Wolf Linder ist Mitglied des Schweizerischen Wissenschafts- und Innovationsrats. Er vertritt hier seine persönliche Meinung. Bild: SRF
Ein Jubiläum und ein langer Schatten, NZZ, 3.1. von Wolf Linder
1964, vor fünfzig Jahren, erschien der «Bericht Labhardt». Er war der
letzte von drei eidgenössischen Expertenberichten, welche die künftige
Hochschulpolitik nachhaltig prägen sollten. Alle drei verlangten ein starkes
Engagement des Bundes im schweizerischen Hochschulwesen, das sich vordem auf
die ETH beschränkt hatte. Der Tenor der Experten war klar: Die Schweiz hat
keine Rohstoffe. Um wirtschaftlich mithalten zu können, muss das Land seine
jungen Leute vermehrt und besser ausbilden. Die «Ausschöpfung der
Begabtenreserven» wurde damit zum Stichwort einer schweizerischen
Bildungsrevolution, die dann unter tatkräftiger Mithilfe des Bundes auch
wirklich stattfand.
Die Kantone bauten ihre Mittel- und Hochschulen kräftig aus; war die
Maturität vor fünfzig Jahren das Privileg von wenigen, erlangen heute ein
Drittel der Jugendlichen ein Zeugnis der Hochschulreife. Die Zahl der
Studierenden an Universitäten und Fachhochschulen ist in den letzten fünf
Jahrzehnten von gut 30 000 auf über 200 000 angestiegen.
Auch unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums von sechs auf acht
Millionen Einwohner verbleibt eine Vervierfachung der Studierendenzahl. Nicht
nur die ETH, auch kantonale Universitäten geniessen in einzelnen Disziplinen
internationalen Ruf; die Neustrukturierung der Fachhochschulen hat die
Studienlandschaft bereichert. Im Ausbau des «tertiären Systems» wurde auch die
höhere Berufsausbildung nicht vernachlässigt. Rund 60 000 Berufsleute streben
heute ein eidgenössisches Fachdiplom an. Im internationalen Vergleich sticht
unser Land aus guten Gründen nicht mit einer überragenden Maturandenquote,
dafür aber mit dem dualen System der praktischen Berufslehre und seiner
weiterführenden Ausbildungsangebote hervor. Um dessen Qualität beneiden uns
Länder mit hoher Jugendarbeitslosigkeit, die alles auf die Karte akademischer
Ausbildung gesetzt haben.
Die geistigen und politischen Väter der Bildungsrevolution
identifizierten drei Gruppen von Begabten, die es zu erreichen galt: die
Jugendlichen aus den Landregionen, die Frauen sowie die Jugendlichen aus
bildungsfernen, unteren sozialen Schichten. Der Schreibende erinnert sich: Als
er seine Matura 1963 in St. Gallen bestand, gab es im ganzen Kanton nur ein
einziges öffentliches Gymnasium. Schüler aus dem weit entfernten St. Galler
Oberland fanden sich keine in seiner Klasse, ein einziger war Arbeitersohn. Ein
Mädchen bekam einen weniger gelungenen Aufsatz vom Lehrer zurück mit dem
Kommentar: «Ihr Platz an dieser Schule ist Verschwendung öffentlicher Gelder.
Sie heiraten ja sowieso gleich nach der Matur.» Diese Zeiten haben sich
glücklicherweise geändert.
Aber ist das Ziel der «Ausschöpfung der Begabtenreserven» auch wirklich
erreicht worden? Die Antwort lautet: Jein. Für die beiden ersten Gruppen der
Jugendlichen aus Landregionen und für die Frauen wurden die Ziele weitgehend
erreicht. Die dezentralisierten Mittelschulen sorgen, zusammen mit dem heutigen
Mobilitätsangebot, für die Chancengleichheit der Landjugend. Der Anteil von
Frauen an den Maturitätsabschlüssen hat sich jenem der Männer angeglichen. Er
übersteigt in einzelnen Hochschulfächern wie der Medizin, der Psychologie oder
der Kunst- und Literaturwissenschaften jenen der Männer. Freilich sind Frauen
in den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen - und vor allem beim
Lehrpersonal der Hochschulen - noch stark untervertreten, was denn auch häufig
zum Gegenstand öffentlicher Kritik wird.
