31. Januar 2015

Sozialer Aufstieg mit Bildung

Wer Albaner und Muslim ist, hat in der Schweiz ein doppeltes Imageproblem. Gute Bildung ist gerade für junge Muslime der Schlüssel zum sozialen Aufstieg.
"Willst du später Knöpfe an einer Maschine drücken?", NZZ, 31.1. von Simon Hehli


«Was passiert, wenn dein Vater zu schnell mit dem Auto fährt?», fragt der Lehrer Lavdrim. Die zwölfjährige Harisa kichert und sagt, dann komme die Polizei. Und wenn jemand etwas richtig Schlimmes anstellt? Harisa zögert, dann fällt es ihr ein: «Er muss vors Gericht.» Es ist die wöchentliche Nachhilfestunde in der Moschee der St. Galler Kleinstadt Wil. Der 20-jährige Lavdrim Osmani erklärt der Sechstklässlerin, was die Judikative ist. Auf ihrem Aufgabenblatt über die drei Gewalten auf Stufe Gemeinde, Kanton und Bund streicht Harisa pflichtbewusst alles mit blauem Leuchtstift an, was sie für wichtig hält. Also fast alles.
Acht Buben und fünf Mädchen sind an diesem Mittwochabend in die Räumlichkeiten der albanisch geprägten muslimischen Gemeinschaft gekommen. Drei ehrenamtliche Nachhilfelehrer und zwei -lehrerinnen kümmern sich um sie. Alle haben sie ihre Schuhe im Eingangsbereich aufgereiht und huschen in Socken über die uni-violetten Teppiche. Ein zehnjähriger Bub hockt alleine an einem Tisch, vertieft in seinen Detektivroman, «Kwiatowski: Rache ist Schokotorte». Die Lehrerin Zgjime Kasami, 20 Jahre alt, setzt sich zu ihm, er liest ihr vor, stockt, stolpert über das Wort «Nachbartisch». Dort sitzt Blerta Kamberi und hilft zwei 14-Jährigen bei Geometrieaufgaben. In ihrem hellen Ostschweizer Dialekt erklärt sie die Winkelberechnungen. Alle sprechen Schweizerdeutsch, das diese Secondo-Generation besser beherrscht als das Albanisch ihrer Eltern.
Jetmir Bejtulai steht vor einer weissen Wandtafel und zeichnet Zahlen und Striche. Was ist die Wurzel von 9? Die drei Realschüler schauen ratlos drein. Einer fragt, wieso er überhaupt Mathematik pauken muss, und mault: «Der Facebook-Gründer ist doch auch ohne Studium reich geworden.» Bejtulai lächelt. «Ohne lernen kommst du nicht weit im Leben. Willst du später einen Job haben, bei dem du nur die Knöpfe einer Maschine drückst? Sieh mich an, ich bin 34 und lerne immer noch.»
«Wir wollen Blockaden lösen»
Bejtulai ist Maschineningenieur. Zgjime Kasami besucht die höhere Fachschule für Pflege. Blerta Kamberi studiert Jura in Zürich. Amir Muaremi, der die Jugendarbeit der Moschee leitet, hat gar einen Doktor in Elektrotechnik. Dies zu betonen, ist ihnen wichtig. Denn sie wissen: Der soziale Aufstieg führt über die Bildung. «Wir haben gemerkt, dass das Bildungsniveau der Kinder häufig tief ist», sagt Bejtulai, der für die Nachhilfestunden zuständig ist. Die religiöse Gemeinschaft springt ein, wo Eltern an Grenzen stossen - häufig sind es einfache Arbeiter, die einst aus Mazedonien und Kosovo einwanderten. «Wir wollen Blockaden lösen und den Jungen helfen, sich als vollwertige Mitglieder in die Gesellschaft zu integrieren», sagt Bejtulai. Zgjime Kasami kam mit zwei Jahren aus Mazedonien in die Schweiz. Nach ihrer Motivation gefragt, antwortet sie: «Ich war froh, wenn mir jemand geholfen hat beim Französisch-Vokabular oder bei einer Bewerbung. Das möchte ich nun weitergeben.»
Der Nachhilfeunterricht ist eingebettet in das religiöse Leben in der albanischen Gemeinschaft, die Mädchen und Buben gehen am Sonntag auch in den Religionsunterricht bei Imam Bekim Alimi. Um 19 Uhr strömen erwachsene Mitglieder der Gemeinde in die Moschee, es ist Zeit für das Abendgebet. Auch die drei Lehrer und die männlichen Jugendlichen gehen durch die Tür in den Gebetssaal. Nach Mekka ausgerichtet, beten die Männer zuerst still für sich, einer der Nachhilfeschüler spielt mit seinem Handy. Dann reihen sich alle auf und sprechen auf Arabisch die Fatiha, die erste Sure des Korans: «Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes: Lob sei Gott, dem Herrn der Welten, dem Barmherzigen und Gnädigen, der am Tag des Gerichts regiert!» Die Schüler stehen in der hintersten Reihe und murmeln die Worte in der für sie fremden Sprache mit.
Währenddessen arbeiten die beiden Lehrerinnen mit den Mädchen weiter am Schulstoff. Normalerweise würden sie im Nebenraum ebenfalls beten, aber wegen des Besuchs habe sie sich dagegen entschieden. Das Gebet können sie später zu Hause nachholen. Diskriminiert durch die räumliche Trennung von den Männern fühlen sich Blerta Kamberi und Zgjime Kasami nicht. «Es gibt bei uns im Verein sonst keine Geschlechtertrennung», sagt Kamberi. Das Kopftuch tragen die beiden Frauen nur in der Moschee.
Keine Kultur des Fanatismus
