Schaffung des Fachbereichs "Räume, Zeiten, Gesellschaften" erfolgte "völlig konzeptlos". Bild: NZZ
Ungenügende Note für die politische Bildung im Lehrplan 21, NZZ, 15.9. von Michael Schoenenberger
Der Lehrplan 21 wird derzeit überarbeitet. In der
Absicht, ihn zum nützlichen und alltagstauglichen Instrument für Schulen und
Lehrpersonen zu machen, stehen Umfang und Detaillierungsgrad zur Disposition.
Der Lehrplan 21 muss kleiner werden. Zudem setzen die Verantwortlichen die
Anforderungen herab. Sie wurden von Lehrerkreisen als zu hoch eingestuft. Die
Überarbeitungsphase läuft diskret ab, wie schon die gesamte Erarbeitung des
Lehrplans. Kommuniziert wird spärlich. In Kontrast dazu standen die teilweise
lauten Versuche verschiedener Interessengruppen, während der Entstehung des
Lehrplans 21 Einfluss auf den Inhalt zu nehmen.
Fachliche Kritik von Beteiligten oder auch Kritik
am neuen Kompetenzmodell konnte demgegenüber meist unter dem Deckel gehalten
werden. Dabei sagen Involvierte, aufgrund von Meinungsverschiedenheiten sei
während der Erarbeitungsphase mitunter nicht mehr miteinander gesprochen
worden. Bei der erstmaligen Publikation des Lehrplans 21 wurden zu Recht jene
Abschnitte stark beachtet, in denen es um Weltanschauungen oder Wertungen des
privaten Verhaltens der Schülerinnen und Schüler geht. Bisher wenig
Aufmerksamkeit wurde jenen Kompetenzen zuteil, in denen es um die politische
Bildung geht. Das ist naturgemäss ein heikles Feld, denn mit politischer
Bildung in der Schule ist ja mehr gemeint als Staatskunde im engeren Sinn.
Politische Bildung soll die Grundlage legen, damit
junge Menschen zu kritischen Beobachtern der Politik werden können. Im besten
Falle führt der Unterricht dazu, dass sich Jugendliche selber informieren und
später aktiv an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen. Normalerweise sehen vor
allem bürgerliche Politiker in der politischen Bildung eine Gefahr. Sie betonen
dann jeweils, diese eröffne der Lehrerschaft, die tendenziell links verortet
wird, ungebührend viele Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme.
Die Sek-1-Stufe vergessen
Was den Lehrplan 21 angeht, kommt die Kritik jetzt
auch aus Kreisen, die seit Jahren für mehr politische Bildung in der Schule
kämpfen. Béatrice Ziegler leitet das Zentrum für Politische Bildung und
Geschichtsdidaktik am Zentrum für Demokratie in Aarau. Bei der Erarbeitung des
Lehrplans war sie zwar fachlich beigezogen worden, hatte aber keine
Entscheidungskompetenz. Zwar sei es erfreulich, sagt die an der Universität
Zürich lehrende Historikerin, dass die politische Bildung «zumindest in
Teilelementen» im Lehrplan verankert sei. Auch unterstützt sie das Projekt
generell und fände es «eine Katastrophe», sollte der erste Lehrplan für die
gesamte Deutschschweiz Schiffbruch erleiden. Weniger erfreut ist sie jedoch
über die Formulierung der einzelnen Kompetenzen zur politischen Bildung wie
auch über deren Placierung über die drei schulischen Zyklen hinweg.
Politische Bildung will die jungen Menschen auch
dazu befähigen, in der Diskussion mit Andersdenkenden einen politischen
Entscheid oder Kompromiss zu finden. «Auf der Sek-1-Stufe fehlen im Lehrplan 21
die Möglichkeiten, solches einzuüben», sagt Ziegler. Dieses Versäumnis erachtet
sie als gravierendes Problem, beginnen sich Jugendliche doch just in diesem
Alter für politische Vorgänge zu interessieren. «Sek-1-Schüler müssen zwingend
damit konfrontiert werden.»
Ein weiteres Problem sei, dass die politische
Bildung im Fachbereich «Räume, Zeiten, Gesellschaften», in dem die Fächer
Geschichte und Geografie aufgehen, der Geschichte zugeordnet sei. Damit werde
sie zu einer historischen Kompetenz. Dies sei falsch. Denn das Fach Geschichte
könne nicht leisten, was eigentlich mit politischer Bildung gemeint sei, nämlich
die systematische Behandlung der Funktionsweisen von politischen Prozessen, der
Charakteristika von politischen Akteuren und der Merkmale von politischen
Themen. Erst eine solche Behandlung würde effektives Verstehen des politischen
Geschehens ermöglichen.
«Im Lehrplan 21 vermisse ich die richtige Verortung
und den systematischen Aufbau von politischer Bildung komplett», sagt Ziegler.
Aus diesem Grund plädierte sie auch vehement für die Fachlichkeit - für ein
eigenes Fach Geschichte, aber auch ein eigenes Fach politische Bildung. Heute
ist es freilich zu spät, solches im Lehrplan 21 noch ändern zu wollen. Ziegler
moniert es trotzdem: Die Schaffung eines Fachbereichs «Räume, Zeiten,
Gesellschaften» nennt sie «völlig konzeptlos».
Ideologieverbot verletzt
Wer über politische Bildung spricht, kommt nicht am
«Beutelsbacher Konsens» vorbei. Im Herbst 1976 trafen sich in der Wiege
Württembergs Didaktiker mit unterschiedlichen politischen Vorstellungen, um
sich über Grundsätze für die politische Bildung zu verständigen. Vor dem
Hintergrund der deutschen Geschichte war dies ein wichtiger Vorgang. Man
einigte sich auf ein sogenanntes Überwältigungsverbot: So soll es Lehrpersonen
verboten sein, den Schülern ihre eigene Meinung aufzuzwingen. Der Erwachsene
hat sich neutral zu verhalten. Sodann müssen politische Themen im Unterricht
kontrovers behandelt werden.
Für den Bereich der politischen Bildung sieht
Béatrice Ziegler diesbezüglich einiges im Argen. Da die politische Bildung
erstens einfach nur ein Thema unter anderen im Lehrplan sei und nicht
didaktisch korrekt eingearbeitet sei, sei eben nicht ausgeführt, wie der
Unterricht in politischer Bildung zu geschehen habe. Damit stellt der Lehrplan
nicht sicher, dass Lehrpersonen die Vielfalt politischer Überzeugungen nutzen,
um die politische Kompetenz von Jugendlichen zu schulen. «Zweitens gibt es
Formulierungen in den Kompetenzen, in denen Wertungen vorgenommen werden», sagt
Ziegler. Einzelnen Kompetenzen liege ein bestimmtes politisches Denken
zugrunde, das ideologisch geprägt sei. «In der Kompetenz zur Positionierung der
Schweiz in Europa gibt es eine mehrfache ideologische Grundlage. Das ist
politisch wohl gewollt, aber fachlich äusserst problematisch», meint Ziegler.
Ob der Lehrplan 21 nach
seiner Revision mit weniger Ideologie auskommt, wird sich weisen. Zu wünschen
wäre, dass der Beutelsbacher Konsens gelten würde - auch in anderen Bereichen
als der politischen Bildung.
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