Pädagogische Argumente werden ausgeblendet, Bild: Regina Kühne
Sprachenstreit wird Fall für die Justiz, Tages Anzeiger, 18.12. von Anja Burri
Im emotionalen Streit um den
Fremdsprachenunterricht geht es längst nicht mehr um pädagogische Argumente.
Die Frage, welche Fremdsprachen die Primarschüler lernen sollen, ist zu einem
Politikum geworden. Nun erreicht der Streit eine neue Dimension: Bald werden
wohl die Richter über die Fremdsprachenfrage entscheiden müssen.
Die Bündner Regierung will nämlich die
Fremdspracheninitiative in ihrem Kanton für ungültig erklären lassen. Gestern
veröffentlichte Erziehungsdirektor Martin Jäger die Botschaft zuhanden des
Kantonsparlaments. Die Volksinitiative, die verlangt, dass Bündner
Primarschüler nur noch eine Fremdsprache lernen müssen, verletze Bundesrecht
und die Kantonsverfassung, begründet die Regierung den drastischen Schritt. Sie
stützt sich auf ein Gutachten des St. Galler Rechtsprofessors Bernhard
Ehrenzeller.
Die Initianten zeigen kein Verständnis: «Das Thema
ist für uns sicher nicht gegessen», sagt Jöri Luzi vom Initiativkomitee. Man
werde das Gutachten analysieren, das weitere Vorgehen festlegen und sicher auch
das Erstellen eines Gegengutachtens prüfen. Segnet das Parlament die
Ungültigkeitserklärung ab, könnten die Initianten vor Gericht gehen.
Regierungsrat Jäger selber rechnet damit, dass die Frage wohl erst vor
Bundesgericht entschieden werde. «Ein Lausanner Entscheid hätte Signalwirkung
für die ganze Schweiz», sagt er. Die Bündner Fremdspracheninitiative schade dem
dreisprachigen Kanton besonders, weil sie die Sprachregionen gegeneinander
ausspiele.
Interessant für die ganze Schweiz
Die Entwicklung in Graubünden ist für die ganze Schweiz interessant.
Zurzeit laufen in rund einem halben Dutzend Kantonen Bestrebungen, die zweite
Fremdsprache aus derPrimarschule zu
streichen. Müssen nun alle Komitees befürchten, dass ihre Initiativen für
ungültig erklärt werden? Aus Sicht des Rechtsprofessors Ehrenzeller schon: Die
Widersprüche zum Bildungsartikel in der Verfassung und zum Sprachengesetz seien
auf alle Kantone anwendbar, in denen es Fremdspracheninitiativen gebe.
«Die Bundesverfassung verpflichtet die Kantone zur
Harmonisierung des Schulwesens», sagt Ehrenzeller, der selber an diesem
Bildungsartikel mitgearbeitet hat. Die Kantone hätten aufgrund der Verfassung
eigene Regeln definiert – etwa den sogenannten Sprachenkompromiss mit zwei
Fremdsprachen in der Primarschule. Es sei nicht vorgesehen, dass ein Kanton
wieder ausschere und seine eigene Lösung wähle. Die «reine Schulhoheit der
Kantone» gebe es nicht mehr, seit der 2006 vom Stimmvolk angenommene
Bildungsartikel in Kraft sei.
«Es besteht Harmonisierungspflicht»
Aus Ehrenzellers Sicht widersprechen die
Fremdspracheninitiativen in Nidwalden, Luzern oder anderswo auch dem
Sprachengesetz des Bundes. Dort steht, dass die Schüler am Ende der obligatorischen
Schulzeit über «Kompetenzen in mindestens einer zweiten Landessprache und einer
weiteren Fremdsprache» verfügen müssen. Die Nidwaldner Regierung möchte den
Französischunterricht auf die Sekundarstufe verschieben.
Dort soll es mehr Lektionen geben und sogar einen
Sprachaustausch. Sie geht davon aus, dass das Sprachengesetz so eingehalten
wird. Ehrenzeller widerspricht: «Wer das Sprachengesetz so liest, verkennt
dessen Bedeutung.» Man müsse auch die Entstehungsgeschichte berücksichtigen.
Das Parlament habe diese zurückhaltende Formulierung bewusst so verabschiedet,
weil sich die Kantone bereits auf den Sprachenkompromiss geeinigt hätten.
Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
(EDK) teilt die Einschätzung des Gutachters zum Bildungsartikel in der
Verfassung. «Wir sind der Meinung, dass für alle Kantone auch in der
Sprachenfrage eine Harmonisierungspflicht besteht», sagt der EDK-Präsident und
baselstädtische Erziehungsdirektor Christoph Eymann.
Widerspruch aus Freiburg
Anders sieht es der Freiburger
Staatsrechtsprofessor Bernhard Waldmann: Der Harmonisierungsauftrag der
Verfassung müsse so ausgelegt werden, dass er bloss Ziele für Schulstufen
vorgebe und nicht für einzelne Fächer. Ansonsten verkäme die ebenfalls in der
Verfassung verankerte kantonale Schulhoheit zur Leerformel. Der
Sprachenkompromiss der Kantone gehe darüber hinaus, weil er bereits
fächerspezifische Inhalte vorgebe. «Ein Ausscheren einzelner Kantone muss daher
nicht zwingend eine Verletzung von Art. 62 Abs. 4 der Bundesverfassung zur
Folge haben», schrieb er kürzlich in einem Meinungsbeitrag für die NZZ.
Angesichts der bestehenden Unklarheiten würde auch Waldmann einen Entscheid des
Bundesgerichts begrüssen.
Die betroffenen Kantone reagieren unterschiedlich
auf die Entwicklungen. In St. Gallen hat die Regierung kürzlich eine
Volksinitiative, die den Lehrplan 21 aushebeln und die zweite Fremdsprache aus
der Primarstufe streichen will, bereits in der Vorprüfung für ungültig
erklärt. Auch dort läuft es auf einen Rechtsstreit hinaus: Die Initianten haben
beim Verwaltungsgericht Beschwerde erhoben. Die Thurgauer Regierung, die im
Auftrag ihres Parlaments das Frühfranzösisch abschaffen muss, schreibt: Der
Bildungsartikel in der Verfassung sei «auslegungsbedürftig in Bezug auf Weg und
Ausmass der Harmonisierung». Es sei heute noch nicht klar, ob die Kantone den
Harmonisierungsauftrag erfüllten. «Die Kantone werden dazu Mitte 2015 Bilanz
ziehen.»
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