7. März 2015

Besuch in Lernlandschaft

Eine Baselbieter Delegation besuchte die Grossraumbüros für Schüler in Herisau.





Die Schüler arbeiten an ihren individuell eingerichteten Arbeitsplätzen und kommen bei Fragen zur Sekundarlehrerin, Bild: Daniel Wahl

Reinachs Neugier auf Lernlandschaften, Basler Zeitung, 7.3. von Daniel Wahl


Schulleitungen mehrerer Gemeinden im Baselbiet ­wollen sogenannte Lernlandschaften einrichten. In Pratteln wurde ein Pilotprojekt gestartet, das nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter ­Pädagogen umstritten ist. Eine Delegation aus Reinach besuchte nun ein «Vorzeigemodell» in Herisau (AR), das im Jahr 2010 startete. Die BaZ begleitete die Reinacher Gruppe.
Eines interessierte Christian Kurt, Lehrer und Schulentwickler an der Sekundarschule Reinach im besonderen Masse, als er zusammen mit der Schulleitung jene Grossraumbüros, in denen Kinder aus Real- und Sekundarschule gemeinsam und niveauübergreifend still arbeiten, betrat: Unsere Kinder seien von einer permanenten inneren Unruhe getrieben, es gelinge immer weniger Jugendlichen, länger als eine Viertelstunde ruhig zu sitzen, so Kurt. Sind nun Schüler in Lernlandschaften besser aufgehoben? Der Besuch erfolgte nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass das Pilotprojekt Lernlandschaft Pratteln nie öffentlich diskutiert wurde und auf Skepsis gestossen ist.

Die Lernlandschaft
An den drei Schulstandorten in Herisau trifft man Lernlandschaften verschiedener Grösse an. Sie bieten Raum für 30 bis 60 Schüler. Allen gemeinsam ist, dass an den Flanken Computer­stationen installiert sind. Dazwischen siedeln die Schülerinnen und Schüler an den von Lochmetall eingefriedeten Arbeitsplätzen. Die Pulte sind individuell eingerichtet, mit persönlichen Fotos und Kritzeleien. Dieser Arbeitsplatz ist unter Beteiligung der ersten Lernlandschafts-Schüler fabriziert worden und beherbergt die eigenen Schulbücher und -hefte. So müssen die Schüler ihr Material nicht mehr immer hin- und herbuckeln.
Wie das Buffet in einem Restaurant ist der Lehrerdesk platziert – seitlich, aber zentral. Von diesem Kontrollpunkt aus können vier Lehrer gleichzeitig die Lernlandschaft überblicken, Fragen beantworten und individuelle Arbeitsaufträge erteilen. Angrenzend zur Lernlandschaft gibt es Gruppenräume, Lese-nischen und Korrigiertische. Gegenüber der Lernlandschaft befinden sich die Inputräume. Dort werden die Schüler unterrichtet.
Die Regeln
Für die Lernlandschaft wurden viele Regeln aufgestellt. Die wichtigste: Unterhalten darf man sich im Grossraum nur im Flüsterton. Das gilt auch für die Lehrer. Es dürfen keine anzüglichen und deplatzierten Bilder am Arbeitsplatz hängen. Es gibt spezielle Regeln für Gruppenräume und Korrigiertische. Zu sehen sind auffällig viele Hinweise: Stopp- und «Keep calm»-Schilder. Sie dienen zur persönlichen Abgrenzung und schaffen Ruhe.

Das Konzept
Statt in den Niveaus Real, Sek und PG unterrichtet die Schule nach Neigungen – von Niveau A bis H. Das Schulprogramm kann so individuell zusammengestellt werden. Ein guter Deutsch-, aber schlechter Matheschüler besucht Deutsch Niveau B, Mathe Niveau F. Es führt gar so weit, dass Sonderschüler von Fächern dispensiert werden und bis zu zwei Tage pro Woche in einem Betrieb handwerklich arbeiten können. «Sie entwickeln sich in den Pflicht­fächern Deutsch und Mathe deutlich besser», sagt der Herisauer Schulleiter Dominik Schleich. Dieses neigungs­orientierte Programm führt dazu, dass für jeden Schüler ein einzelner Stundenplan entwickelt werden muss. Dafür sind zwei Lehrerinnen zu je 20 Prozent angestellt. Nur noch in den Haupt­fächern Deutsch, Mathe und Fremdsprachen werden die Schüler vom Fachlehrer unterrichtet. In Geografie, Mensch und Umwelt und so weiter ist der Unterricht niveauübergreifend.

