21. November 2014

Wenn Schulen zu sehr integrieren

Der Erziehungswissenschafter Bernd Ahrbeck kritisiert, dass in Schulen behinderte und nichtbehinderte Schüler in die gleichen Klassen gesteckt werden. Er fordert, dass man sich von Illusionen der Gleichheit verabschiedet, die den Kindern am Ende nur schaden.




"Es geht ja nicht nur um die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit, sondern auch um Förderung", Bild: Jens Umbach

Wenn Schulen zu sehr integrieren, Weltwoche, 47/2014 von Daniela Niederberger



Herr Ahrbeck, Sie kritisieren die Integra­tion von behinderten und verhaltensauffälligen Kindern in die normale Schule. Weshalb? Das ist doch eine gute Sache: Die Behinderten werden nicht mehr weg­gesperrt, und die Klassen profitieren von der Vielfalt.
Kann man heute noch sagen, Kinder, die ­eine spezielle Einrichtung besuchen, werden weggesperrt? Als würden sie ausgeschlossen aus dem Leben. Wir leben doch nicht mehr in den Zeiten riesiger Massenasyle, die es früher für psychisch Kranke und geistig Behinderte gab. In Sonderschulen und -klassen gibt es ein erhebliches Mass an Fürsorge, Interesse und Aufmerksamkeit. Deswegen sind die simplen Gleichungen, schulische Gemeinsamkeit heisse ­Inklusion ins Leben und spezielle Einrichtungen bedeuteten Exklusion aus dem ­Leben, schlicht falsch. Die Schweiz hat kürzlich die Uno-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Diese Konvention steht für die Rechte Behinderter und nicht für bunte Vielfalt. Es sollen alle Kinder Zugang zu einem allgemeinen kostenlosen Schulsystem haben. In Deutschland werden alle behinderten Kinder beschult, in der Schweiz auch. In Frankreich ist das nicht der Fall. Dort gibt es 20000 Schüler, die keine schulische Bildung erhalten. Die bleiben zu Hause. In Rumänien und Bulgarien ist noch nicht einmal die allgemeine Schulpflicht durchgesetzt, und ein Grossteil der Behinderten wird überhaupt nicht beschult. Das bedeutet: Die Ausgangslage in Deutschland und in der Schweiz ist aus­serordentlich gut. Es gibt ein hohes Mass an Sich-Engagieren und Sich-Kümmern.
Trotzdem: Ist es nicht besser, wenn mehr Behinderte in die normale Schule gehen?
Im Allgemeinen schon. Früher hiess es, behindert gleich Sonderschule, heute heisst es, behindert gleich allgemeine Schule. Das Begründungsverhältnis hat sich umgekehrt. Es steht aber mit keinem Wort in der Uno-Konvention, dass es keine Sonderschulen geben darf. Dort steht, niemand dürfe diskriminiert werden, weil er spezielle Massnahmen braucht. Nun frage ich Sie, wie können Kinder sich in der Gebärdensprache überhaupt entwickeln, wenn sie keine anderen Kinder um sich herum ­haben, die in der Gebärdensprache kommunizieren?
Das wird schwierig.
Genau. Sie müssen mit ihresgleichen zusammen sein, sonst verkümmern sie. Bei heilpädagogischen Einrichtungen ist die Frage: Nutzen die den Kindern oder schaden sie? Und man muss auch fragen: Nutzt die Integration allen Kindern – oder kann sie auch schaden?
Und, kann sie schaden?
Natürlich kann sie das. Das ist doch vollkommen klar. Sie schadet den Kindern, die im normalen Schulsystem nicht zurechtkommen. Das sind zum Beispiel Kinder mit psychischen Erkrankungen und schweren Verhaltensstörungen. In Deutschland ist es so, dass die Bundesländer, die keine speziellen Einrichtungen für diese Kinder haben, sie immer häufiger in psychiatrische Einrichtungen schicken, sie in anderen Bundes­ländern unterbringen oder ins Ausland ver­schieben.
Warum schadet die Integration den Verhaltensauffälligen? Die sehen in der Regel­schule die Normalen, an denen sie sich orientieren können. Wenn sie unter lauter Kranken und Gestörten sind, werden sie kaum ­gesund.
