28. Oktober 2014

Die Sprachenfrage historisch betrachtet

Im 19. Jahrhundert war der Fremdsprachenunterricht in der Volksschule der deutschsprachigen Schweiz auf die Sekundarschulen beschränkt und wurde ausschliesslich wirtschaftspolitisch begründet: Die künftige Elite sollte für eine Laufbahn in anspruchsvollen Berufen Französisch lernen. Für die grosse Mehrheit hingegen galt das Beherrschen mehrerer Sprachen aus pädagogischen Gründen (Überforderung) als unmöglich. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges befürchteten politische und intellektuelle Kreise, die Schweiz könne entlang der Sprachgrenze auseinanderbrechen. Dem Fremdsprachenunterricht wurde deshalb neu eine nationalpolitische Bedeutung zugewiesen: Schülerinnen und Schüler sollten die Landessprachen lernen, die Mehrsprachigkeit der Schweiz sollte Teil ihrer Identität werden. Von einer besseren Verständigung über die Sprachgrenzen hinweg erhoffte man sich einen Beitrag zur Sicherung des nationalen Zusammenhalts. Dieser Anspruch richtete sich im Zuge der geistigen Landesverteidigung an alle Schülerinnen und Schüler.




Die Autoren fordern Kompromissbereitschaft und Mässigung, was uns teuer zu stehen kommt, Bild: germanlessonsgta.wordpress.com

Für eine Mässigung in der Fremdsprachenfrage, NZZ, 28.10. von Lucien Criblez, Anja Guidici und Flavian Imlig




Frühes Fremdsprachenlernen
Diese nationale Vision wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die zunehmende Bedeutung des Englischen bedroht. Nationalpolitisch war Französisch, wirtschaftspolitisch aber neu Englisch legitimiert. Die Bildungspolitik versuchte den unmöglichen Spagat: 1992 deklarierte die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) die Kenntnis sowohl dreier Landessprachen als auch einer internationalen Kommunikationssprache zum Richtziel des schulischen Sprachenlernens. Damit war ein weitreichender Bildungsanspruch für alle formuliert.
Der Fremdsprachenunterricht blieb zunächst auf die Sekundarstufe I konzentriert. Ab den 1970er Jahren wurde vor dem Hintergrund entwicklungspsychologischer sowie psycho- und soziolinguistischer Erkenntnisse zum Spracherwerb und zur kognitiven Aufnahmefähigkeit im Kindesalter die Vorverlegung des Fremdsprachenlernens in die Primarschule zum mehrheitlich anerkannten Programm schulischer Sprachenpolitik. Neue kommunikative Ansätze und Methoden beflügelten die optimistischen Erwartungen in die pädagogischen Möglichkeiten eines möglichst früh beginnenden Fremdsprachenlernens. Bis in die 1990er Jahre war Französischunterricht in der Primarschule in fast allen Kantonen Realität.
Die Betonung der wirtschaftspolitischen Bedeutung des Englischen zeigte im Kontext der Globalisierung in den 1990er Jahren Wirkung: In Zürich, Appenzell Innerrhoden und der Zentralschweiz fielen politische Entscheide zugunsten des Englischen. Die politische Auseinandersetzung zwischen den Kantonen drehte sich nun um die nationalpolitisch aufgeladene Frage, ob Englisch einer Landessprache vorzuziehen ist. Sie mündete 2004 im Sprachenkompromiss, mit dem die EDK den Fremdsprachenunterricht pragmatisch zu koordinieren versuchte. Der Kompromiss geht davon aus, dass in einer zweiten Landessprache und in Englisch bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit die gleichen Bildungsziele erreicht werden, beginnend in der 3. und 5. Primarschulklasse. Die Reihenfolge wurde bewusst nicht festgelegt. Mit sprachübergreifenden Zielen wurde der Bildungsanspruch für alle ausgeweitet und vorwiegend pädagogisch und nationalpolitisch legitimiert.
Zunächst zurückhaltend, dann umso heftiger entstand erneut politischer Widerstand, diesmal gegen den Sprachenkompromiss. Zwei Kantone rückten 2014 von ihm ab, in andern sind entsprechende Vorstösse hängig. Auch massgebliche Kreise der Lehrerschaft wechselten ins Lager der Kritiker. Dem optimistischen pädagogischen Programm des frühen und weitreichenden Sprachenlernens für alle wird entgegengehalten: Zwei Fremdsprachen in der Primarschule würden Kinder und Lehrpersonen überfordern, das Lernen in der Erstsprache beeinträchtigen, die Unterrichtszeit in den musischen Fächern verringern, damit die ganzheitliche Bildung gefährden und einen Ausbau im Mint-Bereich verhindern. Diese Kritik wird mit neueren, teilweise allerdings widersprüchlichen Forschungsresultaten begründet, die zeigen, dass die Effekte des frühen Fremdsprachenlernens insbesondere bei leistungsschwachen Kindern nur teilweise nachhaltig sind und dass die neuen fachdidaktischen Ansätze ihre Versprechen nur teilweise einlösen konnten, auch weil ihre Adaption auf den Primarunterricht nur ungenügend gelang.
Die Bildungsdirektoren stehen vor einem schweren Entscheid, denn unterschiedliche Legitimationsstränge führen mit je nachvollziehbaren Argumenten zu unterschiedlichen Lösungen der schulischen Fremdsprachenfrage. Die eine, richtige Lösung kann es nicht geben, denn je nachdem, wie die Argumente gewichtet werden, kommt man zu einem andern Ergebnis.
Kompromiss in jedem Fall
Gerade weil es sich um einen normativen Entscheid im Sinne der Gewichtung von Argumenten handelt, sind Mässigung im Allgemeingültigkeitsanspruch der eigenen Argumentation und Kompromissbereitschaft gefragt. Das nationalpolitische Argument kann leicht zum nationalistischen verkommen, der idealistische Bildungsanspruch kann nicht einfach gegen jede Erfahrung aufrechterhalten werden, und der Schutz der leistungsschwachen Lernenden darf nicht zum populistischen Argument verkommen oder zur Aufgabe des grundlegenden Bildungsanspruchs für alle führen.

Angesichts begrenzter Zeitbudgets in der Schule geht es aber letztlich auch darum, für einen politisch definierten Bildungsanspruch die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Auch in dieser Hinsicht sind die Bildungsdirektoren - unabhängig von der Ausprägung des Kompromisses - gefordert.

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