"Es geht ja nicht nur um die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit, sondern auch um Förderung", Bild: Jens Umbach
Wenn Schulen zu sehr integrieren, Weltwoche, 47/2014 von Daniela Niederberger
Herr
Ahrbeck, Sie kritisieren die Integration von behinderten und
verhaltensauffälligen Kindern in die normale Schule. Weshalb? Das ist doch eine
gute Sache: Die Behinderten werden nicht mehr weggesperrt, und die Klassen
profitieren von der Vielfalt.
Kann man heute noch sagen,
Kinder, die eine spezielle Einrichtung besuchen, werden weggesperrt? Als
würden sie ausgeschlossen aus dem Leben. Wir leben doch nicht mehr in den
Zeiten riesiger Massenasyle, die es früher für psychisch Kranke und geistig
Behinderte gab. In Sonderschulen und -klassen gibt es ein erhebliches Mass an
Fürsorge, Interesse und Aufmerksamkeit. Deswegen sind die simplen Gleichungen,
schulische Gemeinsamkeit heisse Inklusion ins Leben und spezielle
Einrichtungen bedeuteten Exklusion aus dem Leben, schlicht falsch. Die Schweiz
hat kürzlich die Uno-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Diese
Konvention steht für die Rechte Behinderter und nicht für bunte Vielfalt. Es
sollen alle Kinder Zugang zu einem allgemeinen kostenlosen Schulsystem haben.
In Deutschland werden alle behinderten Kinder beschult, in der Schweiz auch. In
Frankreich ist das nicht der Fall. Dort gibt es 20 000 Schüler, die keine
schulische Bildung erhalten. Die bleiben zu Hause. In Rumänien und Bulgarien
ist noch nicht
einmal die allgemeine Schulpflicht durchgesetzt, und ein Grossteil der
Behinderten wird überhaupt nicht beschult. Das bedeutet: Die Ausgangslage in
Deutschland und in der Schweiz ist ausserordentlich gut. Es gibt ein hohes
Mass an Sich-Engagieren und Sich-Kümmern.
Trotzdem: Ist es nicht besser,
wenn mehr Behinderte in die normale Schule gehen?
Im Allgemeinen schon.
Früher hiess es, behindert gleich Sonderschule, heute heisst es, behindert
gleich allgemeine Schule. Das Begründungsverhältnis hat sich umgekehrt. Es
steht aber mit keinem Wort in der Uno-Konvention, dass es keine Sonderschulen
geben darf. Dort steht, niemand dürfe diskriminiert werden, weil er spezielle
Massnahmen braucht. Nun frage ich Sie, wie können Kinder sich in der
Gebärdensprache überhaupt entwickeln, wenn sie keine anderen Kinder um sich
herum haben, die in der Gebärdensprache kommunizieren?
Das wird schwierig.
Genau. Sie müssen mit
ihresgleichen zusammen sein, sonst verkümmern sie. Bei heilpädagogischen
Einrichtungen ist die Frage: Nutzen die den Kindern oder schaden sie? Und man
muss auch fragen: Nutzt die Integration allen Kindern – oder kann sie auch
schaden?
Und, kann sie schaden?
Natürlich kann sie das. Das
ist doch vollkommen klar. Sie schadet den Kindern, die im normalen Schulsystem
nicht zurechtkommen. Das sind zum Beispiel Kinder mit psychischen Erkrankungen
und schweren Verhaltensstörungen. In Deutschland ist es so, dass die
Bundesländer, die keine speziellen Einrichtungen für diese Kinder haben, sie
immer häufiger in psychiatrische Einrichtungen schicken, sie in anderen Bundesländern
unterbringen oder ins Ausland verschieben.
Warum schadet die Integration
den Verhaltensauffälligen? Die sehen in der Regelschule die Normalen, an denen
sie sich orientieren können. Wenn sie unter lauter Kranken und Gestörten sind,
werden sie kaum gesund.
Ich glaube nicht so sehr an
die Heilkraft der Normalität. Die Kinder, die später massive Probleme bekommen,
haben diese oft schon zu Beginn der Schule. Und sie verstärken sich in den
ersten vier, fünf Jahren immer weiter. Obwohl sie normale Kinder um sich
haben, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand oder das störende Verhalten
nimmt zu. Also heilt die Normalität nicht. Was wir bei diesen Kindern sehr
deutlich sehen: dass sie stark am Rande stehen, abgelehnt und gemobbt werden.
