Mit Begeisterung ist es nicht getan, NZZ, 30.1. von Walter Herzog
Werner
Inderbitzin verweist in seinem Beitrag zu Recht auf die Wichtigkeit der
Motivation für das Lernen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht
(NZZ 18. 12. 14). Mehr Bekanntheit mit der Welt der Technik und mehr
Begeisterung für die Mint-Fächer stellen wichtige Voraussetzungen dar, um dem
nicht nur bei Mädchen, sondern inzwischen auch bei Burschen vorhandenen
Desinteresse an naturwissenschaftlich-technischen Berufen entgegenzuwirken.
Aber für das Lernen von Mathematik und Naturwissenschaften genügt es nicht,
lediglich «Neugierde . . . gegenüber den Phänomenen der belebten und unbelebten
Natur» zu wecken. Die Mathematik beruht wesentlich auf der Abstraktion von
Phänomenen und der Fähigkeit, Probleme auf ihre formale Struktur zu reduzieren.
Das ergibt sich nicht von selbst, sondern muss unter Anleitung erarbeitet
werden. Vergleichbares gilt für die Naturwissenschaften, die sich wesentlich
dadurch auszeichnen, dass sie hinter die Kulissen der Wirklichkeit schauen. Ihr
Gegenstand ist nicht die uns anschaulich gegebene Lebenswelt, sondern das
makrokosmisch Grosse und das mikrokosmisch Kleine, die ohne Hilfsmittel nur
schwer zugänglich sind.
Möglichkeiten
ausloten
Ein
wesentliches Hilfsmittel, das die neuzeitliche von der antiken Wissenschaft
unterscheidet, ist das Experiment. Experimente beruhen auf einem eigentlichen
Sinneswandel im Verhältnis zur Wirklichkeit. Wo Aristoteles in der
ursprünglichen Bedeutung des Wortes empirisch vorging, da wagte es Galilei,
«die Welt so zu beschreiben, wie wir sie nicht erfahren» (C. F. von
Weizsäcker). In Experimenten geht es um Fragestellungen, mit denen die Natur zu
Antworten gezwungen wird, die sie ohne gezielten Eingriff nicht geben würde.
Moderne Naturwissenschaft stellt daher nicht lediglich fest, was der Fall ist,
sondern lotet die Möglichkeiten aus, die in der Natur liegen. Nur dadurch
konnte sich jene Allianz von Naturwissenschaft und Technik bilden, die für
unser heutiges Leben so bestimmend ist und die Mint-Berufe so wichtig macht.
Studien
zu Fehlauffassungen im Naturwissenschaftsunterricht zeigen, dass eines der
grössten Probleme, die Schülerinnen und Schüler in Fächern wie Mathematik,
Physik, Chemie und Biologie haben, im anschaulichen und narrativen Wissen
liegt, das sie sich im ausserschulischen Alltag aneignen. Mit diesem zumeist
unreflektiert verfügbaren Wissen versuchen sie, den Stoff zu verstehen, was
ihnen aber oft misslingt. So fällt es Schülerinnen und Schülern im
Biologieunterricht häufig schwer zu verstehen, dass die Evolution ohne Absicht
erfolgt. Sie übertragen ein Denkschema, das ihnen in der alltäglichen
Kommunikation gute Dienste leistet, nämlich das Schema intentionalen Handelns,
auf Phänomene, die seit Darwin gerade unter Ausschaltung dieses Denkschemas
durch das absichtslose Zusammenspiel von Variation und Selektion erklärt
werden.
Bildung
strengt an
Neugierde
und Begeisterung stellen wichtige Voraussetzungen für das
naturwissenschaftliche Lernen dar, ohne Zweifel. Wenn jedoch die Lernfreude
ausbleibt, weil die Begeisterung nicht zum Verstehen führt, haben wir gar
nichts gewonnen. Es ist kein Zufall, dass es Schulen erst ab dem Moment gibt,
da das Lernen durch Teilhabe an gemeinsamen Aktivitäten mit Erwachsenen nicht
mehr ausreichte, um die Weitergabe von wesentlichen Kulturbeständen zu sichern.
Schulisches Lernen ist in der Regel ohne Anstrengung nicht zu haben.
Anstrengung ist aber die Triebkraft von Bildung. Bildung strengt an, weil sie
Gewohnheiten infrage stellt, zur Auseinandersetzung mit Unvertrautem zwingt,
mit Vorurteilen konfrontiert und zum Nachdenken verleitet. Was Bildung
auszeichnet, ist die Fähigkeit, die Welt anders zu sehen. Auch und gerade
deshalb leisten der Mathematik- und der Naturwissenschaftsunterricht einen
wesentlichen Beitrag zur schulischen Bildung. Sie tun es aber nur, wenn sich
die Schülerinnen und Schüler nicht an die Phänomene verlieren, sondern diese zu
hinterfragen vermögen.
Science-Center
wie das Technorama Winterthur haben im Kontext des Lernens von Mathematik,
Naturwissenschaften und Technik durchaus ihre Berechtigung. Aber anzunehmen,
der ein- oder mehrmalige Besuch eines solchen Zentrums im Laufe eines
Schülerlebens sei ein wesentlicher Beitrag zur Behebung der
Rekrutierungsprobleme in den Mint-Berufen, wäre naiv. Wenn Werner Inderbitzin
ein «verstärktes Engagement aller Stakeholder» einfordert, um den Mint-Fächern
mehr Bedeutung zu geben, dann ist ihm zuzustimmen. Wenn aber das Ziel sein
soll, den Fachkräftemangel im Mint-Bereich zu beheben, kann der Schwerpunkt des
gemeinsamen Engagements nicht im Ausbau von Science-Centern liegen. Dann sind
schulische Massnahmen gefordert wie die Stärkung der Naturwissenschaften in den
Lehrplänen und die Förderung didaktischer Innovationen in den Mint-Fächern, da
nur so ein nachhaltiges Lernen erreicht werden kann.
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