Die Dosis
Ein Drittel des Unterrichts erfolgt im Fachunterricht. Ein Drittel ist geleitete Vermittlung und etwa ein Drittel des Unterrichts findet in der Lernlandschaft statt, wo die Kinder die Kompetenzen «selbst gesteuert» erwerben.

Das Arbeitsverhalten
Die Schüler arbeiten bemerkenswert ruhig und ausdauernd – mehr als anderthalb Stunden lang. Die Klassengrösse beträgt 16 Schüler. «In einer Lernlandschaft halten sich im Schnitt zwölf auf, sagt Dominik Schleich. Schrillt die Mittagsglocke, springen die Schüler nicht wie an traditionellen Volksschulen automatisch auf und rennen nach Hause. Einer sagt: «Ich muss das noch fertig machen.» Er will weniger Hausaufgaben nach Hause nehmen. Sorgenkinder bleiben auch in Lernlandschaften Sorgenkinder. «Wir müssten uns 20 Stunden mehr Zeit einräumen, um sie bei der Stange zu halten», sagt Sekundarlehrerin Angela Kollmann. Dass schwächere Schüler besser wegkommen, ist also kein Lernlandschafts-Automatismus.

Die Resultate
Die Lehrer sagen, sie kennen die Schüler besser. Man spricht mehr miteinander, auch unter Lehrerkollegen. Die Integration der Realschule in die Sekundarschule hat dazu geführt, dass die Niveauzuteilung viel entspannter angegangen wird. «Wir haben weniger Schulverweigerer, kaum mehr Rekurse und weniger Gewalt», sagt Schleich. Dass die Schüler sich im Grossraumbüro verdrücken könnten, war eine Befürchtung, die sich in Herisau nicht bewahrheitet hat. Dem hat man mit einem Lernjournal einen Riegel geschoben. Die Tatsache, dass Schüler ihr ­Programm quasi wie ein Wunschkonzert zusammenstellen können, führt dazu, dass Schüler kaum mehr sagen können, ob sie «Gymnasium-fähig» sind oder für eine Banklehre geeignet. Es braucht Aufnahmeprüfungen. «Die Kompatibilität im Ausbildungssystem Schweiz ist eine Herausforderung, an der wir arbeiten müssen», räumt Schleich ein. Aber gegenüber den anderen kooperativ geleiteten Schulen im Kanton Appenzell bringen die Lernlandschaftsschulen in Herisau mehr Schüler in die «Kanti», beziehungsweise ins Gymnasium. Schleich ist vorsichtig in der Bewertung seiner Schule. Es gebe zu viele un­bekannte Faktoren. Aber die Tatsache, dass für Lernlandschaftsschüler die Kanti-Aufnahmeprüfung weniger schwer war wie für andere Schüler, stimmt ihn zu­versichtlich.

Die Kosten
Bei einem Jahresbudget von 24 Millionen Franken kommt das Modell Lernlandschaft jährlich 180 000 Franken teurer zustehen als das ursprüngliche Modell, ist aber günstiger als andere kooperative Modelle, die im Appenzell eingeführt wurden. Eingespart werden können unter anderem kurzfristige Ausfälle wegen Krankheiten, weil sich die Lehrer untereinander organisieren müssen.

Das Fazit
Die Antwort auf die Frage, ob sie nicht lieber wieder zur traditionellen Sekundarschule zurückkehren möchte, klingt wenig euphorisch: «Eher nicht», sagt Angela Kollmann. Ein leichtes Plus für Lernlandschaften im Appenzell also. Schulleiter Dominik Schleich sieht überwiegend Vorteile. Und er würde eine Lernlandschaft konzeptionell nur so kompromisslos einführen, wie es im Appenzell gemacht wurde.
Appenzell ist mit dem Kanton Baselland nicht vergleichbar. Die Aufhebung des niveaugetrennten Unterrichts steht ausser Frage. Das schränkt ein. Lern­formen, die zum selbstständigen Erarbeiten von Kompetenzen führen, können auch ausserhalb von Lernlandschaften, eingeführt werden.
In Reinach werde man das Konzept gründlich anschauen, sagt Co-Schul­leiter Roland Herz. Insbesondere wolle man Wert darauf legen, dass wieder vermehrt an der Schule gelernt wird. Für die Reinacher Kinder hiesse das, Wörtli büffeln findet wieder vermehrt im Schulzimmer statt im Kinderzimmer als Hausaufgabe statt. Und Co-Schulleiter Michael à Wengen, sagt, dass es in Reinach für Lernlandschaften sicher zu früh sei. Dort müsste politische Überzeugungsarbeit geleistet werden.


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