20. Oktober 2014

Kinder in der Korrigiermühle

Zu laut, zu ruhig, zu zappelig: Kinder werden heutzutage wegen jeder Auffälligkeit sonderpädagogisch gefördert. Der Nutzen ist unklar, der Schaden aber offensichtlich.




































Sonderpädagogsche Massnahmen sind ein Konstrukt mit verwirrenden Begriffen, Bild: Beobachter, Quelle: Bildungsdirektion Zürich, Stadt Winterthur
Sonderpädagogik: Kinder in der Korrekturmühle, Beobachter, 17.10 von Daniel Benz, Birthe Homann und Tanja Polli


Devin geht in die dritte Klasse. Seit er in der Schule ist, muss er einmal pro Woche in die Psychomotorik-Therapie, grobmotorisch sei er zu wenig fit. Devin ist der beste Fussballer in seinem Klub.
Eine Kindergärtnerin sagt: «Die Logopädinnen kommen in den Chindsgi und testen alle Kinder. Sie nehmen dann die, die sie für therapiewürdig halten. Ob es was nützt, weiss ich nicht, aber ich bin froh, wenn die Schwierigen einen halben Morgen weg sind.»
Sofia ist eine etwas schüchterne Erstklässlerin, wenn sie aber ihre Kolleginnen besser kennt, dreht sie richtig auf. Dreimal forderte letztes Jahr die Kindergärtnerin die Eltern auf, Sofia in die Psychomotorik-Therapie zu schicken, «für ein besseres Selbstbewusstsein». Sofia spielt mit ihren Freundinnen gern Theater und lädt die Nachbarn jeweils
zu den Aufführungen ein.
Tom schreibt nicht so schön. Deshalb musste er letztes Semester in die Grafomotorik-Therapie. Die Mutter des Viertklässlers auf die Frage, ob er jetzt schöner schreibe: «Nein, aber das Rumturnen hat ihm Spass gemacht.»
Erik lispelt ein bisschen, bei s und sch stösst die Zunge an. Die Kindergärtnerin und die Logopädin empfehlen dringend eine Logopädie-Therapie, sonst bekomme er dann in der Schule Probleme. Die Eltern weigern sich, üben daheim ein bisschen mit ihm. Heute spricht der Zweitklässler fast bühnenreif und ist einer der Besten der Klasse.
Elternabend in einem Kindergarten. Eine Mutter fragt, wann denn wieder der Waldmorgen stattfinde. Die Kindergärtnerin antwortet, sie würde ja gern wieder in den Wald mit den Kindern, aber das sei schwierig: «Am Montag haben ein paar Therapie, am Dienstag gehen wir schon ins Turnen, am Mittwoch haben einige Therapie, Donnerstag ginge, am Freitag haben wieder ein paar Therapie.» 

Irritierend ist das Ausmass

Das komplizierte System der Sonderpädagogik
Realität in Schweizer Schulen 2014: Heilpädagoginnen, Logopäden und Psychomotorik-Lehrerinnen geben sich in den Klassenzimmern quasi die Klinke in die Hand. Ein geregelter Schulbetrieb ist so oft kaum möglich. Sitzen denn in der Schule nur noch Kinder mit Lern-, Sprach- und Verhaltensproblemen? Sind wirklich so viele «nicht normal»?
Fast alle Kantone vollzogen in den letzten Jahren den Wechsel zur integrativen Förderung. Also zum Grundsatz, möglichst alle Schüler gemeinsam in der Regelschule zu unterrichten. Das führte zu einer Zunahme der Therapien.
Genau erfasst wurde das allerdings nur in Ausnahmefällen, etwa in der Stadt Zürich. 388 Kinder besuchten dort im Schuljahr 2005/2006 eine Psychomotorik-Therapie, im letzten Jahr waren es 526. Logopädische Unterstützung bekamen 1196 Kinder, sechs Jahre später fast ein Drittel mehr, nämlich 1535. Im gesamten Kanton werden 30 bis 40 Prozent aller Schulkinder mit sogenannten niederschwelligen sonderpädagogischen Massnahmen unterstützt – wie integrative Förderung oder Deutsch als Zweitsprache.
Dass diese Angebote sinnvoll sind und vielen Kindern helfen, bestreitet im Grundsatz niemand – irritierend sind ihr Ausmass und die oft schwer nachvollziehbaren Mechanismen, nach denen die Unterstützungsleistungen erbracht werden.
Warum sich die Abklärungen so ausbreiten, darüber streiten die Experten. Die einen verstehen es als «Notruf» der Schulen, die mehr Hilfe brauchen, da es oft an genügend Personal fehlt. Andere sagen, die Hemmschwellen der Lehrer seien gesunken, bei einem Kind ein Diagnoseverfahren zu veranlassen – weil das nicht mehr automatisch bedeutet, dass es die Regelschule verlassen muss.
Zudem: Wenn in einer Schule vielen Kindern Förderbedarf zugewiesen wird, braucht es mehr Stellenprozente dafür. Die Therapeuten wiederum haben ein Interesse daran, ihren «Kundenstamm» hoch zu halten.

