Die Geschichte lässt sich
erzählen wie ein schlechter Scherz: Zuerst wog das Ding knapp ein Kilo und hatte
557 Seiten. Jetzt ist es um 87 Seiten geschrumpft und hat also auch
gewichtsmässig abgenommen. Millionen haben sie reingesteckt, und was kommt
raus? Zwei Haufen Altpapier.
"Der perfekteste Lehrplan allein genügt nicht". Bild: vebidoo.de
Was muss Schule können? Wochenzeitung, 13.11. von Susan Boos
Das Objekt des Hohns
heisst Lehrplan 21. Die KritikerInnen reden von einem Monster. In verschiedenen
Kantonen werden bereits Unterschriften gesammelt, um es zu stoppen.
Letzten Freitag hat die
Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz die verschlankte zweite Version
des Lehrplans vorgelegt. Er soll die Bildung vom ersten bis zum neunten
Schuljahr harmonisieren. Die Kantone können aber selber entscheiden, was sie
damit tun wollen.
Tatsache ist, dass der
Lehrplan den sprachlichen Charme eines Beipackzettels verströmt. Wenn man ihn
trotzdem liest, beginnt man aber zu verstehen, weshalb dieses Werk manche
Rechte wild macht. Da steht zum Beispiel unter dem Titel «Wirtschaft, Arbeit,
Haushalt»: «Die Schülerinnen und Schüler können sich über die Vereinbarkeit von
Arbeitsformen informieren, Vor- und Nachteile von Arbeitszeitmodellen einschätzen
und vergleichen (z. B. Erwerbsarbeit, Haus- und Familienarbeit,
Freiwilligenarbeit, Vollzeit-, Teilzeitarbeit, Jobsharing, Arbeit auf Abruf).»
In der Geschichte sollen sie sich unter anderem mit der «Schweiz während der
Weltkriege, des Landesstreiks und des Kalten Kriegs» beschäftigen. Im Bereich
Umwelt sollen sie sich «mit der nachhaltigen Produktion von Gütern
auseinandersetzen und Erkenntnisse in Bezug auf das eigene Verhalten
reflektieren können». Alles Themen, von denen wir früher in der Schule nie
etwas gehört haben, nicht einmal im Lehrerseminar. Wenn die Menschen, die die
Schule schon hinter sich haben, alles könnten, was in diesem Lehrplan steht,
würde sich die Schweiz anders anfühlen – weltoffener, kompetenter und
souveräner.
Das ist vermutlich das
Problem des Lehrplans 21: Er beschreibt, was ein gebildeter Mensch heute können
sollte. Er liefert aber keine Antworten auf die brennenden Fragen, die viele
Eltern umtreiben: Wie kommt mein Kind ins Gymnasium? Was muss es können, um
einen gut bezahlten Job zu bekommen? Wie stopft man das Wissen in es rein? Und
da drängt sich eine fundamentale Frage dazwischen: Was kann Schule überhaupt?
Vor hundert Jahren war sie eine Disziplinierungsanstalt. Lehrer durften
schlagen und waren die Herren im Dorf. Reiche Jungs gingen aufs Gymnasium, arme
mussten «chrampfen». Die Mädchen interessierten nicht.
Später kam die
Achtundsechzigerbewegung. Junge, aufmüpfige LehrerInnen eroberten die
Schulzimmer. Sie verstanden Lernen und Lehren als Akt der Emanzipation. Die SchülerInnen
hatten kaum Nachhilfe und die LehrerInnen kein Burn-out. Alle vertrauten
darauf, dass es schon gut kommt, weil es genügend Jobs gab und alle irgendwie
unterkamen.
Das ist vorbei. Die Schule
muss nicht nur bilden, sie soll die Kinder trainieren, damit sie in der
Leistungsgesellschaft einen guten Platz erringen. Hartes Training allein
gebiert aber keine Champions – und mehr Druck, mehr Stress, mehr Nachhilfe
machen nicht intelligenter. Der Lehrplan 21 entzieht sich diesem
Leistungsprimat. Flaniert man durch das Werk, spürt man darin den Wunsch,
emanzipierte, selber denkende Menschen heranwachsen zu lassen. Das ist schön.
Wenn es trotzdem nicht funktioniert, liegt es nicht am Lehrplan. Am Personal
liegt es auch nicht, denn vermutlich gab es noch nie so viele engagierte
LehrerInnen wie heute.
Es liegt vielmehr am
Irrsinn der heutigen Ökonomie, die einerseits Effizienzsteigerung
verlangt – und andererseits im Alltag dann Sparziele durchsetzt. So etwas
geht nur, wenn man die Klassen grösser macht, den LehrerInnen mehr Stunden
auflädt und ihnen die bezahlten Bildungsurlaube streicht. Viele gute
LehrerInnen geraten zwangsläufig in ein Burn-out oder wechseln rechtzeitig den
Beruf.
LehrerInnen und
SchülerInnen brauchen Zeit und Raum. Sonst verkommt die Schule wieder zur
Disziplinierungsanstalt, die Reichen verziehen sich an Privatschulen, die
schwierigen armen Kids fallen raus. Der perfekteste Lehrplan allein genügt
nicht.
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