28. Oktober 2014

Gesichtsverlust zum Wohle aller

Was ist besser: Ein Politiker, der mit vielen Tricks gegen einen Gesichtsverlust ankämpft oder einer, der zum Wohle aller begangene Fehler zugibt? Selbst bei einem - so sagt man mir - intelligenten Mann wie dem Berner Bildungsdirektor Bernhard Pulver, beginnt man zu zweifeln. Trotz der erdrückenden wissenschaftlichen Evidenz gegen das frühe schulische Fremdsprachenlernen weicht Pulver nicht einen Millimeter vom EDK-Sprachenkompromiss ab. Die Reihen sind geschlossen, doch halt: Da ist ja einer, der ausschert. Res Schmid, Bildungsdirektor von Nidwalden, möchte das Französisch stärken und es deshalb an die Oberstufe verlegen. Dafür erntet er besonders aus der Westschweiz heftige Kritik. Verrückte Welt! Doch zusammen mit seinem Innerrhödler Kollegen kümmert er sich nicht um den derzeit demonstrierten EDK-Kadavergehorsam und wird wohl dafür an der Versammlung der Erziehungsdirektoren nochmals tüchtig abgestraft und zusammengestaucht. Respekt! Gibt es die "Schweizer des Jahres"-Wahl eigentlich noch? Das wäre mal eine Alternative zu Roger Federer, oder? (uk)





Opportunistische "Gesichtswahrer" drücken die Abweichler an die Wand, Bild: Valérie Chételat