Sie gehören oft nicht zum Kern der Klasse. Man muss auf den Einzelfall eingehen.
Warum soll ein Kind im Rollstuhl nicht in die allgemeine Schule gehen? Wenn
jemand schwerer behindert ist, kann das anders sein. Wir hatten in Deutschland
eine grosse Diskussion um Henry, ein Kind mit Down-Syndrom, das aufs Gymnasium
sollte.
Geht das?
Eigentlich nicht. Er ist
dort überhaupt nicht anschlussfähig. Bei Kindern mit leichteren
Lernbeeinträchtigungen ist das anders. Eine Schweizer Studie ergab, dass sie
integrativ mehr lernen, weil sie mehr Anregungen erhalten. Das leuchtet ein.
Die gleiche Studie zeigt aber auch, dass sie oft sozial wenig integriert sind
und sich nicht gut fühlen. Beide Systeme haben Vor- und Nachteile. Es gibt
keine wissenschaftlichen Befunde, die belegen, dass die Integration immer
besser ist. Oft mag das der Fall sein, aber es gibt klare Hinweise dafür, dass
für manche Kinder spezielle Einrichtungen besser sind, weil sie dort besser
gefördert werden und sich wohler fühlen.
Behinderung wird immer mehr als
Form von Anderssein angesehen wie die Hautfarbe oder das Geschlecht. «Vielfalt
ist bereichernd», wird gesagt. Das ist doch schön.
Es ist gut, wenn sich die
Gesellschaft noch mehr bewusst wird, dass es behinderte Menschen gibt und dass
sie zum allgemeinen Leben dazugehören. Da haben wir schon einiges erreicht.
Die Frage ist doch, ob gegenwärtig Behinderung und Förderbedürftigkeit zu sehr
nivelliert werden. Denn es geht ja nicht nur um die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit,
sondern auch um Förderung. Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder einem
anderen Glauben brauchen keine Förderung. Homosexuelle auch nicht.
Besteht die Gefahr, dass man
nicht alle Fördermöglichkeiten ausschöpft, wenn man Behinderung nur als
Anderssein sieht?
Ja, eindeutig. Das kommt
darin zum Ausdruck, dass in der Fachdiskussion gefordert wird, den Begriff
Behinderung abzuschaffen. Und das zeigt sich in der Vorstellung, man könne
Behinderte auch in der allgemeinen Schule genügend fördern, wenn man sie als
Personen anerkennt und guten Willens ist. Doch das reicht nicht aus. Es bedarf
klarer Fachkategorien, um mit diesen Menschen richtig umgehen zu können.
Ein normaler Primarschullehrer,
der kann das doch.
Am Anfang der Schulzeit und
bei manchen Behinderungen ist das relativ leicht. Bei anderen
Beeinträchtigungen geht es eben nicht, weil die Verhältnisse zu kompliziert
sind. Das hat zu tun mit der Zeit, die zur Verfügung steht, oder mit fachlichen
Qualifikationen, die fehlen. Wenn Sie als Lehrerin sprachbehinderte Kinder in
der Klasse haben, Stotterer, Polterer – was wollen Sie da machen? Da brauchen
Sie eine spezielle Ausbildung. Und Kinder mit Verhaltensstörungen, die
verhalten sich ja oft so, dass man nicht verstehen kann, was mit ihnen los ist.
Wenn man nur mit den üblichen pädagogischen Mitteln auf sie eingeht, besteht
die Gefahr, dass es ihnen eher noch schlechter geht. Die Sonderpädagogik ist,
historisch gesehen, entstanden, weil die allgemeine Schule mit manchen Kindern
nicht zurechtgekam.
Man kann auch sagen: Die
allgemeine Schule entledigt sich schwieriger Kinder, damit ihre Arbeit
einfacher wird.
