29. Januar 2015

Verpolitisierte Bildung

Der Baselbieter Bildungsdirektor Urs Wüthrich (SP) wehrt sich gegen die Kritik an der landesweiten Harmonisierung und am Lehrplan 21.




"Ich stelle fest, dass die Bildung heute verpolitisiert ist", Bild: Nicole Pont

"Wir zentralisieren die Schule gar nicht", Basler Zeitung, 29.1. von Markus Somm und Thomas Dähler


Regierungsratskandidatin Monica Gschwind stellt die verirrte Bildungs­politik des Kantons infrage. So haben wir es am Samstag in unserer Zeitung formuliert. Was stört Sie daran?
Ich würde es anders formulieren: Es wird für Verwirrung gesorgt. Aussenstehende Kontrollen bestätigen uns, dass wir organisatorisch, kostenmässig und bezüglich der eingeleiteten Prozesse gut auf Kurs sind. Auch die Schulleiter haben einstimmig beschlossen, uns zu empfehlen, jetzt keinen Zickzackkurs einzuschlagen und an unserer Planung festzuhalten. Ich konnte auch zur Kenntnis nehmen, dass die Vertreter der Wirtschaft diesen Kurs klar mittragen. Wenn immer wieder, zum Teil mit Lügen und destruktivem Vorgehen, für Verwirrung gesorgt wird, führt dies zu einer allgemeinen Verunsicherung. Dabei gehen wir pragmatisch vor.
Dennoch ist doch feststellbar, dass verbreitet Unruhe herrscht. Es gibt grossen Widerstand. Könnte es nicht sein, dass die Kritiker recht haben?
Ich finde es grotesk, dass ausgerechnet im Kanton Baselland, der am meisten Mittel in die Weiterbildung investiert und Lehrerinnen und Lehrer auch dafür freistellt, sie in allen Gremien miteinbezieht, am lautesten protestiert wird. Dabei handeln wir doch nach dem Grundsatz Sorgfalt vor Tempo.
Den Widerstand gibt es nicht nur im Baselbiet. Können Sie sich erklären, weshalb sich Lehrerinnen und Lehrer gegen Ihren Kurs wehren?
Bei Veränderungen gibt es eine Phase, die für die Lehrer schwierig ist. Es gibt Lehrer, die deshalb nichts verändern wollen. Wenn ich aber auf Schul­besuch bin, stelle ich fest, dass Lehrerinnen und Lehrer selber innovativ sind, zum Beispiel von sich aus schon vor dem neuen Lehrplan chemisch-biologische Experimente mit ihren Schülern durchführen. Offiziell sagen die Lehrerinnen und Lehrer Schweiz immerhin Ja zu unserer Politik.
Wir haben doch schon heute gute Schulen in der Schweiz. Könnte es nicht sein, dass die Schule nicht derart verändert werden muss?
Ich bin sehr einverstanden, dass wir die Frage nach einem Mehrwert von Reformen stellen. Unsere wichtigste Standortqualität ist die Innovationskraft. Diese kann nicht in einer Schule entstehen, die nach dem Motto «Wir haben es schon immer so gemacht» funktioniert. Auch ein Gewerbebetrieb sagt sich nicht, die alten Maschinen seien gut gewesen, deshalb genüge es in Zukunft, weiterhin mit den alten Maschinen zu produzieren.
Der Staat ist kein Unternehmen, auch wenn viele Staatsangestellte so tun, als seien sie Unternehmer. Weshalb führen wir in unseren Schulen laufend Reformen durch?
Ich bin überzeugt, dass in jedem Schreinerbetrieb in den letzten zehn Jahren mehr Reformen durchgeführt wurden als in der Schule. Ich bin kein Reformturbo. Viel hat sich gar nicht verändert. Wir haben aber in der Nordwestschweiz die Schulstrukturen in vier vorher völlig verschiedenen Kantonen einigermassen vereinheitlicht. Das sind schon Fortschritte.
Wir anerkennen dies. Doch in der Nordwestschweiz gibt es auch eine andere Gemeinsamkeit: In drei von vier Kantonen sind Initiativen gegen den Lehrplan 21 lanciert worden.
