Der siebzehnjährige Dennis zieht am Wochenende mit seinem elfjährigen
Bruder Nick los. Ihr Ziel ist der Baumarkt in der Nähe. Sie haben ein
Brecheisen dabei, um sich Zutritt zum Baumarkt zu verschaffen. Dennis will eine
Motorsäge stehlen, weil sich dieses Gerät optimal für die Bastelarbeiten an
seinem Kart eignet. Die Polizei erwischt die beiden. Schliesslich landet
Dennis, ein guter Gymnasiast aus einer intakten Familie und einem gepflegten
sozialen Umfeld, in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis des Buchautors
Michael Winterhoff. Was Winterhoff in den Gesprächen mit Dennis erlebt,
beschreibt er als symptomatisch für viele Kinder und Jugendliche in der
heutigen Zeit: Dennis zeigt keinerlei Reue, keine Problemeinsicht und hat auch
keine Angst vor den Folgen seiner Tat. Auch ist ihm kein Problem, dass er
seinen jüngeren Bruder mit in die Tat hineingezogen hat.
Winterhoff: "Das Ruder herumreissen", Bild: stern.de
Michael Winterhoff: SOS Kinderseele. Buchbesprechung von Eliane Gautschi
Mit diesem Beispiel aus seiner kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis
steigt Michael Winterhoff ins Thema seines Buches «SOS Kinderseele. Was die
emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet und was wir dagegen
tun können» ein. Entstanden ist es aus der Sorge des Autors um die Kinder und
Jugendlichen der heutigen Zeit. In seiner Praxis beobachtet er seit längerem,
dass immer mehr Kinder und Jugendliche zu ihm kommen, die den Anforderungen der
Schule, des Alltagslebens und später des Berufslebens nicht mehr gewachsen
sind. Die Frage nach dem Warum beantwortet er aus tiefenpsychologischer Sicht
mit teils psychoanalytischen Begrifflichkeiten und vor dem Hintergrund einer
von ihm entwickelten Entwicklungspyramide der sozialen und emotionalen Psyche.
«Hinter den Auffälligkeiten der meisten Kinder, die heute zu mir kommen, steht
als Ursache eine nicht ihrem Alter entsprechende Entwicklung dieser Psyche»,
sagt er und legt an vielen Beobachtungen und Fallbeispielen dar, dass
zahlreiche Kinder und Jugendliche heute emotional und sozial auf dem Stand
eines sechzehn Monate alten Kindes stehengeblieben und gewohnt sind, die
Mitmenschen nach ihren unmittelbaren Bedürfnissen steuern zu können. Den Grund
dafür sieht Winterhoff darin, dass es vielen Kindern heute an Erwachsenen
fehle, die ihnen ein klares Gegenüber sind und ihnen die Möglichkeiten geben,
ihre Psyche nach und nach zu entwickeln. Die Bedeutung der Beziehung für die
Entwicklung seelisch gesunder Kinder durchzieht Winterhoffs Überlegungen zu
Erziehung und Schule, auf die er in der Folge eingeht, und er fordert eine
Diskussion ohne Denkverbote: «Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet:
‹Sind wir Erwachsenen so weit, dass wir uns diesem Problem unvoreingenommen
stellen? Oder wollen wir uns weiterhin darauf beschränken, bei jedem Hinweis
auf Hintergründe für eine emotionale Verarmung junger Menschen reflexartig mit
dem Verweis auf die eigene Jugend zu reagieren?› Das ist das beliebteste
Argumentationsmuster, um die von mir angestossene Debatte gar nicht erst führen
zu müssen.» (S. 17)
Die unausgesprochenen Denkverbote führt Winterhoff auf eine Art Lobby zurück,
die sich vor allem im Bereich der Bildungspolitik und der
Erziehungswissenschaften gebildet habe, um bestimmte Denkweisen ungehindert in
Konzepte und Handlungsanweisungen giessen zu können. Dazu gehöre zum Beispiel
die Meinung, dass Konzepte, die vor zehn, zwanzig Jahren noch galten, schon
deshalb überwunden werden müssten, weil sie alt und somit rückständig seien.
