Neuenschwander: "Vorwürfe, man könne Schulabgänger nicht brauchen, gab es schon immer".
"Der Lehrling muss lernen - der Betrieb produzieren", Aargauer Zeitung, 30.1. von Hans Fahrländer
Herr Neuenschwander, der Unternehmer und
Berufsschulpräsident Markus Möhl klagte in dieser Zeitung, das Bildungssystemhabe sich vom Markt wegentwickelt. Volksschulbildung werde zum sinnentleerten
Selbstzweck, wenn sie in der Wirtschaft nicht nutzbar sei.
Markus
Neuenschwander: Es fragt sich, ob das Bildungs- und das
Wirtschaftssystem den gleichen Zweck verfolgen. Natürlich muss die Schule auch
auf die Berufswelt vorbereiten. Aber nicht nur. Sie muss aus den Kindern und
Jugendlichen Menschen formen, die in der heutigen Welt und Gesellschaft
bestehen können. Und sie muss sie so bilden, dass sie an der Gestaltung des
Staatswesens verantwortungsvoll mitwirken können. Die Vorwürfe, man könne die
Volksschulabgänger nicht «brauchen», sind übrigens nicht neu, es gab sie schon
immer.
Aber der Lehrlingsausbildner Möhl sagt, den
heutigen Volksschulabgängern fehle es an den «Basics» im
Lesen, Schreiben, Rechnen. Kann man die Leistungen der Jugendlichen mit früher vergleichen? Sind sie wirklich schlechter geworden?
Lesen, Schreiben, Rechnen. Kann man die Leistungen der Jugendlichen mit früher vergleichen? Sind sie wirklich schlechter geworden?
Das zuverlässigste
Instrument, um das zu messen, ist die Pisa-Studie. Sie sagt: Die
durchschnittlichen Leistungen der Schweizer Jugendlichen im Lesen und Rechnen
sind in den letzten 15 Jahren im internationalen Vergleich besser geworden.
Schüler wissen heute mehr, aber in anderen Bereichen. Klar ist: Die
Anforderungen an die Jugendlichen sind gestiegen. Die Gesellschaft schanzt der
Schule immer mehr Aufgaben zu, dies bei gleichbleibender Lektionenzahl. Früher
mussten die Schüler gut sein im Kopfrechnen. Heute müssen sie auch verstehen,
logisch denken können. Immer wichtiger werden zudem – gerade auch für die
berufliche Grundbildung – überfachliche Kompetenzen: die Selbstständigkeit, die
Teamfähigkeit, die Konzentrationsfähigkeit.
Auch die Anforderungen in der Lehre und im
Beruf sind gestiegen. Kommt die Unzufriedenheit vieler Lehrmeister vielleicht
aus einer falschen Erwartung heraus?
Ich vermute es.
Der Rentabilitätsdruck in den Firmen ist gestiegen. Lehrlinge sind zuerst eine
Belastung, werden erst mit der Zeit zur Entlastung. Sie kosten zu Beginn vor
allem Zeit. Lehrlinge können am Anfang noch nicht so viel. Gut sein müssen sie
an der Abschlussprüfung. Wer meint, man könne den Lehrling vom ersten Tag an
brauchen, überfordert ihn. Der junge Mensch muss lernen, der Betrieb muss
produzieren – da bleibt immer eine Differenz.
Sind viele Jugendliche vielleicht in der
falschen Lehre?
Nein. Wir haben
aus Forschungsprojekten verschiedene Hinweise, dass der Berufswahlprozess in
der Regel erfolgreich ist. Das heisst konkret, die meisten Jugendlichen finden
einen passenden Beruf. Je mehr der gewählte Beruf zu den Interessen und
Fähigkeiten passt, desto eher gelingt die berufliche Sozialisation im ersten
Lehrjahr.
Gemäss Pisa ist im Aargau die Zahl derer, die kaum
das unterste Leistungsniveau erreichen, überdurchschnittlich gross. Haben wir
es bei den angeblich gravierenden Wissenslücken allenfalls mit einem
aargauischen Phänomen zu tun?
aargauischen Phänomen zu tun?
Das ist
möglich. Ich habe eine vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Studie
geleitet. Darin ging es um Wirkungen der Selektion zur Leistungsentwicklung
beim Übergang in die Sekundarstufe I. Mitgemacht haben die Kantone Aargau,
Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern und Luzern. Insgesamt erbringen die
Aargauer Schülerinnen und Schüler im Vergleich mit den ausgewählten Kantonen
nicht schlechtere Leistungen. Zwei Dinge aber sind aufgefallen. Einerseits: Im
Aargau besuchen im 8. Schuljahr nur rund 25 Prozent den schwächsten
Leistungszug. Das ist wenig. Im Kanton Bern zum Beispiel sind es 39 Prozent.
Wenn die schwächeren Schüler unter sich bleiben, dann entwickeln sich ihre
Leistungen nicht wunschgemäss.
Was ist noch aufgefallen?
Wir haben
herausgefunden, dass die Durchlässigkeitsquote, also die Zahl jener, die
den Leistungszug nach oben oder nach unten wechseln, im Aargau untypisch ist.
Hier wird häufiger das Schulniveau nach oben gewechselt als nach unten. In den
Vergleichskantonen sind Niveauwechsel nach unten und nach oben etwa gleich
häufig.
Damit wird die Realschule noch mehr zur Restschule
...
Ja – und wir
müssen uns auch fragen: Sind die Anforderungen in der Realschule nicht zu tief?
Klar ist jedenfalls: Wer aus der aargauischen Realschule in den Lehrlingsmarkt
einsteigen will, hat weniger gute Karten als zum Beispiel ein Berner
Realschulabsolvent.
Was könnte man dagegen tun?
Ich kann dem
Aargau keine Ratschläge erteilen. Vermutlich müsste man den Anteil der
Realschüler vergrössern.
Zurück zum Thema «Volksschulbildung und berufliche
Grundbildung passen nicht aufeinander». Wie könnte man Abhilfe leisten?
Auf nationaler
Ebene sind Bestrebungen der Bildungspolitik festzustellen. Bis vor zehn Jahren
lag der Anteil der Schüler, die ihre Ausbildung mit Abschluss auf der
Sekundarstufe II beenden, bei 90 Prozent. Die restlichen 10 Prozent ohne
Abschluss haben ein höheres Risiko für Jugendarbeitslosigkeit. Die
Erziehungsdirektorenkonferenz hat sich zum Ziel gesetzt, den Anteil der
Abschlüsse auf 95 Prozent zu steigern. Dies gelingt nur, wenn man die
Koordination an den Schnittstellen verbessert, von der Volksschule zur
Berufsbildung und von der Berufsbildung zur Arbeitswelt. Der Prozess ist im
Gang. Ich nehme Anstrengungen zur Verbesserung dieser Schnittstellen wahr, auch
im Kanton Aargau.
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