Bildung hat im Islam eine lange Tradition. «Lies!», habe der Erzengel Gabriel dem Propheten Mohammed befohlen, sagt Imam Alimi. «Wer etwas lernt über die Welt, kann sich eine eigene Meinung bilden - das ist ein Schutz gegen die Radikalisierung», betont auch Jetmir Bejtulai. Die Albaner aus Mazedonien und Kosovo, welche die grösste muslimische Gruppe in der Schweiz bilden, gelten als gemässigt. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die Religion im sozialistischen Jugoslawien eine untergeordnete Rolle spielte. Andererseits leitet sich die länderübergreifende albanische Identität aus historischen Gründen nicht in erster Linie von der Religion ab; denn zur ethnischen Gemeinschaft zählen auch orthodoxe und katholische Christen. «Die Albaner haben nie Glaubenskriege gegeneinander geführt», sagt Alimi. «Uns ist aller religiöser Fanatismus fremd.»
Damit der Nachwuchs auch sonst nicht auf die schiefe Bahn gerät, gibt es neben dem Nachhilfeunterricht noch weitere Freizeitangebote. Im Winter können die jungen Männer jeden zweiten Samstagabend in einer Halle Fussball spielen, im Sommer jede Woche auf dem Rasen. «Das ist besser, als wenn sie am Bahnhof rumhängen», sagt Imam Alimi. Regelmässig organisieren die jungen Moschee-Mitglieder ein Fussballturnier für Schüler - in jedem Team müssen auch Mädchen mitspielen. Als Belohnung für das Engagement gibt es einmal im Jahr eine Reise in ein Zentrum der islamischen Kultur, zuletzt nach Sarajevo, Istanbul oder Medina und Mekka. «Es ist wichtig, dass unsere Jungen ihre Wurzeln kennenlernen», findet Alimi.
Freizeit mit Gleichgesinnten
Die Aktivitäten muslimischer Jugendgruppen unterscheiden sich nicht wesentlich von jenen kirchlicher Organisationen wie CVJM oder Jungwacht/Blauring. Das haben Islamforscher der Universität Luzern in ihrer Studie «Jung, muslimisch, schweizerisch» festgestellt. Im Vordergrund stehen überall die Geselligkeit und die Freude an Sport, Spiel und gemeinsamen Ausflügen. Einen Unterschied gibt es allerdings: Die muslimischen Jugendgruppen ermöglichen es ihren Mitgliedern, die häufig im schulischen oder beruflichen Umfeld in der Minderheit sind, Zeit unter Gleichgesinnten zu verbringen. «Als hilfreich empfinden die Mitglieder nicht nur den weitgehend feststehenden Grundkonsens in vielen Fragen islamischer Praxis, sondern auch die Möglichkeit, hier Fragen, die sich im Alltag in der Gruppe ergeben, unter islamischen Vorzeichen zu diskutieren», steht in der Luzerner Studie. Mit anderen Worten: Niemand wird hier schief angeschaut, weil er keinen Alkohol trinkt.
Die Jugendgruppe der Wiler Moschee und die islamische Gemeinschaft wirken jedoch auch nach aussen. Letztes Jahr spendeten die Jugendlichen im Rahmen des islamischen Opferfestes Blut. Die Frauengruppe, die Blerta Kamberi leitet, organisiert Podiumsdiskussionen zur Rolle der Frauen im Islam. Alimi ist einer der Vorzeige-Imame der Schweiz, seit 9/11 hat er 589 öffentliche Auftritte gezählt. «Unsere Aktivitäten sprechen für uns», sagt Jetmir Bejtulai. «Wir köcheln nicht unsere eigene Suppe, sondern öffnen uns gegenüber der Gesellschaft.» Die Charmeoffensive scheint gewirkt zu haben. Selbst der in Wil wohnende SVP-Nationalrat und häufig zitierte Islamkritiker Lukas Reimann räumt ein: «Wenn alle Muslime so wären, hätten wir womöglich weniger Probleme mit dem Islam in der Schweiz.»
2006 waren die Töne weniger versöhnlich gewesen, als Bekim Alimi den Traum der Gemeinschaft von einer neuen Wiler Moschee inklusive Gebets-Turm öffentlich aussprach. Die - auch durch die Wiler Kontroverse ausgelöste - Minarettinitiative machte diese Pläne zwar 2009 zunichte. Doch Alimi und seine Mitstreiter wollen weiterhin ein neues Begegnungszentrum bauen, um den engen Platzverhältnissen im gesichtslosen Industriegebäude entfliehen zu können. Das Land ist gekauft, die Finanzierung steht, die Stadt Wil und das Kantonsgericht haben zugestimmt. Mehrere Anwohner versuchen jedoch weiterhin, das Projekt zu stoppen. Das St. Galler Verwaltungsgericht wird in den nächsten Wochen über die Rekurse entscheiden.
Nur nicht vor Bundesgericht

Für die Kinder sind die juristischen Händel an diesem Mittwochabend weit weg. Das Abendgebet ist nach 20 Minuten vorbei, die Schüler können sich noch eine Viertelstunde ihren Aufgaben widmen. Dann erhalten sie einen Stempel in ihr Anwesenheitsheft. Auch Harisa packt ihr Arbeitsblatt zu den drei Gewalten im Staat ein. Das Wort «Bundesgericht» hat sie blau hervorgehoben. Für die Zwölfjährige ist der Begriff ziemlich abstrakt. Bei den Erwachsenen hingegen ruft er Unbehagen hervor: Dass auch noch die Lausanner Richter über ihre neue Moschee befinden müssen - das hofft hier niemand.

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