Die Schüler arbeiten an ihren individuell eingerichteten Arbeitsplätzen und kommen bei Fragen zur Sekundarlehrerin, Bild: Daniel Wahl
Reinachs Neugier auf Lernlandschaften, Basler Zeitung, 7.3. von Daniel Wahl
Schulleitungen mehrerer Gemeinden im Baselbiet wollen sogenannte
Lernlandschaften einrichten. In Pratteln wurde ein Pilotprojekt gestartet, das
nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter Pädagogen umstritten ist.
Eine Delegation aus Reinach besuchte nun ein «Vorzeigemodell» in Herisau (AR),
das im Jahr 2010 startete. Die BaZ begleitete die Reinacher Gruppe.
Eines
interessierte Christian Kurt, Lehrer und Schulentwickler an der Sekundarschule
Reinach im besonderen Masse, als er zusammen mit der Schulleitung jene
Grossraumbüros, in denen Kinder aus Real- und Sekundarschule gemeinsam und
niveauübergreifend still arbeiten, betrat: Unsere Kinder seien von einer
permanenten inneren Unruhe getrieben, es gelinge immer weniger Jugendlichen,
länger als eine Viertelstunde ruhig zu sitzen, so Kurt. Sind nun Schüler in
Lernlandschaften besser aufgehoben? Der Besuch erfolgte nicht zuletzt vor dem
Hintergrund, dass das Pilotprojekt Lernlandschaft Pratteln nie öffentlich
diskutiert wurde und auf Skepsis gestossen ist.
Die
Lernlandschaft
An
den drei Schulstandorten in Herisau trifft man Lernlandschaften verschiedener
Grösse an. Sie bieten Raum für 30 bis 60 Schüler. Allen gemeinsam ist, dass an
den Flanken Computerstationen installiert sind. Dazwischen siedeln die
Schülerinnen und Schüler an den von Lochmetall eingefriedeten Arbeitsplätzen.
Die Pulte sind individuell eingerichtet, mit persönlichen Fotos und
Kritzeleien. Dieser Arbeitsplatz ist unter Beteiligung der ersten
Lernlandschafts-Schüler fabriziert worden und beherbergt die eigenen
Schulbücher und -hefte. So müssen die Schüler ihr Material nicht mehr immer
hin- und herbuckeln.
Wie
das Buffet in einem Restaurant ist der Lehrerdesk platziert – seitlich, aber
zentral. Von diesem Kontrollpunkt aus können vier Lehrer gleichzeitig die
Lernlandschaft überblicken, Fragen beantworten und individuelle Arbeitsaufträge
erteilen. Angrenzend zur Lernlandschaft gibt es Gruppenräume, Lese-nischen und
Korrigiertische. Gegenüber der Lernlandschaft befinden sich die Inputräume.
Dort werden die Schüler unterrichtet.
Die
Regeln
Für
die Lernlandschaft wurden viele Regeln aufgestellt. Die wichtigste: Unterhalten
darf man sich im Grossraum nur im Flüsterton. Das gilt auch für die Lehrer. Es
dürfen keine anzüglichen und deplatzierten Bilder am Arbeitsplatz hängen. Es
gibt spezielle Regeln für Gruppenräume und Korrigiertische. Zu sehen sind
auffällig viele Hinweise: Stopp- und «Keep calm»-Schilder. Sie dienen zur
persönlichen Abgrenzung und schaffen Ruhe.
Das
Konzept
Statt
in den Niveaus Real, Sek und PG unterrichtet die Schule nach Neigungen –
von Niveau A bis H. Das Schulprogramm kann so individuell zusammengestellt
werden. Ein guter Deutsch-, aber schlechter Matheschüler besucht Deutsch Niveau
B, Mathe Niveau F. Es führt gar so weit, dass Sonderschüler von Fächern
dispensiert werden und bis zu zwei Tage pro Woche in einem Betrieb handwerklich
arbeiten können. «Sie entwickeln sich in den Pflichtfächern Deutsch und Mathe
deutlich besser», sagt der Herisauer Schulleiter Dominik Schleich. Dieses
neigungsorientierte Programm führt dazu, dass für jeden Schüler ein einzelner
Stundenplan entwickelt werden muss. Dafür sind zwei Lehrerinnen zu je
20 Prozent angestellt. Nur noch in den Hauptfächern Deutsch, Mathe und
Fremdsprachen werden die Schüler vom Fachlehrer unterrichtet. In Geografie,
Mensch und Umwelt und so weiter ist der Unterricht niveauübergreifend.
