"Willst du später Knöpfe an einer Maschine drücken?", NZZ, 31.1. von Simon Hehli
«Was passiert, wenn dein Vater zu schnell mit dem
Auto fährt?», fragt der Lehrer Lavdrim. Die zwölfjährige Harisa kichert und
sagt, dann komme die Polizei. Und wenn jemand etwas richtig Schlimmes anstellt?
Harisa zögert, dann fällt es ihr ein: «Er muss vors Gericht.» Es ist die
wöchentliche Nachhilfestunde in der Moschee der St. Galler Kleinstadt Wil. Der
20-jährige Lavdrim Osmani erklärt der Sechstklässlerin, was die Judikative ist.
Auf ihrem Aufgabenblatt über die drei Gewalten auf Stufe Gemeinde, Kanton und
Bund streicht Harisa pflichtbewusst alles mit blauem Leuchtstift an, was sie
für wichtig hält. Also fast alles.
Acht Buben und fünf Mädchen sind an diesem
Mittwochabend in die Räumlichkeiten der albanisch geprägten muslimischen
Gemeinschaft gekommen. Drei ehrenamtliche Nachhilfelehrer und zwei -lehrerinnen
kümmern sich um sie. Alle haben sie ihre Schuhe im Eingangsbereich aufgereiht
und huschen in Socken über die uni-violetten Teppiche. Ein zehnjähriger Bub
hockt alleine an einem Tisch, vertieft in seinen Detektivroman, «Kwiatowski:
Rache ist Schokotorte». Die Lehrerin Zgjime Kasami, 20 Jahre alt, setzt sich zu
ihm, er liest ihr vor, stockt, stolpert über das Wort «Nachbartisch». Dort
sitzt Blerta Kamberi und hilft zwei 14-Jährigen bei Geometrieaufgaben. In ihrem
hellen Ostschweizer Dialekt erklärt sie die Winkelberechnungen. Alle sprechen
Schweizerdeutsch, das diese Secondo-Generation besser beherrscht als das
Albanisch ihrer Eltern.
Jetmir Bejtulai steht vor einer weissen Wandtafel
und zeichnet Zahlen und Striche. Was ist die Wurzel von 9? Die drei Realschüler
schauen ratlos drein. Einer fragt, wieso er überhaupt Mathematik pauken muss,
und mault: «Der Facebook-Gründer ist doch auch ohne Studium reich geworden.»
Bejtulai lächelt. «Ohne lernen kommst du nicht weit im Leben. Willst du später
einen Job haben, bei dem du nur die Knöpfe einer Maschine drückst? Sieh mich
an, ich bin 34 und lerne immer noch.»
«Wir wollen Blockaden lösen»
Bejtulai ist Maschineningenieur. Zgjime Kasami
besucht die höhere Fachschule für Pflege. Blerta Kamberi studiert Jura in
Zürich. Amir Muaremi, der die Jugendarbeit der Moschee leitet, hat gar einen
Doktor in Elektrotechnik. Dies zu betonen, ist ihnen wichtig. Denn sie wissen:
Der soziale Aufstieg führt über die Bildung. «Wir haben gemerkt, dass das
Bildungsniveau der Kinder häufig tief ist», sagt Bejtulai, der für die
Nachhilfestunden zuständig ist. Die religiöse Gemeinschaft springt ein, wo
Eltern an Grenzen stossen - häufig sind es einfache Arbeiter, die einst aus
Mazedonien und Kosovo einwanderten. «Wir wollen Blockaden lösen und den Jungen
helfen, sich als vollwertige Mitglieder in die Gesellschaft zu integrieren»,
sagt Bejtulai. Zgjime Kasami kam mit zwei Jahren aus Mazedonien in die Schweiz.
Nach ihrer Motivation gefragt, antwortet sie: «Ich war froh, wenn mir jemand
geholfen hat beim Französisch-Vokabular oder bei einer Bewerbung. Das möchte
ich nun weitergeben.»
Der Nachhilfeunterricht ist eingebettet in das
religiöse Leben in der albanischen Gemeinschaft, die Mädchen und Buben gehen am
Sonntag auch in den Religionsunterricht bei Imam Bekim Alimi. Um 19 Uhr strömen
erwachsene Mitglieder der Gemeinde in die Moschee, es ist Zeit für das
Abendgebet. Auch die drei Lehrer und die männlichen Jugendlichen gehen durch
die Tür in den Gebetssaal. Nach Mekka ausgerichtet, beten die Männer zuerst
still für sich, einer der Nachhilfeschüler spielt mit seinem Handy. Dann reihen
sich alle auf und sprechen auf Arabisch die Fatiha, die erste Sure des Korans:
«Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes: Lob sei Gott, dem Herrn der
Welten, dem Barmherzigen und Gnädigen, der am Tag des Gerichts regiert!» Die
Schüler stehen in der hintersten Reihe und murmeln die Worte in der für sie
fremden Sprache mit.
Währenddessen arbeiten die beiden Lehrerinnen mit
den Mädchen weiter am Schulstoff. Normalerweise würden sie im Nebenraum
ebenfalls beten, aber wegen des Besuchs habe sie sich dagegen entschieden. Das
Gebet können sie später zu Hause nachholen. Diskriminiert durch die räumliche
Trennung von den Männern fühlen sich Blerta Kamberi und Zgjime Kasami nicht.
«Es gibt bei uns im Verein sonst keine Geschlechtertrennung», sagt Kamberi. Das
Kopftuch tragen die beiden Frauen nur in der Moschee.
Keine Kultur des Fanatismus
Bildung hat im Islam eine lange Tradition. «Lies!»,
habe der Erzengel Gabriel dem Propheten Mohammed befohlen, sagt Imam Alimi.