«Kinder in die Therapie abgeschoben»
Roberto Rodríguez, Präsident des Zürcher Schulkreises Uto, mit 4500 Schülern der zweitgrösste der Stadt, erklärt die massive Zunahme der Abklärungen mit der «gesteigerten Aktivität von Schulen und Eltern». Lehrer liessen heute sehr schnell Kinder abklären, «weil sie sich dadurch Unterstützung erhoffen».
Ebenso wollen das die Eltern, wenn ihr Kind lispelt, verhaltens­auffällig oder langsamer ist als die anderen. «Vor allem Eltern aus bildungs­nahen Schichten fordern eine Abklärung, wenn ihr Kind etwas ausserhalb der Norm liegt», so Rodríguez. «Es ist eine Tatsache, dass die ‹nervenden› Kinder in Abklärungen und Therapien abgeschoben werden.»

Wie viel? Wie teuer? Wie wirksam?

Es ist unmöglich, die Ressourcen zu überblicken, die heute in der Schweiz für sonderpädagogische Unterstützung eingesetzt werden. 2011 hat der Bund die Verantwortung dafür an die Kantone übertragen.
Fragt man dort nach, wie viele Schulkinder Therapien und Unterstützungsangebote benötigen, sind sich die Antworten ähnlich. Stellvertretend die Stellungnahme aus Bern: «Eine Quantifizierung ist nicht möglich, dazu müsste jede einzelne Schule ­befragt werden.» In Glarus empfiehlt man sogar, sich direkt an die Therapeutinnen und Therapeuten zu wenden.
Letztes Jahr versuchte der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), per Auftragsstudie den Umfang des sonderpädagogischen Grundangebots in den Kantonen zu erfassen – und scheiterte grandios. Fazit: «Mangelnde Transparenz bei praktizierten Modellen und fehlende Mindeststandards bei der Qualität.»
Was der sonderpädagogische Aktionismus die Steuerzahler kostet, lässt sich ­logischerweise ebenfalls nur schätzen. Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich hat versucht, entsprechende Zahlen zusammenzustellen. Demnach kostete die Sonderschulung von 5011 Schülern, meist aufgrund einer Behinderung, im Jahr 2012 rund 380 Millionen Franken. Für die niederschwelligen Massnahmen der Sonderpädagogik, die in der von 130'693 Kindern besuchten Regelschule getroffen werden, sind es jährlich geschätzte 220 Millionen. Davon entfällt der Löwenanteil von 90 Millionen auf die integrative Förderung. Die therapeutischen Angebote wie Logopädie, Psychomotorik oder Psychotherapie lassen sich die Zürcher etwa 60 Millionen kosten.
Beachtliche Zahlen mit bedenklichem Hintergrund: Was all die teuren Massnahmen wirklich bringen, wird bis heute kaum untersucht. Hier bestehe ein grosser Nachholbedarf, so Beatrice Kronenberg, Direktorin der Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik. Sie ist mitverantwortlich für die Festlegung der Qualitätsstandards, die das seit 2011 bestehende Sonderpädagogik-Konkordat der Erziehungsdirektorenkonferenz definieren soll.

Sie spricht von einem Tabu: «In der Schweiz haben Wirkungsstudien keine Tradition. Wer nach dem Erfolg von sonderpädago­gischen Massnahmen fragt, macht sich schnell unbeliebt.» Im Gegensatz zu anderen Ländern verordne man in der Schweiz gern eine Massnahme und warte erst mal ab, was passiere. Falls die Unterstützung nicht den gewünschten Effekt bringe, sei der Reflex nicht selten, einfach mehr davon zu fordern – statt den Ansatz zu hinterfragen. «Da muss ein Umdenken stattfinden.»

1 Kommentar:

  1. Die angebliche „Zunahme“ der Kinder in den Therapien (Logopädie und Psychomotorik) zwischen 2005/06 und 2013 entspricht ziemlich genau den Kindern, die bisher von der Invalidenversicherung (IV) bezahlt wurden. Nachdem die IV ihre Zahlungen an diese Therapiekinder aufgrund des Nationalen Finanzausgleichs (NFA) einstellte, musste diese Kinder 2009/10 von der Volksschule übernommen werden. Es hat wohl eine Verschiebung der Therapiekinder von der IV zur Volksschule stattgefunden, aber keine Zunahme der Therapien insgesamt. Wenn nun aufgrund solcher Falschmeldungen Therapien vorenthalten würden, wären vor allem die Kinder aus bildungsfernen Milieus die Leittragenden: Ein nicht korrigierter mangelhafter Spracherwerb wirkt sich auf alle Fächer aus und senkt spätere Berufschancen drastisch.

    Im Artikel heisst es: «In der Schweiz haben Wirkungsstudien keine Tradition. Wer nach dem Erfolg von sonderpädago¬gischen Massnahmen fragt, macht sich schnell unbeliebt.» Trotzdem haben wir seit bald 30 Jahren eine wahre Schulreformflut, ohne das vorher abgeklärt wird, ob diese Reformen überhaupt etwas bringen. Es erstaunt, warum sich die Eltern nicht schon früher gegen diese Menschenexperimente gewehrt haben. Sind sie etwa einem Etikettenschwindel aufgesessen, weil es besser tönt, wenn das Kind in die Sek statt in die Realschule, in die Regel- statt in die Sonderschule geht? Wenn die Eltern nun versuchen, die Schuldigen bei den Lehrern und Therapeuten zu suchen, machen sie einen zweiten Fehler: Die Reformen wurden den Lehrern und Therapeuten aufgezwungen.

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