3. Januar 2015

Unvollendete Bildungsrevolution

Wir stehen im Jahr 50 nach der Bildungsrevolution. Ohne Ausschöpfung der Begabtenreserven bildungsferner Schichten aber bleibt diese Bildungsrevolution unvollendet.



Wolf Linder ist Mitglied des Schweizerischen Wissenschafts- und Innovationsrats. Er vertritt hier seine persönliche Meinung. Bild: SRF

Ein Jubiläum und ein langer Schatten, NZZ, 3.1. von Wolf Linder


1964, vor fünfzig Jahren, erschien der «Bericht Labhardt». Er war der letzte von drei eidgenössischen Expertenberichten, welche die künftige Hochschulpolitik nachhaltig prägen sollten. Alle drei verlangten ein starkes Engagement des Bundes im schweizerischen Hochschulwesen, das sich vordem auf die ETH beschränkt hatte. Der Tenor der Experten war klar: Die Schweiz hat keine Rohstoffe. Um wirtschaftlich mithalten zu können, muss das Land seine jungen Leute vermehrt und besser ausbilden. Die «Ausschöpfung der Begabtenreserven» wurde damit zum Stichwort einer schweizerischen Bildungsrevolution, die dann unter tatkräftiger Mithilfe des Bundes auch wirklich stattfand.
Die Kantone bauten ihre Mittel- und Hochschulen kräftig aus; war die Maturität vor fünfzig Jahren das Privileg von wenigen, erlangen heute ein Drittel der Jugendlichen ein Zeugnis der Hochschulreife. Die Zahl der Studierenden an Universitäten und Fachhochschulen ist in den letzten fünf Jahrzehnten von gut 30 000 auf über 200 000 angestiegen.
Auch unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums von sechs auf acht Millionen Einwohner verbleibt eine Vervierfachung der Studierendenzahl. Nicht nur die ETH, auch kantonale Universitäten geniessen in einzelnen Disziplinen internationalen Ruf; die Neustrukturierung der Fachhochschulen hat die Studienlandschaft bereichert. Im Ausbau des «tertiären Systems» wurde auch die höhere Berufsausbildung nicht vernachlässigt. Rund 60 000 Berufsleute streben heute ein eidgenössisches Fachdiplom an. Im internationalen Vergleich sticht unser Land aus guten Gründen nicht mit einer überragenden Maturandenquote, dafür aber mit dem dualen System der praktischen Berufslehre und seiner weiterführenden Ausbildungsangebote hervor. Um dessen Qualität beneiden uns Länder mit hoher Jugendarbeitslosigkeit, die alles auf die Karte akademischer Ausbildung gesetzt haben.
Die geistigen und politischen Väter der Bildungsrevolution identifizierten drei Gruppen von Begabten, die es zu erreichen galt: die Jugendlichen aus den Landregionen, die Frauen sowie die Jugendlichen aus bildungsfernen, unteren sozialen Schichten. Der Schreibende erinnert sich: Als er seine Matura 1963 in St. Gallen bestand, gab es im ganzen Kanton nur ein einziges öffentliches Gymnasium. Schüler aus dem weit entfernten St. Galler Oberland fanden sich keine in seiner Klasse, ein einziger war Arbeitersohn. Ein Mädchen bekam einen weniger gelungenen Aufsatz vom Lehrer zurück mit dem Kommentar: «Ihr Platz an dieser Schule ist Verschwendung öffentlicher Gelder. Sie heiraten ja sowieso gleich nach der Matur.» Diese Zeiten haben sich glücklicherweise geändert.
Aber ist das Ziel der «Ausschöpfung der Begabtenreserven» auch wirklich erreicht worden? Die Antwort lautet: Jein. Für die beiden ersten Gruppen der Jugendlichen aus Landregionen und für die Frauen wurden die Ziele weitgehend erreicht. Die dezentralisierten Mittelschulen sorgen, zusammen mit dem heutigen Mobilitätsangebot, für die Chancengleichheit der Landjugend. Der Anteil von Frauen an den Maturitätsabschlüssen hat sich jenem der Männer angeglichen. Er übersteigt in einzelnen Hochschulfächern wie der Medizin, der Psychologie oder der Kunst- und Literaturwissenschaften jenen der Männer. Freilich sind Frauen in den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen - und vor allem beim Lehrpersonal der Hochschulen - noch stark untervertreten, was denn auch häufig zum Gegenstand öffentlicher Kritik wird.