Ich glaube nicht so sehr an die Heilkraft der Normalität. Die Kinder, die später massive Probleme bekommen, haben diese oft schon zu Beginn der Schule. Und sie verstärken sich in den ersten vier, fünf Jahren immer weiter. ­Obwohl sie normale Kinder um sich haben, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand oder das störende Verhalten nimmt zu. Also heilt die Normalität nicht. Was wir bei diesen Kindern sehr deutlich sehen: dass sie stark am Rande stehen, abgelehnt und gemobbt werden. Sie gehören oft nicht zum Kern der Klasse. Man muss auf den Einzelfall ein­gehen. Warum soll ein Kind im Rollstuhl nicht in die allgemeine Schule gehen? Wenn jemand schwerer behindert ist, kann das ­anders sein. Wir hatten in Deutschland eine grosse Diskussion um Henry, ein Kind mit Down-Syndrom, das aufs Gymnasium sollte.
Geht das?
Eigentlich nicht. Er ist dort überhaupt nicht anschlussfähig. Bei Kindern mit leichteren Lernbeeinträchtigungen ist das anders. Eine Schweizer Studie ergab, dass sie integrativ mehr lernen, weil sie mehr Anregungen erhalten. Das leuchtet ein. Die gleiche Studie zeigt aber auch, dass sie oft sozial wenig integriert sind und sich nicht gut fühlen. Beide Systeme haben Vor- und Nachteile. Es gibt keine wissenschaftlichen Befunde, die belegen, dass die Integration immer besser ist. Oft mag das der Fall sein, aber es gibt klare Hinweise dafür, dass für manche Kinder spezielle Einrichtungen besser sind, weil sie dort besser gefördert werden und sich wohler fühlen.
Behinderung wird immer mehr als Form von Anderssein angesehen wie die Hautfarbe oder das Geschlecht. «Vielfalt ist bereichernd», wird gesagt. Das ist doch schön.
Es ist gut, wenn sich die Gesellschaft noch mehr bewusst wird, dass es behinderte Menschen gibt und dass sie zum allgemeinen ­Leben dazugehören. Da haben wir schon ­einiges erreicht. Die Frage ist doch, ob gegenwärtig Behinderung und Förder­bedürftigkeit zu sehr nivelliert werden. Denn es geht ja nicht nur um die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit, sondern auch um Förderung. Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder einem anderen Glauben brauchen keine Förderung. Homosexuelle auch nicht.
Besteht die Gefahr, dass man nicht alle ­Fördermöglichkeiten ausschöpft, wenn man ­Behinderung nur als Anderssein sieht?
Ja, eindeutig. Das kommt darin zum Ausdruck, dass in der Fachdiskussion gefordert wird, den Begriff Behinderung abzuschaffen. Und das zeigt sich in der Vorstellung, man könne Behinderte auch in der allgemeinen Schule genügend fördern, wenn man sie als Personen anerkennt und guten Willens ist. Doch das reicht nicht aus. Es bedarf klarer Fachkategorien, um mit diesen Menschen richtig umgehen zu können.
Ein normaler Primarschullehrer, der kann das doch.
Am Anfang der Schulzeit und bei manchen Behinderungen ist das relativ leicht. Bei ­anderen Beeinträchtigungen geht es eben nicht, weil die Verhältnisse zu kompliziert sind. Das hat zu tun mit der Zeit, die zur Verfügung steht, oder mit fachlichen Qualifikationen, die fehlen. Wenn Sie als Lehrerin sprachbehinderte Kinder in der Klasse haben, Stotterer, Polterer – was wollen Sie da machen? Da brauchen Sie eine spezielle Ausbildung. Und Kinder mit Verhaltensstörungen, die verhalten sich ja oft so, dass man nicht verstehen kann, was mit ihnen los ist. Wenn man nur mit den üblichen pädagogischen Mitteln auf sie eingeht, besteht die Gefahr, dass es ihnen eher noch schlechter geht. Die Sonderpädagogik ist, historisch gesehen, entstanden, weil die allgemeine Schule mit manchen Kindern nicht zurechtgekam.