Von der Politik wie von der Bildungswissenschaft nahezu unbemerkt bleibt
hingegen bis heute, dass das Ziel der Chancengleichheit für bildungsferne und
untere soziale Schichten überhaupt nicht erreicht wurde. Nach offizieller
Statistik bleiben Gymnasium und Universität bis heute das Privileg jener
Schichten, die schon Bildung haben: 52 Prozent der Universitätsstudierenden
haben einen Elternteil mit einem Hochschulabschluss. In etwas geringerem Mass
gilt dies auch für Studierende der pädagogischen und der Fachhochschulen (29
bzw. 32 Prozent mit einem akademischen Elternteil).
Was dies für die gesellschaftliche Chancengleichheit bedeutet, hat der
Berner Bildungssoziologe Rolf Becker vertieft untersucht. Danach hatten
Akademikerkinder des Jahrgangs 1985 eine 3,7-mal bessere Chance, auf die
höheren Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I zu wechseln, eine 5,7-mal
bessere Chance, ihre Schulbildung auf dem Langzeitgymnasium fortzusetzen, eine
4,8-mal bessere Chance, die Studienberechtigung zu erwerben, und eine 5,6-mal
bessere Chance, zu studieren, als gleichaltrige Kinder und Jugendliche von
Eltern mit vergleichsweise niedrigem Bildungsniveau.
Nun sind solche Unterschiede nicht von vorneherein negativ zu bewerten:
Das Bildungssystem beansprucht Talent und Leistungsfähigkeit als Kriterien der
Selektion, und ihre Messung durch Prüfungen und Schulnoten zeigt, dass diese
ungleich verteilt sind. Aber selbst bei Berücksichtigung aller
leistungsbezogenen Kriterien, so Becker, verbleiben Nettoeffekte der sozialen
Herkunft und spielen im mehrstufigen Selektionsprozess von der Sekundarstufe
bis zur Universität sogar eine gewichtige Rolle.
Die Tatsache, dass herkunftsbezogene Auslese auf allen Stufen wirksam
ist, könnte auch erklären, warum die Kompensation durch Stipendien wenig
auszurichten vermag: Stipendien bringen im Einzelfall Entlastung, werden aber
erst auf den letzten Selektionsstufen wirksam und erfassen all jene nicht, die
von den vorherigen, herkunftsbezogenen Benachteiligungen des Auswahlsystems
betroffen waren. Insgesamt ist die Bilanz ernüchternd: Leistungsfremde
Kriterien der sozialen Herkunft sind verantwortlich für eine starke soziale
Ungleichheit von Bildungschancen. Die Ergebnisse der meisten Studien zeigen,
dass sich daran trotz fünfzig Jahren Bildungsrevolution kaum etwas geändert
hat.
Wer auf Chancengleichheit hofft oder Selektion durch Leistung verlangt,
muss diesen Befund eigentlich für skandalös halten. Zwar kann man den nicht
intendierten Folgen der Bildungsexpansion auch einen Vorteil abgewinnen: Die
dem Hochschulsystem entgangenen Bildungsreserven sind nicht verloren, sondern
finden sich als überdurchschnittlich intelligente Leute in der
Berufsausbildung. Diese heben das Ausbildungsniveau und bringen, bei
entsprechender Leistungsbereitschaft, der Wirtschaft ein begabtes und begehrtes
Potenzial für die höhere Berufsausbildung.
Die Kehrseite indessen liegt auf der Hand: Nach Untersuchungen der
ETH-Verhaltensforscherin Elsbeth Stern bewegt sich der Intelligenzquotient
eines Drittels der Mittelschüler und Mittelschülerinnen unter dem Niveau jener
20 Prozent der Begabtesten, die nach ihrer Auffassung der Leistungsauslese ans
Gymnasium gehörten. Mit den Folgen haben die Universitäten umzugehen, die jeden
Maturanden und jede Maturandin prüfungsfrei zulassen müssen.
Der Schluss liegt nahe, dass Qualitätseinbussen gymnasialer Matur
aufgrund grösserer Selektionschancen von Akademikerkindern zustande kommen.
