23. Januar 2015

Frühförderung als Panikmache

Der Bund definiert die Sorge um das Wohl des Kindes als Aufgabe der Eltern. Im Zuge der Diskussion um den Zusammenhang von früher Förderung und Schulerfolg sind sie deshalb zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden. Grundsätzlich ist dies eine positive Entwicklung, denn die Familie ist lange genug ein politisches Stiefkind gewesen. Problematisch ist jedoch, dass die Vorstellung darüber, wie gute Erziehung aussehen soll, normativ geworden ist. Besonders beliebt sind die Begriffe «verantwortete Elternschaft» und «Kindswohl». 



Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Fribourg und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education, Bild: Coopzeitung

Perfekte Eltern als gesellschaftliches Produkt, NZZ, 23.1. von Margrit Stamm


Verantwortete Elternschaft meint, dass man keine Kinder in die Welt setzen soll, wenn man nicht in der Lage ist, sie gut zu erziehen und zu bilden. Das Kindswohl steht stellvertretend dafür, dass alle Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt werden müssen. Glücklich soll das Kind sein und eine optimale Kindheit haben. Väter und Mütter sehen sich mit hohen Erwartungen konfrontiert, die sie auch genau wahrnehmen. Doch die Norm, gute Eltern sein zu müssen, geht mit vielen Selbstzweifeln und Überforderungsgefühlen einher. Alles richtig zu machen und auf keinen Fall etwas zu verpassen, führt unweigerlich dazu, dass die ganze Aufmerksamkeit zu einer ängstlichen Sorge um das Kind wird.
Dies beginnt schon früh, denn den Eltern wird kontinuierlich eingetrichtert, dass die ersten Lebensjahre die wichtigsten überhaupt sind. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Aussage zwar richtig, doch die mit ihr verbundenen Drohungen - wer nicht möglichst früh seine Kinder fördere, nehme das Risiko verpasster Chancen und damit einen schlechten Schulstart in Kauf - haben deutliche Folgen. Dabei ist es nicht nur das Gebot der Frühförderung, das den Umgang der Eltern mit ihrem Nachwuchs stark beeinflusst. Es ist auch unsere Kultur der Angst und die damit verbundene Katastrophenrhetorik, das heisst die Überzeugung, dass mit Sicherheit etwas schiefgehen wird, wenn sich Eltern nicht um Expertenunterstützung bemühen.
Moralische Panikmache
Aus diesem gesellschaftlichen Druck ist für Eltern unweigerlich das verpflichtende Gefühl gewachsen, auf Biegen und Brechen das Bestmögliche aus dem Kind herausholen und dabei perfekte Eltern sein zu müssen. Leider ist das an sich gutgemeinte Gebot der optimalen und frühen Förderung zur moralischen Panikmache verkommen. So getrauen sich Mütter und Väter fast nicht mehr, einfach so und ohne Förderziel mit dem Kind zu spielen, zu schmusen oder ohne Ambitionen mit ihm in den Wald zu gehen. Auch die üblichen Auf und Ab in der kindlichen Entwicklung dürfen nicht mehr als Schicksal betrachtet werden. Vielmehr gelten sie als Erfolge oder Misserfolge, für die allein die Eltern verantwortlich sind.
Entsprechend riesig ist das Expertenangebot. Heute hat jede Etappe von Kindheit und Jugend ihre Spezialisten. Weil ihr Wissen demjenigen der Eltern überlegen ist, eignen sie sich als entlastende Hilfserzieher, welche die Probleme für sie lösen. So gibt es immer mehr Institutionen, die spezielle Sprechstunden für Kinder mit Trotzanfällen, für solche mit Schlafproblemen oder für Schreikinder anbieten. Früher wurden solche Auffälligkeiten zunächst einmal registriert, bevor man versuchte, sie intuitiv oder mit den Hausmittelchen der Verwandtschaft zu behandeln. Erst wenn alles nichts half, suchte man einen Spezialisten auf.
Mütter und Väter stecken in einem Teufelskreis. Sie werden von der Gesellschaft so instrumentalisiert, dass ihre Ängste kontinuierlich steigen und sie sich kaum mehr kompetent genug fühlen können. Ein Ausdruck solcher Unsicherheiten ist der hohe Konsum von Erziehungsratgebern. Tatsache ist, dass es noch nie ein so riesiges Angebot gegeben hat, viele schaffen es sogar auf die vorderen Plätze von Bestsellerlisten - teilweise auch berechtigt. Problematisch ist jedoch, dass Erziehungsratgeber zu einer Art Droge werden können. Wenn man von der Angst getrieben wird, etwas falsch zu machen, reicht einer nicht. Es braucht einen zweiten und dann einen dritten. Denn viele bieten sich geradezu als Verheissung an, die Erziehungsprobleme - zu lasch, zu streng, zu lieb, zu sorgend - zu lösen. Oft mit einem mahnenden Tonfall versehen und geschmückt mit der Etikette «von pädagogischen Fachleuten empfohlen», «pädagogisch erprobt» oder «wissenschaftlich getestet», vermitteln solche Ratgeber schnell die Botschaft, dass sie mehr von Erziehung verstehen als die Eltern selbst. Damit erwecken sie nicht nur den Eindruck, ihnen die Erziehung aus der Hand nehmen zu wollen, sondern rauben ihnen auch das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, den Nachwuchs gut zu erziehen. Was aber, wenn die Rechnung nicht aufgeht und es gar nicht die Eltern sind, welche für die Erziehungsprobleme verantwortlich sind, sondern diese eigentlich durch unsere Gesellschaft selbst hervorgebracht werden? Wenn heute 60 Prozent der Primarschulkinder bereits eine Therapie hinter sich haben, mindestens eines von zehn Kindern schon in psychotherapeutischer Behandlung war und mehr als 10 Prozent an Schul- und Prüfungsangst leiden, dann kann es sich kaum um eine von den Eltern selbst gemachte Problematik handeln.
Absurder «Elternführerschein»

Kinder sind heute nicht gestörter als früher, vielmehr produziert die gesellschaftliche Defizitsicht, verbunden mit der Schuldigsprechung der Eltern, so viele «gestörte» Kinder. Deshalb ist es falsch, von allen Eltern zu fordern, einen «Elternführerschein» zu erwerben, um «gute» Eltern sein zu können. Schliesslich müsse man ja auch eine Fahrprüfung bestehen, um Auto fahren zu dürfen. Obwohl es gewisse Gruppen von Eltern gibt, die solche Kurse notwendig brauchen, trifft dies für den grossen Teil der Väter und Mütter nicht zu. Sie brauchen keine Elternschule, sondern eine elternfreundlichere Gesellschaft. Eine solche versteht Eltern grundsätzlich als fähige und kompetente Erzieher und nicht als der Hilfe bedürftige Versager.

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