19. November 2014

Kaum Grund zur Freude

Am 7.November wurde der Lehrplan 21 von der EDK freigegeben und den Kantonen zur weiteren Bearbeitung überlassen. Die Kürzung von 557 auf 470 Seiten und die Reduktion der 4700 Kompetenzschritte auf deren 2304 ist schon bemerkenswert, doch leider nicht ohne Irritation.
Selbst die wiederholte Zusage durch die EDK, die Methodenfreiheit der Lehrpersonen erhalten zu wollen und auf Schulrankings zu verzichten, reichten mir nicht, die fundamentalen Bedenken zu zerstreuen. Daran vermochte auch die Beteuerung, den LP21 "entideologisiert" zu haben, nichts zu ändern. Wer auf den allgemeinen Freudentanz hoffte, hat die gegnerischen Argumente nie wirklich ernst genommen.
Quelle: Südostschweiz, 19.11. von Fritz Tschudi

Die Skeptiker wurden vorschnell in die Neinsagerecke der Dauerempörten abgeschoben. Ihre schwerwiegenden Einwände gegen die Kompetenzorientierung hatten im Elfenbeinturm nichts zu suchen.
Die kurzfristige Reduktion der Seitenzahl und die Eindampfung von 2400 Kompetenzschritten wirft neue Fragen auf: Bestand nicht die Sorge, mit den Kürzungen um 20 Prozent das Ergebnis der acht Jahre Fleissarbeit zu beschädigen? Wie vertrauenswürdig ist ein Lehrplankonstrukt, welches ohne erkennbare Qualitätsänderungen beliebig ummodelliert, auf- bzw. abgespeckt werden kann?
Der Vertrauensschwund ist hausgemacht. Hauptgrund ist ein Novum in der Schweizer Bildungspolitik: Die Lehrplanverantwortlichen behinderten eine rechtzeitige öffentliche Debatte, indem Informationen nur tröpfchenweise an die Öffentlichkeit gelangten. Die Taktik ging auf! Der Ausschluss der "Vox populi" hätte deutlicher nicht sein können!

Wo bleibt der Mehrwert für Schule und Unterricht?
Die Kompetenzorientierung des neuen Lehrplans wurde unter dem Slogan "Können ist wichtiger als Wissen" lanciert. Das ist so ziemlich die dümmste Schlangenfängerei von der ich im Bildungsbereich weiss. Offenbar kann man mit Werbesprüchen problemlos Bildungspolitik machen. Besonders erstaunlich ist die Dummdreistigkeit, mit der die unbestrittene Erfahrungstatsache verschwiegen wird, dass jedes Lernen, völlig unabhängig vom Lehrplankonzept, in Fähigkeiten und Können mündet. Ich wende mich nicht prinzipiell gegen Kompetenzen im Lehrplan, wohl aber in aller Schärfe gegen den Unfug der dogmatischen Verabsolutierung dieses fremd verordneten Fehlkonzepts.
Nun liegt ein modisches Konstrukt als Lehrplan vor, das bevorzugt Ideologen, Technokraten, Formalisten und Bildungsbürokraten fernab der Schulpraxis zu befriedigen vermag. Die bisherigen Erfahrungen mit Kompetenzlehrplänen sind weltweit negativ. Was kümmert es unsere Lehrplantechnokraten, wenn selbst die USA sich von eben diesem Konzept verabschiedet und offen bekennt, einem langwierigen Irrtum erlegen zu sein? Nur Optimisten hoffen noch auf einen Turnaround hierzulande. Das Prestige der Lehrplanautoren und jenes der EDK im Besonderen, kann doch nicht noch weiter strapaziert werden… Sie sitzen alle in der "Concorde-Falle".
Unter dem Kompetenzdiktat ist Wissen soweit zugelassen, wie es für die Erarbeitung von Kompetenzzielen nötig ist. Dem übrigen traditionellen Wissen (jenem ohne Bezug zur Humankapitaltheorie) wird wenig Eigenwert zuerkannt. Anspruchsvolles, vernetztes Wissen und Können entzieht sich der kompetenzkompatiblen Auffächerung. Damit ist die Kompetenzmessung, als wichtige Basis der Kompetenzorientierung ebenfalls obsolet geworden. Auch simples Faktenwissen kann sehr hilfreich sein. Auswendiglernen ist auch in der Schule von morgen unverzichtbar, die Ablehnung weltfremd.
Unter Motivationstiteln wie "Fit für den LP21", oder "Der Lehrplan 21 bewegt", werden in den nächsten zwei Jahren orkanartig anschwellende Lehrer-Weiterbildungen verordnet. Nach dem Abflauen der Begeisterungsstürme aber ist Schluss. Es werden unzählige Staubfänger mehr die Bücherregale zieren. - Doch ruhig Blut! –"Führungskompetente" neue Lehrmittel übernehmen die Deutungshoheit für den erwünschten Unterricht. Mündige Lehrpersonen werden’s (hoffentlich) auf ihre Weise richten. – Der Spuk ums "Jahrhundertwerk" ist wohl rasch vergessen, so bleibt der LP21 den Bürokraten – ganz allein!

