10. März 2015

Stadt Bern weicht Schulpflicht für Jenische auf

Um "Vertrauen zu schaffen", soll das Schulschwänzen nicht mehr in jedem Fall bestraft werden. 

Trennen statt integrieren - Teuscher weicht Schulpflicht für Jenische auf, Bund, 10.3. von Niklas Zimmermann

Als «gescheitert» bezeichnet Irene Hänsenberger die Versuche, jenische Eltern zur Einhaltung der Schulpflicht zu zwingen. Statt sie mit Bussen zu bestrafen, will die Stadt Bern die Fahrenden künftig motivieren, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Ab August werden im Schulhaus Stapfenacker in Bümpliz – das in der Nähe des Standplatzes Buech liegt – neuerdings zwei Speziallehrkräfte angestellt, wie die «SonntagsZeitung» berichtete. Sie sollen den Kindern getrennt vom regulären Unterricht Förderunterricht erteilen.
«Wir wollen den Fahrenden nicht ihre Kultur wegnehmen», sagt Irene Hänsenberger, Leiterin des städtischen Schulamts – aber unbedingt müsse verhindert werden, dass die Kinder von der Sozialhilfe lebten. Hintergrund der Massnahme ist, dass einige ­Jenische bereits seit Jahren trotz Strafmassnahmen ihre Kinder nicht regelmässig in die Schule schickten.
«Erhebliche Unterschiede»
Zudem: Im Stapfenacker führte es immer wieder zu Reibereien, wenn die Jenischen im Oktober wieder in ihre Regelklasse zurückkehrten, sagt der städtische Schulinspektor Peter Hänni. Als «erheblich» bezeichnet Hänni den Rückstand der Jenischen – welche von März bis Oktober generell von der Schulpflicht befreit sind. Mit teilweise getrenntem Unterricht wolle man beiden Bevölkerungsgruppen besser gerecht werden. Künftig sollen die Kinder der ­Jenischen acht bis zwölf Stunden die Woche in sogenannten «Lernateliers» unterrichtet werden. Der Schwerpunkt des Spezialunterrichts liegt im Schreiben, Rechnen und Französisch. «Mit diesen elementaren Dingen sollen Kinder für ihr künftiges Leben fit gemacht werden», sagt Hänni.
Wenn die Fahrenden im Sommer auf Reisen sind – kümmern sich die beiden neuen Lehrkräfte darum, dass die Schule nicht aussen vor bleibt. Wenn die Eltern einverstanden sind, würden die Kinder im Fernunterricht betreut. Laut Hänni haben dies einzelne jenische Familien explizit gewünscht.
Mit den Lernateliers für Fahrende beschreitet die Stadt Bern neue Wege. Konkrete Vorbilder gebe es keine, sagt Schulamtleiterin Hänsenberger. Zuversichtlich stimme sie der Elternabend, welcher kürzlich im Schulhaus Stapfenacker durchgeführt wurde. Die jenischen Eltern, welche dabei waren, hätten grosses Interesse gezeigt, sagt sie.
2005 vereinbarte die Stadt mit den Fahrenden, dass sie ihre Kinder von Oktober bis Februar in die Schule im Stapfenacker schickten. Laut der Schulamtleiterin gibt es zwar keine Eltern, welche ihre Kinder nie zur Schule schickten – sie nähmen es mit der Präsenz aber nicht genau. Oft seien die Schüler gleich für drei Wochen «krank» oder bei Verwandten im Wallis, beschreibt ein an den Lern­ateliers Beteiligter die Problematik.
Das System «stösst an Grenzen»
Zwangsmassnahmen seien jedoch «belastend für das Vertrauensverhältnis» zwischen der Schule und den Jenischen, sagt Schulinspektor Hänni. Nun versuche man, «das Vertrauen neu aufzubauen». Die Schule müsse bei Abwesenheiten der Kinder nicht mehr unbedingt eine Anzeige erstatten. Bisher sei dies in jedem Fall so gewesen, sagt er.
Mit der Toleranz gegenüber Schulschwänzern setzt sich Bern von anderen Städten ab – und erntet Kritik. Nur weil einzelne Straftäter rückfällig werden, schafft man nicht das Strafrecht ab, ­zitiert die «SonntagsZeitung» den Leiter des Schulamts in Zürich. Von einer Abschaffung der Schulpflicht könne aber keine Rede sein, sagt Sven Baumann, Generalsekretär der Stadtberner Bildungsdirektion. Bei den Allermeisten würden die Bussen wirken, so Baumann – doch hier habe man es mit einer Bevölkerungs­gruppe zu tun, «bei der wir mit unserem System an die Grenzen stossen.»
Franziska Teuscher (GB), Bildungs­direktorin der Stadt Bern, wollte gegenüber dem «Bund» keine Stellung dazu nehmen, ob das neue Projekt mit der Schulpflicht wirklich vereinbar ist; und inwiefern der getrennte Unterricht der Integrationspolitik der Stadt entspricht. 


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