Was genau verlangt wird, weiss ich nicht. Es gibt nur den diffusen Vorwurf, es würden jetzt nur noch Kompetenzen und kein Wissen mehr verlangt. Kein Mensch sagt, das Wissen werde abgeschafft. Es ist festzuhalten, dass die Regierung den Lehrplan 21 deutlicher kritisiert hat als etwa die FDP, die in der Vernehmlassung mit ein paar Forderungen zugestimmt hat. Jetzt wurden diese Forderungen erfüllt, einiges anders als in anderen Kantonen gemacht und der Einführungstermin auf 2018 verschoben, doch es wird weiter gegen den Lehrplan gekämpft. Dabei wurde der Kritik Rechnung getragen und der Lehrplan verkürzt und angepasst.
Welche Kantone starten schon vor 2018?
Basel-Stadt. Es ist im Baselbiet realistisch, bis 2016 die Grundlagen für die verschiedenen Niveaus der Sek zu erarbeiten. Bis 2018 können wir die Weiterbildungen sicherstellen und dann starten.
Ist der Widerstand nicht grundsätzlicher? Das Projekt Lehrplan 21 ist ein Top-down-Projekt, das allen Kantonen verordnet wird. Bildungsfachleute haben den Lehrplan 21 ziemlich fundamentalistisch entworfen, bevor die Deutschschweizer Bildungsdirektorenkonferenz Korrekturen angebracht hat.
Es waren immerhin etwa 50 Lehrerinnen und Lehrer aus der Praxis, die mitgearbeitet haben.
Es hat in der Schweiz immer Streit gegeben, wenn jemand die Bildung zentralisieren wollte.
Wir zentralisieren gar nicht. Wenn die Harmonisierung nicht zustande kommt, riskieren wir die Zentralisierung durch den Bund.
Die Harmonisierung ist beim Volk nur durchgekommen, weil die Stimmberechtigten im Glauben waren, es gehe dabei nur um strukturelle Fragen.
Gerade der Lehrplan 21 ist ein gutes Beispiel dafür, wie man von einer gemeinsamen Grundlage aus die Schulen kantonal individuell gestalten kann. Wir können ohne Weiteres unsere bestehenden drei Sekundarschul-Niveaus weiterführen.
Wieso braucht es diese gemeinsame Grundlage? Es ist doch super, wenn die Kantone ihre Lehrpläne selber gestalten können.
Ist es vorstellbar, dass wir die Lehrerausbildung, die Schulbücher und vieles mehr in jedem Kanton separat gestalten? Kein Unternehmen würde so verfahren.
Weshalb hat das System bis heute bestens funktioniert, obwohl in den einzelnen Schulen verschiedene Lehrmittel verwendet wurden? Wollen wir das föderalistische System abschaffen?
Ich finde, es braucht gemeinsame Grundlagen. Ich stelle fest, dass die Bildung heute verpolitisiert ist. Die Parteien haben die Bildung zur Profilierung entdeckt.
Ausgerechnet Sie als Sozialdemokrat kritisieren dies. Die SP hat sich bei der Bildung besonders engagiert. Ist dies nicht völlig normal?
Die Verpolitisierung ist ganz klar eine neue Entwicklung. Bis vor eineinhalb Jahren etwa hat es in der Bildungs­direktorenkonferenz keine Fraktionen gegeben. Erst jetzt gibt es Ansätze dazu. Natürlich hatte Bildung immer ein gesellschaftspolitisches Umfeld. Aber erst seit Kurzem spielt die Parteipolitik eine Rolle. Ich würde verstehen, wenn man mir vorwerfen würde, ich sei pragmatisch. Aber den gegenteiligen Vorwurf kann ich nicht nachvollziehen. Unterdessen gibt es sogar Leute, die glauben, Harmos oder die integrative Schule sei eine Erfindung von mir. Bei der integrativen Schule hat das Volk dem Gesetz zugestimmt. Jetzt, wenn wir es konkretisieren, ist der Landrat dagegen.
Ist der Widerstand ungerecht?
Nicht ungerecht, nein, aber nicht nachvollziehbar.
Der Lehrplan 21 ist im Grundsatz verabschiedet. Sie und der Bildungsrat sind aber bereits weiter gegangen und haben die Einführungstermine festgelegt, verbunden mit der vagen Zusicherung, bis zu diesem Termin werde die stufen­gerechte Umsetzung sichergestellt. Weshalb wird nicht zuerst die stufen­gerechte Umsetzung erarbeitet und erst nachher die Einführung beschlossen?