Von der Politik wie von der Bildungswissenschaft nahezu unbemerkt bleibt hingegen bis heute, dass das Ziel der Chancengleichheit für bildungsferne und untere soziale Schichten überhaupt nicht erreicht wurde. Nach offizieller Statistik bleiben Gymnasium und Universität bis heute das Privileg jener Schichten, die schon Bildung haben: 52 Prozent der Universitätsstudierenden haben einen Elternteil mit einem Hochschulabschluss. In etwas geringerem Mass gilt dies auch für Studierende der pädagogischen und der Fachhochschulen (29 bzw. 32 Prozent mit einem akademischen Elternteil).
Was dies für die gesellschaftliche Chancengleichheit bedeutet, hat der Berner Bildungssoziologe Rolf Becker vertieft untersucht. Danach hatten Akademikerkinder des Jahrgangs 1985 eine 3,7-mal bessere Chance, auf die höheren Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I zu wechseln, eine 5,7-mal bessere Chance, ihre Schulbildung auf dem Langzeitgymnasium fortzusetzen, eine 4,8-mal bessere Chance, die Studienberechtigung zu erwerben, und eine 5,6-mal bessere Chance, zu studieren, als gleichaltrige Kinder und Jugendliche von Eltern mit vergleichsweise niedrigem Bildungsniveau.
Nun sind solche Unterschiede nicht von vorneherein negativ zu bewerten: Das Bildungssystem beansprucht Talent und Leistungsfähigkeit als Kriterien der Selektion, und ihre Messung durch Prüfungen und Schulnoten zeigt, dass diese ungleich verteilt sind. Aber selbst bei Berücksichtigung aller leistungsbezogenen Kriterien, so Becker, verbleiben Nettoeffekte der sozialen Herkunft und spielen im mehrstufigen Selektionsprozess von der Sekundarstufe bis zur Universität sogar eine gewichtige Rolle.
Die Tatsache, dass herkunftsbezogene Auslese auf allen Stufen wirksam ist, könnte auch erklären, warum die Kompensation durch Stipendien wenig auszurichten vermag: Stipendien bringen im Einzelfall Entlastung, werden aber erst auf den letzten Selektionsstufen wirksam und erfassen all jene nicht, die von den vorherigen, herkunftsbezogenen Benachteiligungen des Auswahlsystems betroffen waren. Insgesamt ist die Bilanz ernüchternd: Leistungsfremde Kriterien der sozialen Herkunft sind verantwortlich für eine starke soziale Ungleichheit von Bildungschancen. Die Ergebnisse der meisten Studien zeigen, dass sich daran trotz fünfzig Jahren Bildungsrevolution kaum etwas geändert hat.
Wer auf Chancengleichheit hofft oder Selektion durch Leistung verlangt, muss diesen Befund eigentlich für skandalös halten. Zwar kann man den nicht intendierten Folgen der Bildungsexpansion auch einen Vorteil abgewinnen: Die dem Hochschulsystem entgangenen Bildungsreserven sind nicht verloren, sondern finden sich als überdurchschnittlich intelligente Leute in der Berufsausbildung. Diese heben das Ausbildungsniveau und bringen, bei entsprechender Leistungsbereitschaft, der Wirtschaft ein begabtes und begehrtes Potenzial für die höhere Berufsausbildung.
Die Kehrseite indessen liegt auf der Hand: Nach Untersuchungen der ETH-Verhaltensforscherin Elsbeth Stern bewegt sich der Intelligenzquotient eines Drittels der Mittelschüler und Mittelschülerinnen unter dem Niveau jener 20 Prozent der Begabtesten, die nach ihrer Auffassung der Leistungsauslese ans Gymnasium gehörten. Mit den Folgen haben die Universitäten umzugehen, die jeden Maturanden und jede Maturandin prüfungsfrei zulassen müssen.