Risiken «falscher» Auslese sind auch anderswo zu orten. Die «Passerellen»,
welche den Übertritt von der höheren Berufsausbildung an die Fachhochschulen
und von diesen in die Universitäten erlauben, sind schmal und bleiben
statistisch gesehen Ausnahmewege. In umgekehrter Richtung drängen weit mehr
Absolventinnen und Absolventen mit gymnasialer Matur in einzelne
Ausbildungsgänge der Fachhochschulen. Tendenziell ist nicht auszuschliessen,
dass dabei Absolventen mit schwächerer akademischer Vorbereitung trotz
stärkerer Berufsausbildung den Kürzeren ziehen. Werden es Kinder aus unteren
Schichten künftig gar schwieriger haben?
Was wäre zu tun? Zunächst ist zu beachten, dass das Bildungssystem
eingebettet ist in eine Gesellschaft, die sich verändert. Zunehmende
wirtschaftliche Ungleichheiten - etwa der Lohnunterschiede - fördern eine
unerwünschte Hierarchisierung des Bildungssystems. Schichtspezifische
Unterschiede der Bewertung von Bildung nehmen dabei eher zu, und
unterschiedliche Einstellungen von Eltern beeinflussen das Bildungsverhalten
und die Bildungswahl ihrer Kinder. Die milieubedingte Distanz unterer Schichten
gegenüber «höherer Bildung» ist daher nicht ohne weiteres zu überwinden. Auch
die irrige, aber verbreitete Vorstellung in der Mittelschicht, wonach die
Universität die einzige valable Option für ihren Nachwuchs sei, wird aus den
Köpfen so bald nicht verschwinden.
Bei ihrem jüngsten Besuch an der ETH Zürich soll die italienische
Bildungsministerin Bewunderung dafür gezeigt haben, mit welcher Kompetenz und
Selbstverständlichkeit die Berufslehrlinge in den Labors mit den akademischen
Spitzenforschern zusammenarbeiten. Genau das aber - die hohe gegenseitige
Wertschätzung und die geringe soziale Distanz zwischen «Hand»- und «Kopfarbeit»
- sind Vorteile, die für die wirtschaftliche Kreativität und für das soziale
Zusammenleben der Schweiz entscheidend sind. Beide «Swissness»-Vorteile sind
gefährdet, wenn Wirtschaft und Bildungssystem den neuen Hierarchisierungen
nicht widerstehen. Das Tertiärsystem der höheren Bildung ist mit dem Ziel der
Verschiedenartigkeit, aber Gleichwertigkeit der Universitäts- und
Fachhochschulausbildung an sich auf dem richtigen Weg. Die besondere Qualität
der Fachhochschulen, nämlich ihr stärkerer Berufsbezug, darf allerdings nicht
verloren gehen. Ob und wie diese Herausforderung bewältigt wird, hat, wie oben
angedeutet, Konsequenzen auch für eine sinnvolle Leistungsauslese und die
soziale Chancengleichheit. Die höhere Berufsbildung schliesslich ringt zu Recht
um bessere Anerkennung im Tertiärsystem. Die Agenda reicht von den
Studienkosten bis zur Bezeichnung der Diplome.
Für das Bildungssystem insgesamt gibt Becker zu bedenken, dass eine
Expansion höherer Bildung - etwa durch eine massive Erhöhung der
Maturandenquote - das Problem der sozialen Chancenungleichheit keineswegs lösen
würde. Als aussichtsreich hält er dagegen eine Strategie, welche die Schranken
sozialer Herkunft möglichst schon im Vorschulalter, jedoch auf allen
Selektionsstufen des Bildungswegs durch differenzierte Massnahmen zu
neutralisieren sucht. Dies tun heute bereits viele Lehrkräfte auf individueller
Ebene mit viel Herzblut. Das reicht aber nicht aus, wenn Lehrpläne, Stoffe und
Kompetenzanforderungen vor allem auf das ausgerichtet sind, was die Mittelschicht
kann und für relevant hält.
Es wäre an der Zeit, dass die bildungspolitische Diskussion, die sich
neben Bedenkenswertem an vielen Nebensächlichkeiten aufhält, das zentrale
Problem sozialer Chancengleichheit und leistungsbezogener Selektion endlich aus
dem Schattendasein hervorholt. Der Weg zur Ausschöpfung der Begabtenreserven
bildungsferner Schichten mag dornenvoll sein, aber die Bildungsrevolution darf
nicht unvollendet bleiben.
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