Am 7.November wurde der
Lehrplan 21 von der EDK freigegeben und den Kantonen zur weiteren Bearbeitung
überlassen. Die Kürzung von 557 auf 470 Seiten und die Reduktion der 4700
Kompetenzschritte auf deren 2304 ist schon bemerkenswert, doch leider nicht ohne
Irritation.
Selbst
die wiederholte Zusage durch die EDK, die Methodenfreiheit der Lehrpersonen
erhalten zu wollen und auf Schulrankings zu verzichten, reichten mir nicht, die
fundamentalen Bedenken zu zerstreuen. Daran vermochte auch die Beteuerung, den
LP21 "entideologisiert" zu haben, nichts zu ändern. Wer auf den
allgemeinen Freudentanz hoffte, hat die gegnerischen Argumente nie wirklich
ernst genommen.Quelle: Südostschweiz, 19.11. von Fritz Tschudi
Die Skeptiker wurden vorschnell in die Neinsagerecke der Dauerempörten abgeschoben. Ihre schwerwiegenden Einwände gegen die Kompetenzorientierung hatten im Elfenbeinturm nichts zu suchen.
Die
kurzfristige Reduktion der Seitenzahl und die Eindampfung von 2400
Kompetenzschritten wirft neue Fragen auf: Bestand nicht die Sorge, mit den
Kürzungen um 20 Prozent das Ergebnis der acht Jahre Fleissarbeit zu
beschädigen? Wie vertrauenswürdig ist ein Lehrplankonstrukt, welches ohne
erkennbare Qualitätsänderungen beliebig ummodelliert, auf- bzw. abgespeckt
werden kann?
Der
Vertrauensschwund ist hausgemacht. Hauptgrund ist ein Novum in der Schweizer
Bildungspolitik: Die Lehrplanverantwortlichen behinderten eine rechtzeitige
öffentliche Debatte, indem Informationen nur tröpfchenweise an die
Öffentlichkeit gelangten. Die Taktik ging auf! Der Ausschluss der "Vox
populi" hätte deutlicher nicht sein können!
Wo bleibt der Mehrwert für Schule und Unterricht?
Die
Kompetenzorientierung des neuen Lehrplans wurde unter dem Slogan "Können
ist wichtiger als Wissen" lanciert. Das ist so ziemlich die dümmste
Schlangenfängerei von der ich im Bildungsbereich weiss. Offenbar kann man mit
Werbesprüchen problemlos Bildungspolitik machen. Besonders erstaunlich ist die
Dummdreistigkeit, mit der die unbestrittene Erfahrungstatsache verschwiegen
wird, dass jedes Lernen, völlig unabhängig vom Lehrplankonzept, in Fähigkeiten
und Können mündet. Ich wende mich nicht prinzipiell gegen Kompetenzen im
Lehrplan, wohl aber in aller Schärfe gegen den Unfug der dogmatischen
Verabsolutierung dieses fremd verordneten Fehlkonzepts.
Nun
liegt ein modisches Konstrukt als Lehrplan vor, das bevorzugt Ideologen,
Technokraten, Formalisten und Bildungsbürokraten fernab der Schulpraxis zu
befriedigen vermag. Die bisherigen Erfahrungen mit Kompetenzlehrplänen sind
weltweit negativ. Was kümmert es unsere Lehrplantechnokraten, wenn selbst die
USA sich von eben diesem Konzept verabschiedet und offen bekennt, einem
langwierigen Irrtum erlegen zu sein? Nur Optimisten hoffen noch auf einen
Turnaround hierzulande. Das Prestige der Lehrplanautoren und jenes der EDK im
Besonderen, kann doch nicht noch weiter strapaziert werden… Sie sitzen alle in
der "Concorde-Falle".
Unter
dem Kompetenzdiktat ist Wissen soweit zugelassen, wie es für die Erarbeitung
von Kompetenzzielen nötig ist. Dem übrigen traditionellen Wissen (jenem ohne
Bezug zur Humankapitaltheorie) wird wenig Eigenwert zuerkannt. Anspruchsvolles,
vernetztes Wissen und Können entzieht sich der kompetenzkompatiblen
Auffächerung. Damit ist die Kompetenzmessung, als wichtige Basis der
Kompetenzorientierung ebenfalls obsolet geworden. Auch simples Faktenwissen
kann sehr hilfreich sein. Auswendiglernen ist auch in der Schule von morgen
unverzichtbar, die Ablehnung weltfremd.
Unter
Motivationstiteln wie "Fit für den LP21", oder "Der Lehrplan 21
bewegt", werden in den nächsten zwei Jahren orkanartig anschwellende
Lehrer-Weiterbildungen verordnet. Nach dem Abflauen der Begeisterungsstürme
aber ist Schluss. Es werden unzählige Staubfänger mehr die Bücherregale zieren.
