"Der integrative Ansatz ist nicht neu", Bild: az
Peter Gautschi ist überzeugt: "Wir brauchen das historische Denken", Basellandschaftliche Zeitung, 7.4. von Annika Bangerter
Herr Gautschi, in diesem Jahr feiert die Schweiz verschiedene
Jubiläen: 700 Jahre Schlacht am Morgarten, 500 Jahre Schlacht bei Marignano und
200 Jahre Wiener Kongress. Lernen die Schüler diese Ereignisse noch?
Peter Gautschi: Morgarten, Marignano und der Wiener Kongress kommen vor,
allerdings eingebettet in Zusammenhänge. So werden im Unterricht auch Mythen
wie die Schlacht von Morgarten thematisiert, um zu zeigen, wie die junge
Schweiz sich im 19. Jahrhundert eine Identität schuf.
Die
Schlacht von Marignano ist ein gutes Beispiel, um das Söldnerwesen oder die
Verknüpfungen der Eidgenossenschaft mit den Grossmächten in Europa zu erklären.
Und der Wiener Kongress hat grosse Auswirkungen auf das Werden der Schweiz.
Spielen Daten im Geschichtsunterricht überhaupt noch eine Rolle?
Klar.
Daten sind nach wie vor Symbole für Ereignisse und damit eigentliche
historische Fixsterne. Es ist wichtig, Ursachen, Wirkungen, Zusammenhänge eines
Ereignisses zu erkennen. Betrachten wir das Jahr 1815 mit dem Wiener Kongress,
dann ist es ein Kristallisationspunkt für die Neuordnung von Europa.
Deshalb
müssen die Schüler gewisse Zahlen als Abkürzungen für ganze Geschichten kennen.
Es bringt aber nichts, wenn sie Zahlen isoliert lernen.
Im Lehrplan 21 geht das Fach Geschichte im Fachbereich «Räume,
Zeiten, Gesellschaften» auf. Stehen Ihnen als Geschichtsdidaktiker nicht alle
Haare zu Berge?
Doch
(lacht). Allerdings sind wenigstens die Kompetenzbereiche im Lehrplan 21 bei
«Räume, Zeiten, Gesellschaften» eindeutig fachorientiert: Vier Bereiche
beziehen sich auf Geografie und vier auf Geschichte.
Seit
klar ist, dass die Reform diese Fachorientierung postuliert, schaue ich dem
Lehrplan 21 gelassener entgegen. Aber es stimmt, dass Geschichte kein eigenes
Schulfach ist. Das ist auch ein Ausdruck des Problems, das Pädagogen seit
langem weltweit beschäftigt: Wie teilen wir das Wissenswerte in Schulfächer
auf?
Werden in anderen Ländern die Fächer Geschichte oder
Geografie bereits gemeinsam unterrichten?
Ja,
dieser integrative Ansatz ist nicht neu. Es stellt sich für jede Schulstufe die
Frage, ob wir uns bei der Gliederung der Schulfächer an der Lebenswelt oder an
der Wissenschaft orientieren.
Im
deutschsprachigen Raum war Hessen ein Vorreiter der Lebensweltorientierung auf
der Sekstufe I und bot Gesellschaftslehre als integriertes Fach an. Inzwischen
ist Hessen wieder stärker zur Wissenschaftsorientierung und somit zum Fach
Geschichte zurückgekehrt.
Was sind Gründe für diese Umkehr?
Wie
fast alle Veränderungen im Schulwesen der letzten Jahre hat auch Hessen dies
mit den Pisa-Studien begründet. Die Schweiz zog ebenfalls aufgrund der
Pisa-Resultate ihre Konsequenzen – mit dem Lehrplan 21 werden die Kompetenzen
und der integrative Ansatz gestärkt. Mit den gleichen Resultaten wird ganz
Unterschiedliches gemacht: Die einen integrieren und schaffen neue
Fachbereiche, die andern stärken die Fächer.
Das klingt nicht nach einer Lösung.