Man kann auch sagen: Die allgemeine Schule entledigt sich schwieriger Kinder, damit ihre Arbeit einfacher wird.
Das stimmt einerseits. Man kann die Sache aber auch umkehren und fragen: «Sind Lehrer unter allen Bedingungen in der ­Lage, mit schwierigen Kindern umzu­gehen?» Oder gibt es den Punkt, wo man ­sagen muss: «Das geht nicht mehr.» Die ­gesonderte Beschulung ist nicht nur ein Ausschluss aus der bisherigen Klasse. Es geht auch um die Aufnahme an einen Ort, an dem sie besser aufgehoben sind.
Kürzlich habe ich das Porträt eines Mädchens, Andrea, gelesen, das ein Down-Syndrom hat und in die öffentliche Oberstufe geht. Im Bericht wird eine Geschichtslek­tion beschrieben: Der Lehrer steht am Hellraumprojektor und erzählt von den alten Griechen. Neben Andrea sitzt eine Heil­pädagogin, ihre stete Betreuerin, und übersetzt, vereinfacht. Alleine ­könnte Andrea dem Unterricht nicht folgen. Deutsch und Mathe hat sie nicht zusammen mit ihrer Klasse. Ist das Integration? Ist das gut?
Das weiss man nicht. Es zeigt zumindest, dass Integration nur mit spezieller Unterstützung geht. Klar ist aber auch, dass das Kind als ein besonderes auffällt. Es hat einen Betreuer. Menschen mit geistiger Behinderung haben ein besonderes Problem. Sie sind in keiner Form an das später gegliederte Schulsystem anschlussfähig. Hier entstehen leicht Illusionen: Profitieren sie wirklich? Finden sie Freunde, sind sie nur akzeptiert? Ich glaube, im besten Fall sind sie akzeptiert. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, es wird umso schwieriger, je älter das Kind wird. In der Pubertät werden sie immer mehr ausgeschlossen.
Sie gehören nicht wirklich dazu?
Ich glaube nicht. Sie würden, auch wenn man das kaum noch aussprechen darf, vermutlich keinen schwer geistig behinderten Mann ­heiraten. Man muss sich vor der idyllischen Vorstellung schützen, nur durch den Schulbesuch sei das Kind ins Leben integriert.
Weiss man, ob es Behinderten wohl ist unter Nichtbehinderten oder ob sie lieber unter ­ihresgleichen sind?
Ich bin viel unterwegs in dieser Sache. Ich ­höre Mütter, die sagen, die ersten vier Jahre in der Grundschule gingen mit einem Kind mit Down-Syndrom gut. Es gibt aber immer wieder Mütter, die berichten, ihr Kind sei isoliert, es fühle sich unwohl, wolle nicht mehr zur Schule gehen und sei hochgradig erleichtert, wenn es unter anderen Kindern mit Behinderung sei. Ich kenne einen blinden Psychologen, der sagt, er sei in der allgemeinen Schule gewesen, und das sei gut gegangen. In der Pubertät sei es aber schwieriger geworden, weil die anderen sich immer über das Aussehen von Frauen unterhalten hätten, über Motorräder, Autos. Er war froh, als er aufs Gymna­sium für Blinde kam, da hatte er endlich Leute, mit denen er über Musik ­reden konnte.
Der Vater eines fünfzehnjährigen Behinderten schrieb in einem Kommentar, sein Sohn sei glücklich in der Sonderschule. «Immer und überall der Schlechteste zu sein, werde ich ihm nie zumuten.»
Da ist was dran. Auf der Sonderschule ist das Kind auch mal das bessere, dafür ist es von den anderen getrennt. In der allgemeinen Schule wird das Kind oft gekränkt, weil es das letzte ist.
Oder merken geistig Behinderte gar nicht, dass sie die Schlechtesten sind?
Natürlich merken sie das. Und es macht ­ihnen auch etwas aus.
Kinder sind ja brutal direkt, wenn es darum geht, wer der Bessere ist.
Mitunter schon. Wie heisst das bei Josef ­Joffe, dem ehemaligen Zeit-Herausgeber: «Anders als progressive Pädagogen verstehen schon Kinder den Sinn von Wett­bewerb.»