Das stimmt einerseits. Man
kann die Sache aber auch umkehren und fragen: «Sind Lehrer unter allen
Bedingungen in der Lage, mit schwierigen Kindern umzugehen?» Oder gibt es den
Punkt, wo man sagen muss: «Das geht nicht mehr.» Die gesonderte Beschulung
ist nicht nur ein Ausschluss aus der bisherigen Klasse. Es geht auch um die
Aufnahme an einen Ort, an dem sie besser aufgehoben sind.
Kürzlich habe ich das Porträt
eines Mädchens, Andrea, gelesen, das ein Down-Syndrom hat und in die
öffentliche Oberstufe geht. Im Bericht wird eine Geschichtslektion
beschrieben: Der Lehrer steht am Hellraumprojektor und erzählt von den alten
Griechen. Neben Andrea sitzt eine Heilpädagogin, ihre stete Betreuerin, und
übersetzt, vereinfacht. Alleine könnte Andrea dem Unterricht nicht folgen.
Deutsch und Mathe hat sie nicht zusammen mit ihrer Klasse. Ist das Integration?
Ist das gut?
Das weiss man nicht. Es zeigt
zumindest, dass Integration nur mit spezieller Unterstützung geht. Klar ist
aber auch, dass das Kind als ein besonderes auffällt. Es hat einen Betreuer.
Menschen mit geistiger Behinderung haben ein besonderes Problem. Sie sind in
keiner Form an das später gegliederte Schulsystem anschlussfähig. Hier
entstehen leicht Illusionen: Profitieren sie wirklich? Finden sie Freunde, sind
sie nur akzeptiert? Ich glaube, im besten Fall sind sie akzeptiert. Es gibt
eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, es wird umso schwieriger, je älter
das Kind wird. In der Pubertät werden sie immer mehr ausgeschlossen.
Sie gehören nicht wirklich
dazu?
Ich glaube nicht. Sie
würden, auch wenn man das kaum noch aussprechen darf, vermutlich keinen schwer
geistig behinderten Mann heiraten. Man muss sich vor der idyllischen
Vorstellung schützen, nur durch den Schulbesuch sei das Kind ins Leben
integriert.
Weiss man, ob es Behinderten
wohl ist unter Nichtbehinderten oder ob sie lieber unter ihresgleichen sind?
Ich bin viel unterwegs in
dieser Sache. Ich höre Mütter, die sagen, die ersten vier Jahre in der
Grundschule gingen mit einem Kind mit Down-Syndrom gut. Es gibt aber immer
wieder Mütter, die berichten, ihr Kind sei isoliert, es fühle sich unwohl,
wolle nicht mehr zur Schule gehen und sei hochgradig erleichtert, wenn es unter
anderen Kindern mit Behinderung sei. Ich kenne einen blinden Psychologen, der
sagt, er sei in der allgemeinen Schule gewesen, und das sei gut gegangen. In
der Pubertät sei es aber schwieriger geworden, weil die anderen sich immer über
das Aussehen von Frauen unterhalten hätten, über Motorräder, Autos. Er war
froh, als er aufs Gymnasium für Blinde kam, da hatte er endlich Leute, mit
denen er über Musik reden konnte.
Der Vater eines
fünfzehnjährigen Behinderten schrieb in einem Kommentar, sein Sohn sei
glücklich in der Sonderschule. «Immer und überall der Schlechteste zu sein,
werde ich ihm nie zumuten.»
Da ist was dran. Auf der
Sonderschule ist das Kind auch mal das bessere, dafür ist es von den anderen
getrennt. In der allgemeinen Schule wird das Kind oft gekränkt, weil es das
letzte ist.
Oder merken geistig Behinderte
gar nicht, dass sie die Schlechtesten sind?
Natürlich merken sie das.
Und es macht ihnen auch etwas aus.
Kinder sind ja brutal direkt,
wenn es darum geht, wer der Bessere ist.
Mitunter schon. Wie heisst
das bei Josef Joffe, dem ehemaligen Zeit-Herausgeber: «Anders als progressive
Pädagogen verstehen schon Kinder den Sinn von Wettbewerb.»
Wenn man Gruppen von Menschen
mit Down-Syndrom sieht, hat man oft das Gefühl, die haben es lustig.
