Der Bund definiert die
Sorge um das Wohl des Kindes als Aufgabe der Eltern. Im Zuge der Diskussion um
den Zusammenhang von früher Förderung und Schulerfolg sind sie deshalb zum
Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden. Grundsätzlich ist dies eine
positive Entwicklung, denn die Familie ist lange genug ein politisches
Stiefkind gewesen. Problematisch ist jedoch, dass die Vorstellung darüber, wie
gute Erziehung aussehen soll, normativ geworden ist. Besonders beliebt sind die
Begriffe «verantwortete Elternschaft» und «Kindswohl».
Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Fribourg und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education, Bild: Coopzeitung
Perfekte Eltern als gesellschaftliches Produkt, NZZ, 23.1. von Margrit Stamm
Verantwortete
Elternschaft meint, dass man keine Kinder in die Welt setzen soll, wenn man
nicht in der Lage ist, sie gut zu erziehen und zu bilden. Das Kindswohl steht
stellvertretend dafür, dass alle Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt werden
müssen. Glücklich soll das Kind sein und eine optimale Kindheit haben. Väter
und Mütter sehen sich mit hohen Erwartungen konfrontiert, die sie auch genau
wahrnehmen. Doch die Norm, gute Eltern sein zu müssen, geht mit vielen
Selbstzweifeln und Überforderungsgefühlen einher. Alles richtig zu machen und
auf keinen Fall etwas zu verpassen, führt unweigerlich dazu, dass die ganze
Aufmerksamkeit zu einer ängstlichen Sorge um das Kind wird.
Dies beginnt schon früh,
denn den Eltern wird kontinuierlich eingetrichtert, dass die ersten Lebensjahre
die wichtigsten überhaupt sind. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Aussage
zwar richtig, doch die mit ihr verbundenen Drohungen - wer nicht möglichst früh
seine Kinder fördere, nehme das Risiko verpasster Chancen und damit einen
schlechten Schulstart in Kauf - haben deutliche Folgen. Dabei ist es nicht nur
das Gebot der Frühförderung, das den Umgang der Eltern mit ihrem Nachwuchs
stark beeinflusst. Es ist auch unsere Kultur der Angst und die damit verbundene
Katastrophenrhetorik, das heisst die Überzeugung, dass mit Sicherheit etwas
schiefgehen wird, wenn sich Eltern nicht um Expertenunterstützung bemühen.
Moralische
Panikmache
Aus diesem
gesellschaftlichen Druck ist für Eltern unweigerlich das verpflichtende Gefühl
gewachsen, auf Biegen und Brechen das Bestmögliche aus dem Kind herausholen und
dabei perfekte Eltern sein zu müssen. Leider ist das an sich gutgemeinte Gebot
der optimalen und frühen Förderung zur moralischen Panikmache verkommen. So
getrauen sich Mütter und Väter fast nicht mehr, einfach so und ohne Förderziel
mit dem Kind zu spielen, zu schmusen oder ohne Ambitionen mit ihm in den Wald
zu gehen. Auch die üblichen Auf und Ab in der kindlichen Entwicklung dürfen
nicht mehr als Schicksal betrachtet werden. Vielmehr gelten sie als Erfolge
oder Misserfolge, für die allein die Eltern verantwortlich sind.
Entsprechend riesig ist das
Expertenangebot. Heute hat jede Etappe von Kindheit und Jugend ihre Spezialisten.
Weil ihr Wissen demjenigen der Eltern überlegen ist, eignen sie sich als
entlastende Hilfserzieher, welche die Probleme für sie lösen. So gibt es immer
mehr Institutionen, die spezielle Sprechstunden für Kinder mit Trotzanfällen,
für solche mit Schlafproblemen oder für Schreikinder anbieten. Früher wurden
solche Auffälligkeiten zunächst einmal registriert, bevor man versuchte, sie
intuitiv oder mit den Hausmittelchen der Verwandtschaft zu behandeln. Erst wenn
alles nichts half, suchte man einen Spezialisten auf.
Mütter und Väter stecken in
einem Teufelskreis. Sie werden von der Gesellschaft so instrumentalisiert, dass
ihre Ängste kontinuierlich steigen und sie sich kaum mehr kompetent genug
fühlen können. Ein Ausdruck solcher Unsicherheiten ist der hohe Konsum von
Erziehungsratgebern. Tatsache ist, dass es noch nie ein so riesiges Angebot
gegeben hat, viele schaffen es sogar auf die vorderen Plätze von
Bestsellerlisten - teilweise auch berechtigt. Problematisch ist jedoch, dass
Erziehungsratgeber zu einer Art Droge werden können. Wenn man von der Angst
getrieben wird, etwas falsch zu machen, reicht einer nicht. Es braucht einen
zweiten und dann einen dritten. Denn viele bieten sich geradezu als Verheissung
an, die Erziehungsprobleme - zu lasch, zu streng, zu lieb, zu sorgend - zu
lösen. Oft mit einem mahnenden Tonfall versehen und geschmückt mit der Etikette
«von pädagogischen Fachleuten empfohlen», «pädagogisch erprobt» oder
«wissenschaftlich getestet», vermitteln solche Ratgeber schnell die Botschaft,
dass sie mehr von Erziehung verstehen als die Eltern selbst. Damit erwecken sie
nicht nur den Eindruck, ihnen die Erziehung aus der Hand nehmen zu wollen,
sondern rauben ihnen auch das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, den Nachwuchs
gut zu erziehen. Was aber, wenn die Rechnung nicht aufgeht und es gar nicht die
Eltern sind, welche für die Erziehungsprobleme verantwortlich sind, sondern
diese eigentlich durch unsere Gesellschaft selbst hervorgebracht werden? Wenn
heute 60 Prozent der Primarschulkinder bereits eine Therapie hinter sich haben,
mindestens eines von zehn Kindern schon in psychotherapeutischer Behandlung war
und mehr als 10 Prozent an Schul- und Prüfungsangst leiden, dann kann es sich
kaum um eine von den Eltern selbst gemachte Problematik handeln.
Absurder
«Elternführerschein»
Kinder sind heute nicht
gestörter als früher, vielmehr produziert die gesellschaftliche Defizitsicht,
verbunden mit der Schuldigsprechung der Eltern, so viele «gestörte» Kinder.
Deshalb ist es falsch, von allen Eltern zu fordern, einen «Elternführerschein»
zu erwerben, um «gute» Eltern sein zu können. Schliesslich müsse man ja auch
eine Fahrprüfung bestehen, um Auto fahren zu dürfen. Obwohl es gewisse Gruppen
von Eltern gibt, die solche Kurse notwendig brauchen, trifft dies für den
grossen Teil der Väter und Mütter nicht zu. Sie brauchen keine Elternschule,
sondern eine elternfreundlichere Gesellschaft. Eine solche versteht Eltern
grundsätzlich als fähige und kompetente Erzieher und nicht als der Hilfe
bedürftige Versager.
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