Wenn man Gruppen von Menschen mit Down-Syndrom sieht, hat man oft das ­Gefühl, die haben es lustig.
Ich war kürzlich in einer Werkstätte für ­Behinderte in Leverkusen. Ich hab selten so glückliche Menschen gesehen. Die froh ­waren, dass sie etwas leisten, was anerkannt ist. Die haben einen Ort gefunden, wo es ­ihnen richtig gut geht.
Woher kommt diese Idee, Behinderung sei nur eine Form von Vielfalt?
Sie soll verhindern, dass behinderte Menschen in die Ecke geschoben und abgelehnt werden. Das gibt es nach wie vor. Wahrscheinlich haben wir Menschen eine Neigung, all das, was uns fremd und nicht nur schön ist, von uns wegzuhalten. Die vermehrte Akzeptanz, die die Uno-Konven­tion fordert, ist deshalb richtig. Nur, sie hat für uns in Deutschland und in der Schweiz nicht den Neuigkeitswert wie in anderen Ländern, wo es darum geht, dass erst mal elementare Grundrechte gesichert werden. Nun soll sogar der Begriff «behindert» abgeschafft werden. Aber sie müssen doch, wenn sie sich einem Kind ernsthaft zuwenden, klären, was los ist. Sie brauchen Begriffe, mit denen sie seelische Nöte und Beeinträchtigungen beschreiben können. Wenn man alle Begriffe abschafft, ist man diesen Menschen gegenüber pädagogisch hilflos.
Das Angewiesensein und das Hilfebeanspruchen haben einen schlechten Ruf. Autonomie und Selbständigkeit werden in unserer Zeit sehr viel höher gewertet.
Es gab im Laufe der Jahre grosse Erfolge. Das Potenzial von Behinderten wird mehr erkannt. Heute sind sie erfolgreicher und emanzipierter. Das ist gut. Aber behinderte Menschen können auch auf jemanden angewiesen und abhängig sein. Diese ­Seite wird ungern gesehen. Man glaubt leicht, dass sie Förderung nicht mehr brauchen. In der Diskussion um jugendliche Gewalttäter wird von Fachleuten gern gesagt, diese Kinder seien «Experten ihres Lebens». Das ist abwegig. Natürlich muss man so einen Menschen fragen: «Wie siehst du dein Leben, wo stehst du und wo willst du hin?» Aber ­offensichtlich scheitern sie, sie können etwas nicht, und sie brauchen andere, die ihnen weiterhelfen.
Was soll das bedeuten, sie sind «Experten ­ihres Lebens»?
Dass man sich in den Hilfeleistungen den Wünschen dieser Jugendlichen unterordnen und in grossem Masse das Herkunftsmilieu dieser Kinder anschauen und schätzen soll. Vielfalt ist begrüssenswert. Aber das kann doch nur eine positive Vielfalt sein. Zum ­Leben gehört, dass Kinder gewalttätig behandelt und sexuell missbraucht werden. Diese Vielfalt ist inakzeptabel und schrecklich.
Oft wird gesagt, man müsse die Behinderten von gesellschaftlichen Einschränkungen ­befreien. Aber die Behinderung ist da, die ist naturgegeben. Ich denke dann immer – das tönt jetzt blöd –, ich kann auch nicht Primaballerina werden. Barrieren sind überall.
Ich kann nicht tanzen, ich hab kein Rhythmusgefühl. Häufig besteht die Illu­sion, wenn man gesellschaftliche Barrieren entferne, existiere das Phänomen der Behinderung gar nicht mehr. Natürlich muss man Barrieren wegräumen. Die Leute müssen mit dem Rollstuhl überall hinkommen, es braucht Gebärdendolmetscher. Aber man muss auch anerkennen, dass es Barrieren gibt, die mit der Person zu tun haben. Manche sagen, dass das Beschreiben von Behinderung, allein indem man es tut, schon ein diskriminierender Akt ist. Das ist Unsinn. Man muss Unterschiede benennen können. Damit werte ich doch den Menschen nicht ab. Andererseits: Das Wort «behindert» wird noch nicht ganz so neutral gebraucht, wie man es sich wünschen würde.
Es ist bei Jugendlichen ein Schimpfwort: «Du Behinderter!»

Ja. Oder sie sagen: «Du Spastiker.»

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