"Wir Berner sind ebenso stur", Bund, 28.10. von Lisa Stalder


Wie gut ist Ihr Französisch, Herr Pulver?
Ich denke, ich habe sehr gute Französischkenntnisse. Dies nicht zuletzt, weil ich an der Universität Neuenburg unterrichtet habe und dort auch meine Dissertation geschrieben habe. Aber gelernt habe ich die Sprache in der Schule und im Alltag.
Da sind Sie aber eine Ausnahme. Es scheint, als hätte das Französische in einigen Teilen der Schweiz keinen sehr hohen Stellenwert mehr.
Ja, in der Sprachdebatte wird deutlich, dass man sich in Teilen der Deutschschweiz nicht mehr bewusst ist, wie entscheidend die Mehrsprachigkeit für uns ist. Früher war es selbstverständlicher, Französisch zu lernen. Aber man darf nicht vergessen, dass Französisch auch heute von grosser Wichtigkeit ist, wenn man beruflich etwas erreichen will.
Die Parlamente von Thurgau und Schaffhausen haben sich bereits gegen Frühfranzösisch in der Primarschule ausgesprochen, andernorts sind Vorstösse hängig. Es gibt offenbar nicht nur den Röstigraben, sondern auch den Reussgraben.
In den letzten Monaten ist dieser Eindruck entstanden. Allerdings ist die Diskussion nicht neu. Es begann vor rund zehn Jahren, als der Kanton Zürich aus der Sprachenlinie der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) ausscherte. Ich persönlich finde das eine gefährliche Entwicklung. Denn bisher haben wir hier in der Schweiz eine Sprachensituation, die keine Konflikte birgt. Das setzt aber voraus, dass die Mehrheit, also wir Deutschschweizer, gegenüber den Französischsprachigen einen klaren Schritt machen. Die Welschen und die Tessiner brauchen zwingend eine zweite Landessprache, um in unserem Land weiterzukommen. Wenn wir Deutschschweizer nun aber so tun, als müssten sich die Minderheiten an uns orientieren, dann gefährdet dies den Sprachenfrieden, ja gar die Raison d’Être unseres Landes. Und es scheint, als ob diese Tendenz östlich der Reuss stärker ist als bei uns.
Ihre Kolleginnen in Genf und der Waadt sehen den nationalen Zusammenhalt gefährdet. Würden Sie auch so weit gehen?
Da muss man differenzieren. Etwas vom Besten der Schweiz ist ihr Umgang mit Minderheiten – kulturell, sprachlich, konfessionell. Wenn nun eine Mehrheit der Deutschschweizer sagt, Französisch ist für uns nicht so wichtig, dann ist der nationale Zusammenhalt mittelfristig tatsächlich gefährdet. Eine solche Haltung löst bei den Welschen und den Tessinern eine Frustration aus, denn von ihnen erwartet man den Erwerb einer zweiten Landessprache. Im schlimmsten Fall kann eine solche Entwicklung zu belgischen Verhältnissen führen. Nicht in zwei Wochen, aber vielleicht in zehn, zwanzig Jahren. Es erstaunt daher nicht, dass die Französischsprachigen nun sagen: Passt auf, was ihr da macht. Zum Glück sind wir aber bei weitem nicht dort.
Hätte das Begehren, Frühfranzösisch zugunsten von Frühenglisch aus der Primarschule zu verbannen, auch im Kanton Bern Chancen?
Ich habe in den letzten Jahren stets die Erfahrung gemacht, dass man sich in allen Gremien und Institutionen einig war, wenn es um dieses Thema ging. Klar, als der Grosse Rat 2005 über die Frage Frühfranzösisch oder Frühenglisch abstimmte, war das Ergebnis nicht einstimmig. Aber eine grosse Mehrheit sprach sich für Französisch aus. Und ich denke, diese Haltung hat sich seither noch verstärkt.
Frühfranzösisch wird an der Jahrestagung der Erziehungsdirektorenkonferenz diese Woche Thema sein. Haben Sie dort eine gewichtigere Funktion, weil Sie Erziehungsdirektor eines bilinguen Kantons sind?
Bern hat als zweisprachiger und grosser Kanton einen wichtigen Einfluss. Den haben andere grosse Kantone aber auch. Wir können aber sagen, dass wir uns stets für unsere Haltung eingesetzt haben. Manchmal heisst es, die Zürcher oder die Ostschweizer seien stur, wenn es um ihre Meinung geht. Ich kann nur sagen: Wir Berner sind ebenso stur, wenn es um das Französische geht. Gleichzeitig bin ich aber froh, dass ich in der Konferenz nicht alleine bin: Die grosse Mehrheit wird an der bisherigen Strategie festhalten wollen.
Die Bildungskommission des Nationalrats, die WBK, hat angekündigt, sich in den Sprachenstreit einzumischen. Dann nämlich, wenn sich die EDK nicht einigen kann. Was würde das bedeuten?
