Einsätze in der Gastronomie oder Gartenarbeit, Bild: SRF
"Ausbildung und Arbeit könnten kombiniert werden", NZZ, 20.10. von Daniela Kuhn
Herr Eichenberger, es gibt in der Schweiz wieder genügend Lehrstellen,
dennoch beziehen relativ viele Schulabgänger Sozialhilfe. Wie kommt das?
Die Gesamtsumme an Lehrstellen sagt nichts darüber, dass viele
Jugendliche die für eine Lehrstelle erforderlichen Qualifikationen nicht
mitbringen. Zudem berücksichtigt sie weder die grossen regionalen Unterschiede
noch die Tatsache, dass manche Jugendliche zu Recht spezifische berufliche
Vorstellungen haben, die sich nicht sofort umsetzen lassen. Überdies
vernachlässigt sie auch die entwicklungspsychologische Situation.
Inwiefern?
Viele 16-Jährige haben grosse persönliche und familiäre Probleme. Für
manche von ihnen ist es der falsche Moment, eine Lehrstelle zu finden. Doch
diese schwierige Lebensphase geht vorbei. Die meisten «Problemjugendlichen»
könnten dann auch beruflich ihren Weg finden. Die Sozialpolitik berücksichtigt
diese biografischen Aspekte zu wenig.
Diese Probleme sind schon in der Schule sichtbar. Sollte hier mehr getan
werden?
Es wird schon viel getan, aber es gibt noch fruchtbare Ansatzpunkte.
Manche Schüler aus schwierigen Verhältnissen erleben die Schule tagtäglich als
Frustration. Sie bekommen ständig zu hören, wie ungenügend ihre Leistung ist.
Keinem Erwachsenen würde eine solche Situation zugemutet. Mitunter kommen noch
unqualifizierte Lehrpersonen hinzu. Nicht alle, aber viele dieser Schüler
würden neben der Schule gerne arbeiten. Ihnen sollte man dazu Möglichkeiten
geben.
Wie stellen Sie sich das vor?
Ausbildung und Arbeit können kombiniert werden. In Entwicklungsländern
werden mit Mischmodellen gute Erfahrungen gemacht. Ich könnte mir vorstellen,
dass Schüler beispielsweise zwei Tage in der Woche in der Gastronomie oder in
der Gartenarbeit Einsätze leisten könnten. Solche Einsätze würden das
Selbstvertrauen stärken und erst noch einen kleinen Lohn einbringen. Die
Schulzeit würde entsprechend länger, sie könnte ja auch in zwölf Jahren
absolviert werden.
Arbeitgeber kalkulieren knallhart. IV-Bezüger sind fast nicht mehr ins
Arbeitsleben zu integrieren. Wie sollten sich also Teilzeitarbeitsplätze für
Jugendliche mit grossen Problemen finden lassen?
Wenn die Gesellschaft will, dass möglichst wenig junge Menschen in der
Sozialhilfe enden, soll sie dafür bezahlen. Der Staat sollte den Arbeitgebern
oder direkt an die Empfänger einen Lohnzuschuss geben, so dass die betroffenen
Jungen angemessene, wenn auch niedrige Löhne erhalten. Im Vergleich zu den
Kosten, die aus langfristiger Sozialhilfe entstehen, wäre die Finanzierung
eines Mischmodells ein Klacks.
Und nach der verlängerten Schulzeit, wie würde es weitergehen?
Wenn ihre schwierige Phase vorbei ist, sollen diese jungen Leute eine zweite
Chance erhalten, zum Beispiel mit Lehren für Erwachsene.
Könnten das auch Stipendien sein? Im Kanton Waadt läuft ein Projekt, bei
dem Schulabgänger ohne Lehrstellen statt Sozialhilfe Stipendien erhalten.
Ich kenne das Modell nicht. Aber natürlich klingt Stipendien besser als
Sozialhilfe. Vielleicht sind sie deshalb weniger stigmatisierend, aber gerade
das würde die Eintrittsschwelle senken. So oder so: Die Anreize, zu arbeiten,
sollten dadurch gestärkt werden, dass niemand mit Sozialhilfe mehr erhält als
mit einem kleinen eigenen Verdienst. Das kann der Staat unterstützen, indem er
Tieflohnbezügern für jeden selbstverdienten Franken eine Zulage bezahlt. In den
USA wird das in Form des «Earned Income Tax Credit» praktiziert. Die
Grundausstattung wird damit zwar tiefer, aber der Anreiz zur Arbeit und die
Einkommen der Leistungsempfänger steigen.
Sie wünschen jungen Menschen also Arbeitsbedingungen in
Niedriglohnsegmenten wie in den USA. Entspricht das einem modernen Verständnis
von Sozialpolitik?
Natürlich wünsche ich mir nicht eine Einkommensverteilung wie in den
USA. Aber: Viele unserer Sozialarbeiter und Linken haben ein Bild der
US-Sozialpolitik, das bestenfalls aus den 1980er Jahren stammt. Seither haben
die USA gerade bei der Sozialhilfe für Arbeitende grosse Innovationen wie eben
den «Earned Income Tax Credit» eingeführt. Er ist eine fruchtbare
Weiterentwicklung der negativen Einkommenssteuer.
Der junge Mann, den ich im Winterthurer Programm «Trampolin» getroffen
habe, schämte sich dafür, Sozialhilfe zu beziehen. Meinen Sie, die Sozialhilfe
sei für Jugendliche attraktiv?
Allzu viele junge Leute glauben, die Sozialhilfe sei sehr grosszügig.
Deshalb müsste unbedingt völlige Klarheit über die tatsächlichen Zahlungen
herrschen. Da sind die Politik und die Skos gefordert.
Und was denken Sie - sind Sie der Meinung, die Sozialhilfe sei in der
Schweiz grosszügig?
Das hängt davon ab, wo jemand Sozialhilfe beantragt. Für viele Menschen
ist die psychische Schwelle, Sozialhilfe zu beantragen, sehr hoch. Sie hätten
zwar Anrecht auf Unterstützung, aber sie beziehen sie nicht. Unser
Sozialhilfesystem überlebt nur, wenn das so bleibt.
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