Der Schluss liegt nahe, dass Qualitätseinbussen gymnasialer Matur aufgrund grösserer Selektionschancen von Akademikerkindern zustande kommen. Risiken «falscher» Auslese sind auch anderswo zu orten. Die «Passerellen», welche den Übertritt von der höheren Berufsausbildung an die Fachhochschulen und von diesen in die Universitäten erlauben, sind schmal und bleiben statistisch gesehen Ausnahmewege. In umgekehrter Richtung drängen weit mehr Absolventinnen und Absolventen mit gymnasialer Matur in einzelne Ausbildungsgänge der Fachhochschulen. Tendenziell ist nicht auszuschliessen, dass dabei Absolventen mit schwächerer akademischer Vorbereitung trotz stärkerer Berufsausbildung den Kürzeren ziehen. Werden es Kinder aus unteren Schichten künftig gar schwieriger haben?
Was wäre zu tun? Zunächst ist zu beachten, dass das Bildungssystem eingebettet ist in eine Gesellschaft, die sich verändert. Zunehmende wirtschaftliche Ungleichheiten - etwa der Lohnunterschiede - fördern eine unerwünschte Hierarchisierung des Bildungssystems. Schichtspezifische Unterschiede der Bewertung von Bildung nehmen dabei eher zu, und unterschiedliche Einstellungen von Eltern beeinflussen das Bildungsverhalten und die Bildungswahl ihrer Kinder. Die milieubedingte Distanz unterer Schichten gegenüber «höherer Bildung» ist daher nicht ohne weiteres zu überwinden. Auch die irrige, aber verbreitete Vorstellung in der Mittelschicht, wonach die Universität die einzige valable Option für ihren Nachwuchs sei, wird aus den Köpfen so bald nicht verschwinden.
Bei ihrem jüngsten Besuch an der ETH Zürich soll die italienische Bildungsministerin Bewunderung dafür gezeigt haben, mit welcher Kompetenz und Selbstverständlichkeit die Berufslehrlinge in den Labors mit den akademischen Spitzenforschern zusammenarbeiten. Genau das aber - die hohe gegenseitige Wertschätzung und die geringe soziale Distanz zwischen «Hand»- und «Kopfarbeit» - sind Vorteile, die für die wirtschaftliche Kreativität und für das soziale Zusammenleben der Schweiz entscheidend sind. Beide «Swissness»-Vorteile sind gefährdet, wenn Wirtschaft und Bildungssystem den neuen Hierarchisierungen nicht widerstehen. Das Tertiärsystem der höheren Bildung ist mit dem Ziel der Verschiedenartigkeit, aber Gleichwertigkeit der Universitäts- und Fachhochschulausbildung an sich auf dem richtigen Weg. Die besondere Qualität der Fachhochschulen, nämlich ihr stärkerer Berufsbezug, darf allerdings nicht verloren gehen. Ob und wie diese Herausforderung bewältigt wird, hat, wie oben angedeutet, Konsequenzen auch für eine sinnvolle Leistungsauslese und die soziale Chancengleichheit. Die höhere Berufsbildung schliesslich ringt zu Recht um bessere Anerkennung im Tertiärsystem. Die Agenda reicht von den Studienkosten bis zur Bezeichnung der Diplome.
Für das Bildungssystem insgesamt gibt Becker zu bedenken, dass eine Expansion höherer Bildung - etwa durch eine massive Erhöhung der Maturandenquote - das Problem der sozialen Chancenungleichheit keineswegs lösen würde. Als aussichtsreich hält er dagegen eine Strategie, welche die Schranken sozialer Herkunft möglichst schon im Vorschulalter, jedoch auf allen Selektionsstufen des Bildungswegs durch differenzierte Massnahmen zu neutralisieren sucht. Dies tun heute bereits viele Lehrkräfte auf individueller Ebene mit viel Herzblut. Das reicht aber nicht aus, wenn Lehrpläne, Stoffe und Kompetenzanforderungen vor allem auf das ausgerichtet sind, was die Mittelschicht kann und für relevant hält.

Es wäre an der Zeit, dass die bildungspolitische Diskussion, die sich neben Bedenkenswertem an vielen Nebensächlichkeiten aufhält, das zentrale Problem sozialer Chancengleichheit und leistungsbezogener Selektion endlich aus dem Schattendasein hervorholt. Der Weg zur Ausschöpfung der Begabtenreserven bildungsferner Schichten mag dornenvoll sein, aber die Bildungsrevolution darf nicht unvollendet bleiben.

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