geschichte jenes Momentes, als er all seine Diplome und Abschlüsse einpackte und an der Tür seines ehemaligen Lehrers klingelte, um ihm alles unter die Nase zu halten, was dieser fast verhindert hätte.
Die Story explodierte. Maurer wird seither geflutet mit Leserbriefen, Verlage überboten sich, um ihn für ein Buch zu gewinnen. Jetzt ist es erschienen, und es ist eine wütende Reise durch ein zutiefst ständisch denkendes Deutschland. Frauenquoten-Vorkämpfer und Liberale, Sozialdemokraten wie Konservative - alle kriegen ihr Fett ab. Es wird klar: Würde man Arbeiterkindern wie Maurer künftig die Tür zur Bildung weiter aufstossen, das ganze Land wäre ein anderes. Kürzlich übrigens hat der Bildungsrevoluzzer sich entschieden, in die Schweiz zu ziehen. Die brüstet sich ja gern mit ihrem durchlässigen Bildungssystem. Doch Maurer ist bereits auf Zahlen gestossen, die bedeuten können, dass sein Befund auch hierzulande Gültigkeit hat.
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