4. Dezember 2014

"Ein teures Projekt, das nichts bringt"

«Man muss etwas machen, aber doch nicht so!» Diesen Satz verwendete Alain Pichard in seinem Referat bei der Staatsbürgerlichen Gesellschaft Thun zum Thema «Die heutige Bildungspolitik aus der Sicht eines Praktikers» mehr als nur einmal. Der Bieler, der seit 34 Jahren als Lehrer tätig ist, kritisierte den Lehrplan 21, da dieser viel mehr sei als nur eine Reform des alten Lehrplans. «Dieser Lehrplan führt in eine völlig andere Schule. Es ist ein gross angelegter Steuerungsversuch der Volksschule», meinte der streitbare Pädagoge und Kolumnist.
"Ein teures Projekt, das nichts bringt", Thuner Tagblatt, 4.12. von Damaris Oesch



Alain Pichard kritisierte auch die Entstehung des neuen Lehrplans: «Der Lehrplan 21 entstand in einem hermetisch abgeschlossenen Labor.» Praktiker wie er seien dabei ausgeschlossen worden, da die Lehrer im hiesigen Bildungssystem nur noch als Erfüllungsgehilfen gebraucht würden, sie aber kaum in schul- und bildungspolitischen Fragen zu Wort kämen. Der Initiant des lehrplankritischen Memorandums «550 gegen 550» hat gemeinsam mit den tausend Lehrkräften, welche dieses unterzeichnet haben, die dritte und letzte Version des neuen Lehrplans analysiert und ist auch mit der überarbeiteten Fassung nur bedingt zufrieden. Die endgültige Version, die am 7.November der Öffentlichkeit präsentiert wurde, wurde um 20 Prozent gekürzt. Dabei sei nicht die Länge der Kritikpunkt gewesen, so Pichard. «Das Problem ist die Kompetenzorientierung des Lehrplans.» Der Lehrplan bestehe komplett aus der Theorie von Franz Weinert und sei deshalb auf dem Konstruktivismus aufgebaut. «Das bedeutet, dass es keine gemeinsame Wahrheit gibt. Das Kind muss seine Lerninhalte selbst festlegen», erklärte Pichard, der dasPublikum im Hotel Freienhof immer wieder mit seinen pointierten Aussagen überraschte. «Es ist eine Standardisierung auf Kosten der Imagination», sagte er weiter. Er zeigte sich überzeugt davon, dass sich der Lehrplan 21 nahtlos in die Reihe gescheiterter Bildungsreformen einfügen wird. «Am Ende ist es eine Selbsttäuschung: ein teures Projekt, das nichts bringt.»

Weisheit der Praktiker
Alain Pichard rundete sein Referat vor den über hundert Anwesenden mit seiner Vision der perfekten Schule ab. Diese hängt sehr stark mit den Ergebnissen des Bildungsforschers John Hattie zusammen. Hattie fand heraus, dass erfolgreiches Lernen nicht massgeblich durch offenen Unterricht oder individuelles Lernen gesteigert wird, sondern vielmehr durch offene Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern und direkte Instruktionen. «Lernen bedeutet für mich, Probleme zu lösen. Ein guter Lehrer muss den Schülern den Sinn des Lernens vermitteln können und sie dazu ermutigen», erklärte Alain Pichard. «Die Geschichte der grossen Reformen ist gescheitert. Praktische Vorbilder sind gefragt», sagte er zum Schluss seines Referats, bevor er die hauptsächlich älteren Zuhörer mit dem Appell entliess, die Gedanken weiterzutragen und in die Tat umzusetzen.

Angeregte Diskussionsrunde
Bei der anschliessenden Austausch- und Fragerunde wurde darüber diskutiert, wie man die nach Ansicht Pichards negative Entwicklung in der Bildungspolitik stoppen könnte. «Da man mit Bildung sehr viel Geld verdienen kann, wird es schwierig, diesen Lehrplan noch zu stoppen», meinte der Referent dazu. Hinter dem Projekt stecke viel mehr als nur ein banaler Lehrplan. Im Publikum wurden Begriffe wie «Sauerei» oder «Horrorszenario» dazu verwendet, den Lehrplan zu beschreiben. Einige berichteten von eigenen Erlebnissen, welche sie schockiert hatten. Andere führten die Tatsache an, dass 16 bis 20 Prozent der Schulabgänger in der Schweiz funktionale Analphabethen sind. «Für das teuerste Schulsystem der Welt ist das eine Schande. Wir sollten dort ansetzen und nicht beim Frühfranzösisch», sagte Alain Pichard bestimmt.

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