Hier muss ich als Erstes sagen, dass ich sehr optimistisch bin, dass die EDK die geltende Politik bestätigt. Weil zwei, drei Kantone drohen, aus der geltenden Linie auszuscheren, sehen wir keinen Grund, etwas zu ändern. Dafür werde ich mich einsetzen, und es wird auch mehrheitsfähig sein. Nun muss man sich fragen, ob die Tatsache, dass ein paar Kantone vielleicht ausscheren möchten, für eine Intervention des Bundes reicht. Ich finde es gut, dass es dieses Drohschwert vonseiten des Bundes gibt, es regt zum Denken an. Doch es birgt auch Risiken.
Welche?
Würde auf Bundesebene ein Gesetz eingeführt, das verlangt, dass die erste Sprache Französisch sein muss, fände ich das inhaltlich gut. Dann ist aber die Gefahr da, dass dagegen das Referendum ergriffen wird. Und man stelle sich vor, was geschieht, wenn sich das Schweizervolk in einer Abstimmung für Englisch und gegen Französisch entscheidet. Da sehe ich den Zusammenhalt der Schweiz gefährdet. Dieses Risikos muss sich die WBK bewusst sein.
Sie haben den nationalen Zusammenhalt erwähnt. Wäre es nicht besser, zuerst den Graben zwischen den Sprachgruppen im Kanton Bern zuzuschütten?
Das ist eine Daueraufgabe, die wir wahrnehmen müssen. Denn es gibt einen Unter­schied zwischen sprachlichen und regionalen Minderheiten. Die Menschen aus dem Emmental oder dem Berner Oberland haben manchmal das Gefühl, der Kanton verstehe ihre Anliegen nicht. Dennoch: Sie haben die gleiche Sprache und weitgehend die gleiche Kultur, sie schauen die gleichen Fernsehsender und lesen dieselbe Literatur. Aber eine sprachliche Minderheit hat auch immer kulturell eine andere Ausrichtung. Und in solchen Fällen sind Sonderrechte zwingend.
Reicht das?
Wir könnten im Kanton Bern sicher mehr machen, was die Zweisprachigkeit angeht. Sei es, dass die Deutschsprachigen mehr in Kontakt mit dem Französische kommen, sei es, dass wir den bilinguen Unterricht fördern, oder sei es, dass das Französische in der Verwaltung gestärkt wird. Wir müssen stets schauen, wo wir als Kanton eine Strategie ent­wickeln können, um die Zweisprachigkeit zu stärken.
In Bern wird seit 2011 Frühfranzösisch unterrichtet. Hat sich der Unterricht bisher bewährt?
Noch gibt es keine wissenschaftlichen Evaluationen. Wir merken aber, dass es bisher kaum Probleme gegeben hat. Zudem erleben wir sehr viele Kinder, die grosse Freude an der Sprache haben und in der Lage sind, selber zu parlieren. Noch unklar ist aber, wie die Situation im fünften, sechsten oder siebten Jahr aussieht, wenn sich der Französischunterricht verändert, ja systematischer wird. Mein Ziel ist es, dass Schülerinnen und Schüler nach der neunten Klasse noch immer Freude an der Sprache haben und diese mit einem grossen Selbstvertrauen sprechen. Vieles deutet darauf hin, dass es so sein könnte.
Der bekannte Kinderarzt Remo Largo hat kürzlich im «Bund» geschrieben, dass der Sprachenunterricht in den Schweizer Primarschulen nicht kindgerecht sei.
Das ist im Zusammenhang mit der laufenden Debatte zu verstehen. Wissenschaftler sagen, dass eine Sprachimmersion optimal wäre und dass der Spracherwerb im Alltag und in der Familie rascher erfolgt als in der Schule. Nun gilt es aber zu sagen, dass wir nie die Erwartung hatten, dass Kinder mit Frühfranzösisch die gleiche Sprachkompetenz erwer­ben wie solche, die zweisprachig aufwachsen. Klar bringen Sprachimmersionen und Sprachaufenthalte mehr als der Unterricht in der Schule. Aber das ist doch kein Grund dagegen, in der Primarschule Französisch zu unterrichten.
Sollten Austauschprogramme nicht gezielter gefördert werden?
Das wäre natürlich wünschenswert. Aber rein praktisch ist es nicht möglich, den Sprachunterricht in der Schule durch Sprachaustausche in der Romandie zu erset­zen. Wir brauchen etwas, womit wir alle Kinder erreichen können. Mit Schüleraustauschen können wir das nicht.
Wie wird sich der Französischunterricht entwickeln?
Es wird vor allem darum gehen, mit Sprachen lockerer umzugehen, die Sprachen selbstverständlicher zu sprechen. Als ich Französisch gelernt habe, war der Ansatz ein spielerischer. Ich denke, dass es künftig noch mehr in diese Richtung gehen wird.

1 Kommentar:

  1. Ist Ihnen beim Lesen aufgefallen, wie elegant Pulver dem Einwand von Largo ausgewichen ist? Niemand hat je erwartet, geschweige denn behauptet, "dass Kinder mit Frühfranzösisch die gleiche Sprachkompetenz erwer­ben wie solche, die zweisprachig aufwachsen". Largo meint vielmehr, dass unser heutiger schulischer Fremdsprachenerwerb so nicht funktionieren kann. So Recht Largo damit auch hat, so unmöglich ist es für Pulver, dies auch nur ansatzweise zuzugeben.

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