Die Vernehmlassung zur Parlamentarischen Initiative zum Lehrplan 21 ist im Gang. Vermutlich entscheidet dann das Parlament, dass der Landrat über den Einführungstermin des Lehrplans 21 beschliesst. 2015 oder 2016 dürfte das Volk darüber abstimmen. Und erst dann beschliesst das Parlament den Einführungstermin zu einem Lehrplan, der dannzumal schon längst eingeführt ist. Pragmatisch habe ich dazu einen Gegenvorschlag gemacht, gemäss diesem das Parlament über die Eckpunkte des Lehrplans befindet, darüber hinaus aber die Beschlüsse des Bildungsrats zur Kenntnis nimmt. So könnte der Landrat innert kurzer Frist einen abschliessenden Entscheid fällen, und die Betroffenen hätten Klarheit. Leider ist die Bildungs-, Kultur- und Sportkommission dagegen.
Ist es für Sie als Sozialdemokrat nicht schwierig festzustellen, dass Widerstand aus der Lehrerschaft kommt, einer für die SP wichtigen Klientel? Und von den Grünen, einem politischen Bündnispartner?
Bei den Lehrerinnen und Lehrern habe ich dafür Verständnis, dass es im Veränderungsprozess Widerstände gibt. Wir wollen jedoch nichts verändern, weil es bisher schlecht war, aber ich setze mich mit der Kritik auseinander. Bei den Grünen unterscheide ich klar zwischen Leuten um Landrat Wiedemann, der sich gegen seine eigene Partei stellt, und der Grünen Partei als unverändert wichtigem Bündnispartner in der Bildungspolitik, die klar Ja zu Harmos und Ja zum Lehrplan 21 sagt.
Weshalb reicht es nicht, unter den Kantonen statt des ganzen Lehrplans nur die Eckwerte zu vereinbaren?
Ein Lehrplan ist kein Instruktionshandbuch, sondern ein wichtiger Orientierungsrahmen. Mit der gemeinsamen Entwicklung haben wir die Chance, auf der Grundlage, die von mehreren Kantonen entwickelt wurde, unsere eigene Schule aufzubauen. Dies ist ein zweckmässiges Vorgehen. Kein Verständnis habe ich dafür, dass die Kompetenzorientierung infrage gestellt wird. Die Kompetenzorientierung ist in den Berufsschulen längst Realität. Und die kritisierten Sammelfächer sind dort im Life-Sciences-Bereich längst umgesetzt, und niemand käme auf die Idee, Chemie und Biologie wieder zu trennen.
Damit ersetzen wir aber auch die Fach- spezialisten bei den Lehrern durch Einheitslehrer für die Sammelfächer.
Nicht Einheitslehrer. Sondern Lehrerinnen und Lehrer, die nach ihrer Ausbildung in mehreren Bereichen qualifiziert sind und gleichzeitig auch gelernt haben, Bezüge zwischen den Bereichen herzustellen.
Sprechen wir noch über Ihren Rücktritt. Sind Sie froh, dass diese Streitigkeiten bald ein Ende haben?
Ich habe nichts von meiner Begeisterung an der Arbeit eingebüsst. Es wird vielleicht ein paar Personen geben, die ich nicht vermissen werde.
Wie wichtig ist es für Sie, in den verbleibenden Monaten noch möglichst ein paar Nägel einzuschlagen und Beschlüsse zu zementieren, die Ihr Nachfolger nicht rückgängig machen kann?
Das Parlament kann alles wieder korrigieren. Ich hoffe aber, dass das Parlament verantwortungsvoll handelt und keinen ZickzackKurs fährt. In der verbleibenden Zeit möchte ich noch das Kulturgesetz verabschieden lassen und die Integrierte Schulung im zweiten Anlauf umsetzen. Zudem ist es mir ein wichtiges Anliegen, meiner Nachfolgerin oder meinem Nachfolger ein engagiertes und motiviertes Team sowie eine zukunftstauglich organisierte Direktion zu übergeben.
Und was machen Sie nachher? Bleiben Sie Politiker?
Konkret habe ich keine Pläne. Politische Mandate an der Front sind jedoch in Zukunft nicht denkbar.
Würden Sie, wenn Sie zurückblicken, Ihren Weg so wieder einschlagen?
Es hat sich gelohnt, mich für meine Überzeugung, für die Werte Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Freiheit zu engagieren. Ich würde diese Verantwortung wieder übernehmen. Ich bin zufrieden und scheide keineswegs verbittert aus dem Amt.


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