Psychologe
Allan Guggenbühl kritisiert die aktuellen Schulreformen.Man gehe von einem Idealbild der Schüler aus, das
nicht der Realität entspreche. Er schlägt andere Mittel im Unterricht vor.
Schüler beim Klassenunterricht, Bild: Christian Beutler
"Nicht alle Kinder fügen sich brav ein", Neue Luzerner Zeitung, 3.1. Interview mit Allan Guggenbühl von Lukas Scharpf
Allan Guggenbühl, einzelne Störenfriede oder ganze
Problemklassen sind eine grosse Belastungsquelle für die Lehrer. Laut Studien sind
diese immer mehr an der Grenze zum Burn-out. Wie geht die aktuelle Bildungspolitik mit
dem Thema um?
Allan Guggenbühl*: Sie verschärft das Problem eher
noch. Heute setzt man auf integrative Schulmodelle. Kinder mit verschiedensten
Begabungen, mit Defiziten und auffälligen Verhaltensweisen sollen im gleichen
Klassenverband unterrichtet werden. Das ist eigentlich ein lobenswertes Vorhaben, aber es
führt zu Schwierigkeiten mit Ordnung und Disziplin. Auf jedes Kind individuell
einzugehen und das Vorgehen im Team abzusprechen, ist eine energetische wie auch
zeitliche Herausforderung. Oft droht Verantwortungsdiffusion: Niemand fühlt sich für das
betreffende Kind zuständig.
Integrative Schule ist vielfach noch relative jung.
Wird sich das Problem erledigen, wenn man mehr Erfahrungen mit den neuen Modellen hat?
Guggenbühl: Das Problem wird nicht so rasch
verschwinden. Tatsache ist, dass sich nicht alle Kinder brav in den Schulbetrieb
einfügen wollen, sei es wegen ihrer Persönlichkeit oder weil sie in einer
schwierigen Phase sind. Die Idee des individuumzentrierten Unterrichts ist, dass die
Schüler ihre Lernziele eigenständig definieren und Lernprozesse selber organi-sieren. Auf
diese Weise seien sie auch motiviert zu lernen. Die Aufgabe der Lehrpersonen ist,
die Schüler zu coachen. Für viele Kinder gilt dies nicht. Der Schulstoff ist für sie
persönlich nicht relevant. Sie sind mit sich selbst beschäftigt und werden durch schulfremde Themen
absorbiert. Sie können mit dem Freiraum nicht umgehen oder arbeiten selbst-ständig, doch nicht für die Schule.
Es gibt auch von Seiten der Lehrer viel Widerstand
gegen diese Reformen. Woher kommt der Druck dafür?
Guggenbühl: Die aktuellen Reformen stammen nicht von
der Basis. Sie wurden von oben herab, von der Erziehungswissenschaft, der Schule
aufgezwungen und sind ideell geprägt. In der Theorie klingt vieles sehr gut, in der
Praxis läuft es jedoch anders. Wenn zum Beispiel mehrere Lehrpersonen im Schulzimmer
sind, dann droht eine Defokussierung. Die Schüler verlieren die
Orientierung. Sie brauchen jedoch klare Leitfiguren und nicht eine Auswahl von Coaches. Die
Folge ist Unruhe.
Was meinen Sie mit ideell?
Guggenbühl: Man will Chancengleichheit umsetzen, indem
man alle Schüler der gleichen
Gruppe zuordnet. Es geht um Solidarität. Kinder sollen
lernen, auch andersartige Kollegen zu akzeptieren und zu unterstützen. Niemand
bestreitet diese Ziele. Der individuumzentrierte Unterricht und klare
Kompetenzumschreibungen sollen eine sogenannte Binnendifferenzierung ermöglichen. Ein
Problem ist jedoch, dass die Klasse von den Schülern nicht als Lerngemeinschaft
erlebt wird. Die meisten Kinder lernen, weil sie sich mit der Klassengemeinschaft
identifizieren. Sie lernen, weil alle es tun. Haben sie individuelle Lernziele, dann fällt
die Klasse als Orientierungsgrösse weg, der Stoff wird sozial irrelevant. Es tut sich
eine Kluft zwischen den angepassten Schülern und den lernzielbefreiten, schwierigen oder
aus der Sicht der Kinder komischen Schülern auf. Schüler gehen wegen ihrer
Kollegen, wegen der sozialen Funktion zur Schule und lernen nur unter leichtem
Druck. Rituale und eine positive Klassengemeinschaft unter der Führung einer Lehrperson
helfen. Wir dürfen nicht vergessen: Bei den Schulen handelt es sich auch um
eine Unterwerfungsinstitution. Die Alten zwingen den Jungen ihr Wissen auf.
Jugendliche in der Pubertät sind selten einfach und
pflegeleicht. Das ist sicher nicht neu. Können Sie eine Verschärfung in den letzten Jahren
beobachten?
Guggenbühl: Es ist normal, wenn Kinder Erwachsenen
Schwierigkeiten bereiten. Das
gehört zur gesunden Entwicklung. Kinder wollen Grenzen
ausloten. Unterrichten ist darum kein Trainingsprogramm, sondern der Versuch, den
halbchaotischen Prozess der Schüler in eine positive Richtung zu lenken.