Oder dass man nicht sagen dürfe, Freiheit könne sich innerhalb bestimmter
Grenzen am besten entwickeln: Wer das tue, gelte als Feind der Freiheit. Und
schliesslich dürfe man im Verhältnis von Erwachsenem und Kind nicht von
natürlicher Hierarchie sprechen: Das klinge nach Machtspielchen, und wer es
trotzdem tue, sei Anhänger autoritärer Erziehungskonzepte. Man dürfe auch nicht
sagen, dass Kinder sich nicht von allein entwickeln würden: Wer die Bedeutung
von erwachsenen Bezugspersonen betone, enge die Freiheit ein und unterstütze
autoritäre Erziehungskonzepte. Mit diesen Denkverboten würde die Diskussion
abgewürgt.
Winterhoff durchbricht diese Tabus und durchleuchtet aktuelle Reformprojekte in
Kindergarten und Schule. Dazu gehören in erster Linie die heute breit
propagierten offenen Unterrichtsformen: «Diese Konzepte widersprechen
entwicklungspsychologischen Grundsätzen, überfordern die Kinder und versäumen
es, ihre Entwicklung im Bereich der emotionalen und sozialen Psyche zu
unterstützen.» (S. 113) Hinter diesen Konzepten stecke der Gedanke des
freien Lernens: Das Kind solle Selbständigkeit üben. Doch werde übersehen, dass
die Kinder keine Selbständigkeit lernen, sondern mehr oder weniger sich selbst
überlassen würden. Das sei ein gewichtiger Unterschied, denn Letzteres bedeute
eine Vernachlässigung der Schüler. Da helfe es auch nichts, dass diese
Vernachlässigung eigentlich gut gemeint sei. Verschleiert hingegen werde, dass
der Lehrer in diesen Unterrichtsmodellen unwichtiger werde und nur noch als
Moderator und Begleiter fungieren soll, den die Schüler im Zweifelsfall aktiv
ansprechen müssen, und diese Beziehung durch die Beziehung zwischen Schüler und
Schüler ersetzt würde. Wie auch schon andere Untersuchungen gezeigt haben,
bestätigt Winterhoff, dass es zwar Ausnahmeschüler gebe, die mit jedem Konzept
klarkämen und sich trotz widriger Umstände prächtig entwickelten. «Aber das
sind und bleiben eben genau das: Ausnahmen.» (S. 71)
An einer zunehmenden Zahl von Kindern würde man aber das Gegenteil beobachten,
sie kämen mit der Schulsituation nicht mehr zurecht: «Immer mehr Kinder
beschäftigen immer mehr Ergotherapeuten, Logopäden oder Psychotherapeuten, denn
sie haben erhebliche Schwierigkeiten im Bereich Lernen und – nicht zuletzt – im
Bereich der sozialen Kompetenz.» (S. 10) Und er fragt zu Recht: «Sind
entwicklungspsychologische Erkenntnisse pulverisiert worden und gelten nicht
länger?» (S. 89)
Deshalb fordert Winterhoff, sämtliche derzeit kursierenden Konzepte offener
Arbeit und angebotsorientierter Pädagogik zumindest auf den Prüfstand zu
stellen und die pädagogischen Experimente durch Langzeitstudien zu überprüfen.
(S. 168) Dabei rechnet er mit erheblichem Widerstand: «Allerdings sitzen
in den Elfenbeintürmen der erziehungswissenschaftlichen Fakultäten in
Deutschland [nicht nur da, A.d.V.] erstaunlich viele Pädagogen, die anscheinend
glauben, mit jedem neuen Lernmodell werde die Welt automatisch ein wenig
besser.» (S. 79) Das bedinge, sich beim Überdenken dieser Konzepte
grundsätzlich immer wieder klarzumachen, dass die emotionale und soziale
Entwicklung von Kindern kein Spielball von akademischen Theorien und Modellen
sein dürfe.