- Doch ruhig Blut! –"Führungskompetente" neue Lehrmittel übernehmen
die Deutungshoheit für den erwünschten Unterricht. Mündige Lehrpersonen werden’s
(hoffentlich) auf ihre Weise richten. – Der Spuk ums
"Jahrhundertwerk" ist wohl rasch vergessen, so bleibt der LP21 den
Bürokraten – ganz allein!
Grundanliegen nicht umgesetzt
Die
Grundmotivation für einen gemeinsamen Lehrplan war die Angleichung der
Lerninhalte. Diese Harmonisierung wird mit dem LP21 unzureichend erfüllt. Die
damals kategorisch geforderte Erleichterung der Wohn-Mobilität für Familien mit
Kindern bleibt ein Wunschtraum. Zu unterschiedlich sind die
Fremdsprachenkonzepte. Die Dreijahreszyklen im LP21 ermöglichen zwar
überprüfbare Gleichstände am Ende jedes Zyklus. In welcher Reihenfolge die
Kompetenzen zwischenzeitlich (über die drei bzw. vier Schuljahre) abgearbeitet
werden, und wo die Schüler während und am Ende eines Schuljahres stehen, bleibt
offen.
Die Schöpfer des neuen Lehrplans stellten sich während Jahren taub
"Das
gewählte Konzept ist weder theoretisch ausgereift noch empirisch geprüft…. Es
ist nicht kind- und nicht lernaltersgerecht, die Ziele und Aufgaben der Schule
für alle Schulstufen und Lernzyklen nach einem einheitlichen Kompetenzmodell
anzuordnen… Wie alle Untersuchungen gezeigt haben, nutzen Lehrpersonen
Lehrpläne nur sehr spärlich für ihre Unterrichtsvorbereitung. Sie unterrichten
mit den Lehrbüchern und den Lehrmitteln…. Es ist schulpolitisch riskant,
Lehrpläne ohne klare Abklärung der Gelingensbedingungen ihrer Einführung zu
verfassen und freizugeben." Diese Sätze stehen in einem Text, den der
Lehrplanforscher Prof. Rudolf Künzli kürzlich für die Sendung 10 vor 10 verfasst
hatte. Künzli plädiert für deutungsoffene Lehrpläne, die Spielräume eröffnen. -
Die Finnen kommen mit 120 Seiten aus (Rahmenlehrplan). Sie schaffen trotzdem
(oder gerade darum?) laufend Spitzenplätze im PISA-Test.
Erziehungsdirektoren setzten verwirrende Signale
"Bund
und Kantone verständigen sich auf wenige konkrete und überprüfbare Ziele für
das laufende Jahrzehnt", verkündete die EDK am 30. Mai 2011. Am 26. Juni
freute sich die Zürcher Regierungsrätin Aeppli: "Das ist ein
Jahrhundertwerk, welches unsere Schule grundlegend verändern wird".
Beruhigend meinte der Basler Erziehungschef Eymann am 18. August. "Für die
Lehrkräfte wird sich gar nichts ändern." Und am 7. November, am Tag der
Freigabe, der Schaffhauser Regierungsrat Amsler: "Nein, dieser Lehrplan
ist keine Schulreform." Wozu dann spezielle Lehrerweiterbildungen für den
LP21, Herr Eymann?
Der neue Lehrplan ist bildungspolitisch bedeutsam
Der
LP 21 ist primär ein Instrument zur Systemsteuerung (Bildungsmonitoring) ohne
Anspruch auf grossen Praxisnutzen. Ideelle Steuerungsziele finden sich dennoch
eingebettet in den Untiefen des Lehrplans, im Sammelfach "Natur, Mensch,
Gesellschaft", "Bildung für Nachhaltige Entwicklung" und
"Überfachliche Kompetenzen". Es geht um zwei bedeutsame Ziele:
1. Erziehung zur politischen Korrektheit
Hier
nenne ich Energie(-wende), Rohstoffe, Wirtschaft, Gender-Mainstreaming (Begriff
in der neuen Fassung gestrichen), Vielfalt, Konsum…, allesamt heikle Themen.
Eine indoktrinäre Beeinflussung der Lehrenden und Lernenden ist nicht auszuschliessen.
2. Erziehung zum braven Bürger
Nicht
die mündige Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft sehe ich als
zentrales Anliegen des LP21, sondern die der Anpassung durch fraglose Akzeptanz
"übergeordneter Ansprüche". Das Schwinden direkt demokratischer
Gepflogenheiten und das Bröckeln der Volksrechte sind durchwuchert von der
wachsenden Fremdsteuerung durch EU und OECD. Die Akzeptanz des Unausweichlichen
soll sichergestellt werden, am besten durch eine strömungsgünstige Einpassung
der Individuen. Die Einschränkung der persönlichen Ausprägungen bis hin zur
Pathologisierung kritischen Verhaltens im Unterricht, ist leider logische
Konsequenz.
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