Die
Dosis
Ein
Drittel des Unterrichts erfolgt im Fachunterricht. Ein Drittel ist geleitete
Vermittlung und etwa ein Drittel des Unterrichts findet in der Lernlandschaft
statt, wo die Kinder die Kompetenzen «selbst gesteuert» erwerben.
Das
Arbeitsverhalten
Die
Schüler arbeiten bemerkenswert ruhig und ausdauernd – mehr als anderthalb
Stunden lang. Die Klassengrösse beträgt 16 Schüler. «In einer
Lernlandschaft halten sich im Schnitt zwölf auf, sagt Dominik Schleich.
Schrillt die Mittagsglocke, springen die Schüler nicht wie an traditionellen
Volksschulen automatisch auf und rennen nach Hause. Einer sagt: «Ich muss das
noch fertig machen.» Er will weniger Hausaufgaben nach Hause nehmen.
Sorgenkinder bleiben auch in Lernlandschaften Sorgenkinder. «Wir müssten uns
20 Stunden mehr Zeit einräumen, um sie bei der Stange zu halten», sagt
Sekundarlehrerin Angela Kollmann. Dass schwächere Schüler besser wegkommen, ist
also kein Lernlandschafts-Automatismus.
Die
Resultate
Die
Lehrer sagen, sie kennen die Schüler besser. Man spricht mehr miteinander, auch
unter Lehrerkollegen. Die Integration der Realschule in die Sekundarschule hat
dazu geführt, dass die Niveauzuteilung viel entspannter angegangen wird. «Wir
haben weniger Schulverweigerer, kaum mehr Rekurse und weniger Gewalt», sagt
Schleich. Dass die Schüler sich im Grossraumbüro verdrücken könnten, war eine
Befürchtung, die sich in Herisau nicht bewahrheitet hat. Dem hat man mit einem
Lernjournal einen Riegel geschoben. Die Tatsache, dass Schüler ihr Programm
quasi wie ein Wunschkonzert zusammenstellen können, führt dazu, dass Schüler
kaum mehr sagen können, ob sie «Gymnasium-fähig» sind oder für eine Banklehre
geeignet. Es braucht Aufnahmeprüfungen. «Die Kompatibilität im
Ausbildungssystem Schweiz ist eine Herausforderung, an der wir arbeiten
müssen», räumt Schleich ein. Aber gegenüber den anderen kooperativ geleiteten
Schulen im Kanton Appenzell bringen die Lernlandschaftsschulen in Herisau mehr
Schüler in die «Kanti», beziehungsweise ins Gymnasium. Schleich ist vorsichtig
in der Bewertung seiner Schule. Es gebe zu viele unbekannte Faktoren. Aber die
Tatsache, dass für Lernlandschaftsschüler die Kanti-Aufnahmeprüfung weniger
schwer war wie für andere Schüler, stimmt ihn zuversichtlich.
Die
Kosten
Bei
einem Jahresbudget von 24 Millionen Franken kommt das Modell
Lernlandschaft jährlich 180 000 Franken teurer zustehen als das
ursprüngliche Modell, ist aber günstiger als andere kooperative Modelle, die im
Appenzell eingeführt wurden. Eingespart werden können unter anderem kurzfristige
Ausfälle wegen Krankheiten, weil sich die Lehrer untereinander organisieren
müssen.
Das
Fazit
Die
Antwort auf die Frage, ob sie nicht lieber wieder zur traditionellen
Sekundarschule zurückkehren möchte, klingt wenig euphorisch: «Eher nicht», sagt
Angela Kollmann. Ein leichtes Plus für Lernlandschaften im Appenzell also.
Schulleiter Dominik Schleich sieht überwiegend Vorteile. Und er würde eine
Lernlandschaft konzeptionell nur so kompromisslos einführen, wie es im
Appenzell gemacht wurde.
Appenzell
ist mit dem Kanton Baselland nicht vergleichbar. Die Aufhebung des
niveaugetrennten Unterrichts steht ausser Frage. Das schränkt ein. Lernformen,
die zum selbstständigen Erarbeiten von Kompetenzen führen, können auch
ausserhalb von Lernlandschaften, eingeführt werden.
In
Reinach werde man das Konzept gründlich anschauen, sagt Co-Schulleiter Roland
Herz. Insbesondere wolle man Wert darauf legen, dass wieder vermehrt an der
Schule gelernt wird. Für die Reinacher Kinder hiesse das, Wörtli büffeln findet
wieder vermehrt im Schulzimmer statt im Kinderzimmer als Hausaufgabe statt. Und
Co-Schulleiter Michael à Wengen, sagt, dass es in Reinach für Lernlandschaften
sicher zu früh sei. Dort müsste politische Überzeugungsarbeit geleistet werden.
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