Grundanliegen nicht umgesetzt
Die Grundmotivation für einen gemeinsamen Lehrplan war die Angleichung der Lerninhalte. Diese Harmonisierung wird mit dem LP21 unzureichend erfüllt. Die damals kategorisch geforderte Erleichterung der Wohn-Mobilität für Familien mit Kindern bleibt ein Wunschtraum. Zu unterschiedlich sind die Fremdsprachenkonzepte. Die Dreijahreszyklen im LP21 ermöglichen zwar überprüfbare Gleichstände am Ende jedes Zyklus. In welcher Reihenfolge die Kompetenzen zwischenzeitlich (über die drei bzw. vier Schuljahre) abgearbeitet werden, und wo die Schüler während und am Ende eines Schuljahres stehen, bleibt offen.

Die Schöpfer des neuen Lehrplans stellten sich während Jahren taub
"Das gewählte Konzept ist weder theoretisch ausgereift noch empirisch geprüft…. Es ist nicht kind- und nicht lernaltersgerecht, die Ziele und Aufgaben der Schule für alle Schulstufen und Lernzyklen nach einem einheitlichen Kompetenzmodell anzuordnen… Wie alle Untersuchungen gezeigt haben, nutzen Lehrpersonen Lehrpläne nur sehr spärlich für ihre Unterrichtsvorbereitung. Sie unterrichten mit den Lehrbüchern und den Lehrmitteln…. Es ist schulpolitisch riskant, Lehrpläne ohne klare Abklärung der Gelingensbedingungen ihrer Einführung zu verfassen und freizugeben." Diese Sätze stehen in einem Text, den der Lehrplanforscher Prof. Rudolf Künzli kürzlich für die Sendung 10 vor 10 verfasst hatte. Künzli plädiert für deutungsoffene Lehrpläne, die Spielräume eröffnen. - Die Finnen kommen mit 120 Seiten aus (Rahmenlehrplan). Sie schaffen trotzdem (oder gerade darum?) laufend Spitzenplätze im PISA-Test.

Erziehungsdirektoren setzten verwirrende Signale
"Bund und Kantone verständigen sich auf wenige konkrete und überprüfbare Ziele für das laufende Jahrzehnt", verkündete die EDK am 30. Mai 2011. Am 26. Juni freute sich die Zürcher Regierungsrätin Aeppli: "Das ist ein Jahrhundertwerk, welches unsere Schule grundlegend verändern wird". Beruhigend meinte der Basler Erziehungschef Eymann am 18. August. "Für die Lehrkräfte wird sich gar nichts ändern." Und am 7. November, am Tag der Freigabe, der Schaffhauser Regierungsrat Amsler: "Nein, dieser Lehrplan ist keine Schulreform." Wozu dann spezielle Lehrerweiterbildungen für den LP21, Herr Eymann?

Der neue Lehrplan ist bildungspolitisch bedeutsam
Der LP 21 ist primär ein Instrument zur Systemsteuerung (Bildungsmonitoring) ohne Anspruch auf grossen Praxisnutzen. Ideelle Steuerungsziele finden sich dennoch eingebettet in den Untiefen des Lehrplans, im Sammelfach "Natur, Mensch, Gesellschaft", "Bildung für Nachhaltige Entwicklung" und "Überfachliche Kompetenzen". Es geht um zwei bedeutsame Ziele:

1. Erziehung zur politischen Korrektheit
Hier nenne ich Energie(-wende), Rohstoffe, Wirtschaft, Gender-Mainstreaming (Begriff in der neuen Fassung gestrichen), Vielfalt, Konsum…, allesamt heikle Themen. Eine indoktrinäre Beeinflussung der Lehrenden und Lernenden ist nicht auszuschliessen.

2. Erziehung zum braven Bürger
Nicht die mündige Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft sehe ich als zentrales Anliegen des LP21, sondern die der Anpassung durch fraglose Akzeptanz "übergeordneter Ansprüche". Das Schwinden direkt demokratischer Gepflogenheiten und das Bröckeln der Volksrechte sind durchwuchert von der wachsenden Fremdsteuerung durch EU und OECD. Die Akzeptanz des Unausweichlichen soll sichergestellt werden, am besten durch eine strömungsgünstige Einpassung der Individuen. Die Einschränkung der persönlichen Ausprägungen bis hin zur Pathologisierung kritischen Verhaltens im Unterricht, ist leider logische Konsequenz.

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