Winterhoff bleibt nicht bei der Beschreibung der Probleme stehen. Das
«Zauberwort» sei Beziehung, die er in den Mittelpunkt seiner Überlegungen
stellt. Denn sie sei Voraussetzung, dass aus dem Kind als erwachsener Mensch
ein selbständig denkendes und frei agierendes soziales Wesen werden könne. Die
Aufgabe des Erwachsenen sei es, das Kind in angemessener und positiver Weise
auf sich zu beziehen und es anzuleiten und zu begleiten. In der Schule falle
diese Aufgabe selbstverständlich dem Lehrer zu. Deshalb müsste eigentlich das
erwachsene Gegenüber «Lehrer», an dem sich das Kind orientiert, der es anleitet
und in den Lernstoff einführt, in jedem pädagogischen Konzept gestärkt werden
und im Vordergrund stehen: «Die Kinder werden dann lernwillig und wissbegierig,
bleiben aber weiterhin auf Unterricht angewiesen, in dem der Lehrer sie auf
sich bezieht. Es muss also zuerst ein Fundament geschaffen werden, damit
beispielsweise das Erlernen der Kulturtechniken möglich ist. […] Das Kind fühlt
sich gehalten und sicher, es macht nach Aufforderung gern etwas für den
Erwachsenen, und daran wächst wiederum die Beziehung.» (S. 155) Die
Beziehung wird also zum Gegenmittel für eine verfehlte Entwicklung und
ermöglicht es den Kindern und Jugendlichen, jene seelischen Reifeschritte zu
machen, die sie bis jetzt noch nicht vollzogen haben. «Kinder, die die Chance
haben, eine altersgemässe psychische Entwicklung zu durchlaufen, werden auch
die psychischen Fähigkeiten entwickeln, die für demokratisches Handeln und
Denken notwendig sind. Dazu gehören Einfühlungsvermögen und Empathie, damit sie
in der Lage sind, Mitmenschen und ihre Meinungen ernst zu nehmen und zu
respektieren, oder auch Unrechtsbewusstsein, damit sie zwischen richtigem und
falschem Handeln unterscheiden können.» (S. 105) Entsprechend müssten
Erzieherinnen und Lehrer in ihrer Ausbildung neben dem pädagogischen Rüstzeug
tiefgehende Kenntnisse in der Entwicklungspsychologie vermittelt bekommen und
sich ganz mit ihrer Aufgabe identifizieren.
Winterhoff beschliesst sein Buch mit einer durchaus optimistischen Perspektive
und bringt unsere Aufgabe in Elternhaus und Schule auf den Punkt:
«Wenn wir nicht wollen, dass wir immer mehr Egoisten, Narzissten sowie
beziehungsunfähige und lustorientierte Egoisten in unserer Gesellschaft haben,
müssen wir sehr schnell aufwachen und Gegensteuer geben.» (S. 201) Es gehe
darum, die Situation ohne ideologische Scheuklappen zu betrachten, denn: «Die
emotionale und soziale Kompetenz von Menschen ist der Kitt unserer
Gesellschaft. Wenn sie verloren geht, bricht die Gesellschaft auseinander.»
(S. 208) «Noch sind wir Erwachsenen in der Lage, durch geeignete
Massnahmen das Ruder herumzureissen und die Katastrophe, die in naher Zukunft
auf uns zukommt, aufzuhalten. Doch um das zu erreichen, müssen wir alle aktiv
werden: Eltern, Grosseltern, Lehrer und Ausbilder.» (S. 216)
Jeder Einzelne kann hier und heute anfangen, im Kleinen die Veränderungen
herbeizuführen: «Dieser Weg ermöglicht es Kindern, eine emotionale Entwicklung
zu durchlaufen, die sie zu zufriedenen und sozial kompetenten Erwachsenen
macht. Kinder sind die Zukunft, sagt man zu Recht. Deshalb sollten wir alles
daransetzen, dass sie eine Zukunft haben, in der sie eine Chance auf
befriedigende Arbeit und befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen haben.»
(S. 199)
Das Buch Michael Winterhoffs gehört zu den Neuerscheinungen auf dem
pädagogisch-psychologischen Sektor, die sich wohltuend realistisch und gut
verständlich mit den anstehenden Problemen befassen und darum gerne zur Lektüre
empfohlen werden können.
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