Ich war kürzlich in einer
Werkstätte für Behinderte in Leverkusen. Ich hab selten so glückliche Menschen
gesehen. Die froh waren, dass sie etwas leisten, was anerkannt ist. Die haben
einen Ort gefunden, wo es ihnen richtig gut geht.
Woher kommt diese Idee,
Behinderung sei nur eine Form von Vielfalt?
Sie soll verhindern, dass
behinderte Menschen in die Ecke geschoben und abgelehnt werden. Das gibt es
nach wie vor. Wahrscheinlich haben wir Menschen eine Neigung, all das, was uns
fremd und nicht nur schön ist, von uns wegzuhalten. Die vermehrte Akzeptanz,
die die Uno-Konvention fordert, ist deshalb richtig. Nur, sie hat für uns in
Deutschland und in der Schweiz nicht den Neuigkeitswert wie in anderen Ländern,
wo es darum geht, dass erst mal elementare Grundrechte gesichert werden. Nun
soll sogar der Begriff «behindert» abgeschafft werden. Aber sie müssen doch,
wenn sie sich einem Kind ernsthaft zuwenden, klären, was los ist. Sie brauchen
Begriffe, mit denen sie seelische Nöte und Beeinträchtigungen beschreiben
können. Wenn man alle Begriffe abschafft, ist man diesen Menschen gegenüber
pädagogisch hilflos.
Das Angewiesensein und das
Hilfebeanspruchen haben einen schlechten Ruf. Autonomie und Selbständigkeit
werden in unserer Zeit sehr viel höher gewertet.
Es gab im Laufe der Jahre
grosse Erfolge. Das Potenzial von Behinderten wird mehr erkannt. Heute sind sie
erfolgreicher und emanzipierter. Das ist gut. Aber behinderte Menschen können
auch auf jemanden angewiesen und abhängig sein. Diese Seite wird ungern
gesehen. Man glaubt leicht, dass sie Förderung nicht mehr brauchen. In der
Diskussion um jugendliche Gewalttäter wird von Fachleuten gern gesagt, diese
Kinder seien «Experten ihres Lebens». Das ist abwegig. Natürlich muss man so
einen Menschen fragen: «Wie siehst du dein Leben, wo stehst du und wo willst du
hin?» Aber offensichtlich scheitern sie, sie können etwas nicht, und sie
brauchen andere, die ihnen weiterhelfen.
Was soll das bedeuten, sie sind
«Experten ihres Lebens»?
Dass man sich in den
Hilfeleistungen den Wünschen dieser Jugendlichen unterordnen und in grossem
Masse das Herkunftsmilieu dieser Kinder anschauen und schätzen soll. Vielfalt
ist begrüssenswert. Aber das kann doch nur eine positive Vielfalt sein. Zum Leben
gehört, dass Kinder gewalttätig behandelt und sexuell missbraucht werden. Diese
Vielfalt ist inakzeptabel und schrecklich.
Oft wird gesagt, man müsse die
Behinderten von gesellschaftlichen Einschränkungen befreien. Aber die
Behinderung ist da, die ist naturgegeben. Ich denke dann immer – das tönt jetzt
blöd –, ich kann auch nicht Primaballerina werden. Barrieren sind überall.
Ich kann nicht tanzen, ich
hab kein Rhythmusgefühl. Häufig besteht die Illusion, wenn man
gesellschaftliche Barrieren entferne, existiere das Phänomen der Behinderung
gar nicht mehr. Natürlich muss man Barrieren wegräumen. Die Leute müssen mit
dem Rollstuhl überall hinkommen, es braucht Gebärdendolmetscher. Aber man muss
auch anerkennen, dass es Barrieren gibt, die mit der Person zu tun haben.
Manche sagen, dass das Beschreiben von Behinderung, allein indem man es tut,
schon ein diskriminierender Akt ist. Das ist Unsinn. Man muss Unterschiede
benennen können. Damit werte ich doch den Menschen nicht ab. Andererseits: Das
Wort «behindert» wird noch nicht ganz so neutral gebraucht, wie man es sich
wünschen würde.
Es ist bei Jugendlichen ein
Schimpfwort: «Du Behinderter!»
Ja. Oder sie sagen: «Du
Spastiker.»
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