Unterricht ist keine exakte Wissenschaft, denn Schüler lernen anders und noch viel mehr, als
Standards und Kompetenzen vorgeben. In der Schule versuchen ältere Menschen mit
jüngeren einen gemeinsamen Weg zu gehen, das ist das Grossartige der Schule.
Lehrpersonen brauchen die Freiheit, ihre persönlichen Begabungen und Interessen
einzubringen, damit sie eine Beziehung aufbauen können. Sie sind keine Programmvollstrecker,
sondern eher Künstler.
Sie wollen schwierigen Themen in Klassen wie Mobbing,
Übergriffen, Störenfrieden usw. mit einem alten Mittel zu Leibe rücken. Mit dem
Erzählen von Geschichten. Warum?
Guggenbühl: Ich arbeite schon lange mit Klassen und
Jugendlichen in Gruppenthera-pien, auch im Zusammenhang mit Gewalterlebnissen. Wenn man
Schüler zu einem heiklen
Thema direkt anspricht, dann verstecken sie sich oft
hinter Plattitüden oder weichen aus. Oft passen sie sich der Lehrperson an und geben
dann die Antworten, die man von ihnen erwartet. Wenn man also ein konkretes und
heikles Thema wirklich ansprechen will, muss man einen Umweg wählen. Geschichten zu
erzählen, sie zu dramatisieren und weiterzu-spinnen, ist eine Möglichkeit, auch heikle
Themen mit den Kindern zu besprechen. Allerdings eignet sich dafür nicht jede
Geschichte.
Wie meinen Sie das?
Guggenbühl: Kinder sind von Geschichten fasziniert,
die eine Situation radikalisieren oder übertrieben darstellen, politisch inkorrekt sind.
Keine braven Moralgeschichten. Spontan berichten Kinder ihren Eltern von
aussergewöhnlichen Ereignissen, die sie erlebt oder von denen sie gehört haben, ihr
Denkhorizont weitet sich so aus.
Können Sie ein Beispiel geben?
Guggenbühl: Statt das Thema Mobbing direkt
aufzugreifen, erzählt die Lehrperson eine
Geschichte aus dem Mittelalter, in der jemand krass
ausgegrenzt wird. Je packender und übertriebener, desto besser. In der Geschichte wird
vielleicht sogar jemand ungerechtfertigt geteert und gefedert, muss in einem
Verlies ausharren. Die Schüler sind dann etwas geschockt, werden jedoch indirekt in
eine Problematik menschlichen Verhaltens eingeführt und sind bereit, über eigene
Erlebnisse zu reden, die viel weniger schlimm sind. Mit solchen Zwischenschritten kann man
auch sehr heikle Themen zur Sprache und auch überhaupt in Erfahrung bringen. Man
bringt Störenfriede dazu, über sich zu erzählen und selber etwas zu tun. Aber die Lehrperson
muss eine aktive Rolle spielen, sich als Geschichtenerzähler einbringen.
Fehlen solche Mittel im Moment?
Guggenbühl: Ja, diesen Eindruck habe ich schon. Ich
wurde auch von Lehrern aufgefordert, ihnen konkrete Anleitungen zum Umgang
mit Geschichten zu geben. Viele wissen nicht, wie sie mit dem freien Erzählen umgehen
sollen, sie haben Angst davor oder das Gefühl, sie könnten nicht frei eine
Geschichte erzählen. Sie lesen nur direkt aus einem Buch vor. Das ist aber nicht das Gleiche wie
das freie Geschichtenerzählen, das Nähe und Beziehung fördert. Wo man jederzeit auf
die Zuhörer reagieren und sie integrieren kann.
Nimmt man im Lehrplan 21 auf Probleme wie schwierige
Klassen oder schwierige Schüler genügend Rücksicht?
Guggenbühl: Die Förderung der sozialen Kompetenzen ist
im Lehrplan 21 grossge-schrieben, auch als Mittel gegen Mobbing.
Sozial kompetent werden wir jedoch vor allem im Umgang mit den effektiven Problemen. Durch
den Einsatz von Geschichten kommen die wirklichen Probleme der Kinder zur Sprache,
und es bleibt nicht bei schönen Worten.
Sie gehören zu den Gegnern einer «Verbürokratisierung
der Schule», wie Sie es nennen. Ist denn alles schlecht?
Guggenbühl: Sicher nicht. Lehrer sind jedoch nicht nur
keine Normvollstrecker, sondern
lassen sich von Ideen, Leidenschaften leiten und
setzen ihre Persönlichkeit ein, damit die Schüler lernen. Den individuellen Schüler im Auge
zu haben, finde ich richtig, ebenso die Teambildung. Lehrer sind nicht nur Einzelkämpfer.
Klar ist auch, dass man die Leistungen der Schüler und Lehrpersonen durch
Ausseninstanzen überprüfen muss. Der Kompetenzbegriff, nach dem sich die Schule richten
soll, bringt jedoch nicht einen
pädagogischen Mehrwert, sondern reduziert das
Schulgeschehen auf durch Tests erfassbare Daten, drückt ein Misstrauen der Schule
gegenüber aus, als wären Leistungen bisher nicht wichtig gewesen. Ich kritisiere, dass man
die Wichtigkeit einer Klasse unterschätzt. Kinder gehen wegen ihrer Kolleginnen und
Kollegen zur Schule. Der
Stoff ist oft ein Nebenprodukt des sozialen
Geschehens.
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