«Wer etwas lernt über die Welt, kann sich eine eigene Meinung bilden - das ist
ein Schutz gegen die Radikalisierung», betont auch Jetmir Bejtulai. Die Albaner
aus Mazedonien und Kosovo, welche die grösste muslimische Gruppe in der Schweiz
bilden, gelten als gemässigt. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die
Religion im sozialistischen Jugoslawien eine untergeordnete Rolle spielte.
Andererseits leitet sich die länderübergreifende albanische Identität aus
historischen Gründen nicht in erster Linie von der Religion ab; denn zur
ethnischen Gemeinschaft zählen auch orthodoxe und katholische Christen. «Die
Albaner haben nie Glaubenskriege gegeneinander geführt», sagt Alimi. «Uns ist
aller religiöser Fanatismus fremd.»
Damit der Nachwuchs auch sonst nicht auf die
schiefe Bahn gerät, gibt es neben dem Nachhilfeunterricht noch weitere
Freizeitangebote. Im Winter können die jungen Männer jeden zweiten Samstagabend
in einer Halle Fussball spielen, im Sommer jede Woche auf dem Rasen. «Das ist
besser, als wenn sie am Bahnhof rumhängen», sagt Imam Alimi. Regelmässig
organisieren die jungen Moschee-Mitglieder ein Fussballturnier für Schüler - in
jedem Team müssen auch Mädchen mitspielen. Als Belohnung für das Engagement
gibt es einmal im Jahr eine Reise in ein Zentrum der islamischen Kultur,
zuletzt nach Sarajevo, Istanbul oder Medina und Mekka. «Es ist wichtig, dass
unsere Jungen ihre Wurzeln kennenlernen», findet Alimi.
Freizeit mit Gleichgesinnten
Die Aktivitäten muslimischer Jugendgruppen
unterscheiden sich nicht wesentlich von jenen kirchlicher Organisationen wie
CVJM oder Jungwacht/Blauring. Das haben Islamforscher der Universität Luzern in
ihrer Studie «Jung, muslimisch, schweizerisch» festgestellt. Im Vordergrund
stehen überall die Geselligkeit und die Freude an Sport, Spiel und gemeinsamen
Ausflügen. Einen Unterschied gibt es allerdings: Die muslimischen Jugendgruppen
ermöglichen es ihren Mitgliedern, die häufig im schulischen oder beruflichen
Umfeld in der Minderheit sind, Zeit unter Gleichgesinnten zu verbringen. «Als
hilfreich empfinden die Mitglieder nicht nur den weitgehend feststehenden
Grundkonsens in vielen Fragen islamischer Praxis, sondern auch die Möglichkeit,
hier Fragen, die sich im Alltag in der Gruppe ergeben, unter islamischen
Vorzeichen zu diskutieren», steht in der Luzerner Studie. Mit anderen Worten:
Niemand wird hier schief angeschaut, weil er keinen Alkohol trinkt.
Die Jugendgruppe der Wiler Moschee und die
islamische Gemeinschaft wirken jedoch auch nach aussen. Letztes Jahr spendeten
die Jugendlichen im Rahmen des islamischen Opferfestes Blut. Die Frauengruppe,
die Blerta Kamberi leitet, organisiert Podiumsdiskussionen zur Rolle der Frauen
im Islam. Alimi ist einer der Vorzeige-Imame der Schweiz, seit 9/11 hat er 589
öffentliche Auftritte gezählt. «Unsere Aktivitäten sprechen für uns», sagt
Jetmir Bejtulai. «Wir köcheln nicht unsere eigene Suppe, sondern öffnen uns
gegenüber der Gesellschaft.» Die Charmeoffensive scheint gewirkt zu haben.
Selbst der in Wil wohnende SVP-Nationalrat und häufig zitierte Islamkritiker
Lukas Reimann räumt ein: «Wenn alle Muslime so wären, hätten wir womöglich
weniger Probleme mit dem Islam in der Schweiz.»
2006 waren die Töne weniger versöhnlich gewesen,
als Bekim Alimi den Traum der Gemeinschaft von einer neuen Wiler Moschee
inklusive Gebets-Turm öffentlich aussprach. Die - auch durch die Wiler
Kontroverse ausgelöste - Minarettinitiative machte diese Pläne zwar 2009
zunichte. Doch Alimi und seine Mitstreiter wollen weiterhin ein neues
Begegnungszentrum bauen, um den engen Platzverhältnissen im gesichtslosen
Industriegebäude entfliehen zu können. Das Land ist gekauft, die Finanzierung
steht, die Stadt Wil und das Kantonsgericht haben zugestimmt. Mehrere Anwohner
versuchen jedoch weiterhin, das Projekt zu stoppen. Das St. Galler
Verwaltungsgericht wird in den nächsten Wochen über die Rekurse entscheiden.
Nur nicht vor Bundesgericht
Für die Kinder sind die juristischen Händel an diesem
Mittwochabend weit weg. Das Abendgebet ist nach 20 Minuten vorbei, die Schüler
können sich noch eine Viertelstunde ihren Aufgaben widmen. Dann erhalten sie
einen Stempel in ihr Anwesenheitsheft. Auch Harisa packt ihr Arbeitsblatt zu
den drei Gewalten im Staat ein. Das Wort «Bundesgericht» hat sie blau
hervorgehoben. Für die Zwölfjährige ist der Begriff ziemlich abstrakt. Bei den
Erwachsenen hingegen ruft er Unbehagen hervor: Dass auch noch die Lausanner
Richter über ihre neue Moschee befinden müssen - das hofft hier niemand.
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