Ich
gehe davon aus, dass wir einen ähnlichen Weg wie etwa die Vereinigten Staaten
einschlagen werden. Dabei haben Lebensweltorientierung und
Wissenschaftsorientierung – also Gesellschaftskunde und Geschichte – im
gleichen Schulsystem Platz.
Es
gilt hier auch zu beachten, dass der Lehrplan 21 den einzelnen Kantonen,
Schulen und Lehrpersonen weiterhin Gestaltungsspielraum gibt. Sie entscheiden,
ob sie Geografie und Geschichte getrennt oder integriert unterrichten oder ob
sie beide Varianten zulassen. Hauptsache, die Schüler erreichen die geforderten
Kompetenzen.
Es ist doch das Ziel, ein einheitliches System einzuführen?
Gleiche
Grundansprüche für alle Schüler – das ja! Aber der Weg dorthin ist relativ
offen. Hier spielen die Lehrmittel eine entscheidende Rolle. Einige Verlage
werden sich klar an der Geschichte als Einzelfach orientieren, andere werden
vermutlich versuchen, so etwas wie ein Integrationsfach hinzubekommen. Ich gehe
davon aus, dass die meisten Kantone, Schulen und Lehrpersonen denjenigen Weg
wählen, den sie schon jetzt umgesetzt haben.
Wir halten also an Bestehendem fest?
Ja
und nein: Es gibt bewährte Wege, aber neue gemeinsame Ziele. Jetzt richten sich
in der Deutschschweiz alle Kantone an den neuen und gemeinsamen Kompetenzen des
Lehrplans 21 aus. Diese sind erstmals vereinheitlicht. Im Bereich der
Geschichte sind zwölf Grundansprüche definiert worden.
Was für neue Grundansprüche gibt es mit dem Lehrplan 21?
Neu
werden Aspekte der Geschichtskultur unterrichtet. Damit reagiert die
Volksschule auf den Umstand, dass es noch nie so viel Geschichte wie heute gab.
Im Kino, in Romanen, in Comics oder gar in der Popmusik: Überall ist Geschichte
präsent.
Die
Kinder und Jugendlichen sollen lernen, wie sie mit dieser Geschichte in ihrer
Umgebung umgehen können. Ein Ziel ist zum Beispiel, dass sie bei einem
Spielfilm wie jenem über den Medicus hinterfragen, was historisch verbürgt und
was erfunden ist.
Das sind hohe Ansprüche.
Wenn
man einen Film schaut und hineingezogen wird, passieren historische
Kurzschlüsse sofort. Geschichte ist oft beste Unterhaltung und macht Spass.
Auch das soll die Schule vermitteln. Indem die Schule den Film mit einer Quelle
anreichert, erhalten die Kinder und Jugendlichen eine zusätzliche Perspektive.
Sobald
sie Film und Quelle vergleichen und fragen ‹Wieso gibt es bei den beiden
Erzählungen so grosse Unterschiede?›, ist schon viel gewonnen.
Sie selber arbeiteten als Geschichtsdidaktiker am Lehrplan 21.
Sind Sie mit dem Erreichten zufrieden?
Im
Grundlagenbericht waren die Vorgaben für das Fach Geschichte unbefriedigend.
Inzwischen bin ich einigermassen zufrieden, wie wir auf der Ebene der
Kompetenzbereiche die Fachlichkeit retten konnten. Ich bin aber überzeugt, dass
Geschichte über kurz oder lang in unserem Schulsystem wieder eine grössere
Rolle spielen wird.
Weshalb?
Im
Lehrplan 21 ist das Fach deutlich unter seinem gesellschaftlichen Wert
eingestuft. Um das zu erkennen, reicht ein Blick in die Westschweiz und
natürlich nach Europa oder Asien. Je mehr eine Gesellschaft ihre Identität und
neue Wege sucht, umso stärker schaut sie in die Vergangenheit.
Um
die immer grösser werdenden gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen,
brauchen wir historisches Denken. Von daher bin ich zuversichtlich, dass nach
der nächsten Lehrplanrevision Geschichte wieder ein eigenständiges Fach ist.
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