20. Oktober 2014

Die Normschule passt nur für zwei Drittel der Kinder

Die Schule krankt daran, dass alle zur selben Zeit dieselben Ziele erreichen sollen, sagt Kinderarzt Romedius Alber. Er fordert: mehr Gelassenheit, weniger Therapie.




Alber: Buben sind erzieherisch anspruchsvoller, Bild: 123RF


"Sie halten sich für dumm", Beobachter, 17.10. von Daniel Benz, Birthe Homann und Tanja Polli



Beobachter: Sie haben ein Buch über ­Schulschwierigkeiten geschrieben – und zwar für Kinderärzte. Warum?
Romedius Alber
: Die Schule ist für Kinderärzte ein alltägliches Thema. Es vergeht kein Tag in der Praxis ohne ein Kind mit psychosomatischen Symptomen wie Kopf- oder Bauchschmerzen. In 70 Prozent der Fälle ist die Schule die Ursache dafür.
Beobachter: In gewissen Kantonen erhält fast die Hälfte der Kinder sonder­pädagogische Unterstützung. Wo hakt es: bei den Kindern oder der Schule?
Alber: Der Grund ist in erster Linie, dass Kinder unterschiedlicher sind, als die Schule erlaubt. Wir leben in einer Welt, die Indivi­dualität als grosse Errungenschaft feiert. Gleichzeitig sind unsere Vorstellungen von Normalität äusserst eng und rigid geworden. In der Schule wird das zum Problem. Jegliche Abweichung wird heute als Defizit wahrgenommen. Alle sollen zum selben Zeitpunkt dieselben Ziele erreichen. Als biologisch denkender Mensch weiss ich: Das kann nicht funktionieren.
Beobachter: Wie häufig finden Sie bei den Kindern, die ­wegen Schulschwierigkeiten zu Ihnen kommen, tatsächlich medizinisch relevante Störungen?
Alber: Die meisten dieser Kinder haben keine ­Behinderung, sondern entwickeln sich ­einfach langsamer. Andere haben ein dissoziiertes Entwicklungsprofil, also ungleich verteilte Stärken. Beides ist nicht krank, sondern spiegelt lediglich die biologische Variabilität. Wir sprechen hier von Normvarianten. Konkret heisst das: In einer Gruppe von 100 Kindern gibt es immer 15, die überfordert, und 15, die unterfordert sind. Die Normschule passt also nur für ­etwa zwei Drittel der Kinder.
Beobachter: Viele Kinder werden heute bereits im Kindergarten in Bewegungstherapien geschickt oder in die Logopädie. Wie sinnvoll ist das?
Alber: Das lässt sich natürlich nur im Einzelfall entscheiden. Hat das Kind tatsächlich eine Entwicklungsstörung, die es im Alltag beeinträchtigt oder seine weitere Entwicklung hemmt? Vermeintliche Bewegungsstörungen oder Sprachfehler sind aber nicht selten Normvarianten – und diese können und sollen nicht therapiert werden. Bei vielen Pädagogen herrscht leider die Meinung, Leistungsdefizite seien fast immer die Folge mangelnden Trainings. Das kann gelegentlich einmal der Fall sein, primär aber sind sie biologisch bestimmt.
Beobachter: Wenns nichts nützt, schadet es nicht...
Alber: Stimmt leider nicht. Wenn ich die Kinder frage, ob sie wissen, warum sie diese oder jene Therapie besuchen müssen, höre ich häufig: «Weil ich dumm bin.» So fördert man kein Selbstvertrauen. Darum rate ich, sehr genau abzuklären, welche Mass­nahme wirklich sinnvoll ist. Dieselbe Verunsicherung spüre ich bei Kindern, die zum Beispiel in Mathematik straucheln. Man muss nicht gut sein in Mathe, um ein sinnvolles Leben zu leben, aber man muss sich geliebt und anerkannt fühlen. Es gibt ganz viele Menschen auf dieser Welt, die ihr Leben ohne Algebra bestreiten. Viele von uns Erwachsenen tun das. Ein bisschen mehr Gelassenheit wäre im Umgang mit solchen «Defiziten» oft hilfreich.
Beobachter: Zwei Drittel der therapierten Kinder sind ­Buben. Warum?
Alber: Buben haben ein anderes Temperament. Sie sind erzieherisch häufig anspruchs­voller, widerspenstiger, lebhafter. Das hat wenig Platz in unserer Gesellschaft, in der Kinder daheim und in der Schule fast ausschliesslich von Frauen betreut werden. Ich liebe Frauen, aber ich bin trotzdem klar der Meinung, dass den Buben heute männliche Identifikationsfiguren fehlen und dass das Verständnis für sie in der Schule deutlich höher wäre, wenn sie öfter von Männern unterrichtet würden. Wir Männer gehen nun einmal anders miteinander um – rauer, direkter. Wir regeln die Hackordnung auch einmal über einen körperlichen Wettbewerb. Das ist nicht falsch, nur anders.
Beobachter: Apropos Problemlösung: Unsere Recherchen haben gezeigt, dass kaum überprüft wird, ob angeordnete Therapien überhaupt wirken. Wundert Sie das?
Alber: Nein. Darum ist mir das kritische Hinterfragen des Status quo so wichtig. Wir ­setzen Millionenbeträge für Therapien ein. Oft ist alles, was wir haben, die subjektive Wahrnehmung einer Lehrperson, Mutter oder Therapeutin, die sagt: «Ich habe das Gefühl, es tut dem Kind gut.» Oder genauso oft: «Ich glaube, das bringt nichts.»
Beobachter: Warum schaut man nicht genauer hin?
Alber: Oft heisst es, der Erfolg solcher Unterstützungsangebote lasse sich kaum messen. Das stimmt nicht, finde ich. Schon die ­klare Festlegung eines Therapieziels und dessen regelmässige Überprüfung brächte mehr Klarheit. Solange wir aber nur vermuten, ist das Wohlbe­finden des Kindes tatsächlich das einzige Kriterium. Wenn es begeistert in eine Therapie geht, ist allein die gute Beziehung zur Therapeutin viel wert. Sieht das Kind aber den Nutzen nicht, rate ich den Eltern, die Übung abzubrechen.
Beobachter: Das klingt einfacher, als es ist. Es braucht Mut, als Eltern etwas zu tun, was zumindest ­theoretisch die Startchancen des eigenen ­Kindes mindern könnte.
Alber: Das ist so. Die Angst, etwas zu verpassen, ist allgegenwärtig. Bei Eltern, bei Lehr­kräften. Aber manchmal braucht ein Kind Erwachsene, die gelassen bleiben und ihm Zeit und Vertrauen schenken. Wenn ich mich von Eltern verabschiede, weil ein Kind 16 ist und den Arzt wechselt, höre ich oft: «Wir sind froh, dass Sie uns immer wieder beruhigt haben.» Ein Kind muss nicht immer alles können und überall gut sein. Zu erfahren, dass Schwächen und Unfähigkeiten selbstverständlich zum Leben gehören, ist mindestens so wichtig.


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