Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Bild: SRF
Das Verschwinden des Wissens, NZZ, 15.9. von Konrad Paul Liessmann
Es ist gespenstisch: Wie von Geisterhand geführt,
hat sich in den letzten Jahren, von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, eine
der radikalsten Veränderungen an Schulen und Universitäten vollzogen, ein Bruch
mit einer jahrhundertealten Tradition, eine völlige Neuorientierung dessen, was
Bildungseinrichtungen zu leisten haben und was die Absolventen solch einer
Einrichtung auszeichnen soll. «Kompetenzorientierung» lautet das Zauberwort,
das nun die Lehr- und Studienpläne dominiert, das alles, was man bisher glaubte
lehren und vermitteln zu müssen, hinfällig werden lässt, das endlich
garantieren soll, dass anstelle toten Wissens brauchbare Fähigkeiten erworben
werden, und das verspricht, dass nichts Unnützes mehr gelernt wird, sondern
nurmehr das, was mit der Lebenswelt von Schülern und Studenten, mit ihren
Bedürfnissen und Problemen zu tun hat oder auf diese anzuwenden ist.
Das Ziel von Bildungsprozessen ist nicht mehr eine
wie auch immer definierte Bildung, sondern der umfassend kompetent gewordene
Mensch, der mit Fähigkeiten ausgestattet ist, die es ihm angeblich erlauben, in
jeder Situation die angemessenen Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig verspricht
die Umstellung von Bildung auf Kompetenzen endlich verlässliche Instrumentarien
zu schaffen, um genaue Messungen und Bewertungen dieser Fähigkeiten vornehmen
zu können.
Historisch gesehen wurzelt das Kompetenzkonzept
nicht in der Pädagogik oder Bildungstheorie, sondern in der Ökonomie. Die
ersten Kompetenzmessungsmodelle wurden mit dem Ziel entwickelt,
Prüfungsverfahren für die unterschiedlichsten Fähigkeiten, Fertigkeiten und
Persönlichkeitsmerkmale von Menschen zu gewinnen, um deren Einsatz für
Unternehmen zu optimieren. Durchaus in diesem Geist wurde dieses Konzept dann
in die Pädagogik übertragen und machte dort Karriere. Heinrich Roth, der den
Begriff der Kompetenz in den Erziehungswissenschaften propagierte, hatte noch
im Anschluss an klassische emanzipatorische Konzepte als zentrales Bildungsziel
die «Mündigkeit» definiert und diese als «Kompetenz für verantwortliche
Handlungsfähigkeit» bestimmt. Die von ihm vorgeschlagene Unterscheidung in
«Selbstkompetenz», «Sachkompetenz», «Methodenkompetenz» und «Sozialkompetenz»
eröffnete allerdings die verhängnisvolle Perspektive auf eine beliebige
Erweiterung der Grundkompetenzen: Derzeit wird neben der «Handlungskompetenz»
gerade die «Systemkompetenz» entdeckt.
Wirkmächtig wurde allerdings die Definition der
Kompetenz, wie sie Erich Weinert im Auftrag der OECD entwickelt hat: Kompetenz
umfasst «die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven
Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit
verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und
Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und
verantwortungsvoll nutzen zu können». Was sich hinter dieser hypertrophen und
vielzitierten Formulierung verbirgt: Es geht nicht nur um die Vermittlung von
Fähigkeiten und Fertigkeiten - von Wissen, Erkenntnis und Neugier ist ohnehin
nicht mehr die Rede -, sondern auch um Bereitschaften, also Haltungen, es geht
um die Kontrolle und Steuerung von inneren Beweggründen, Absichten und sozialem
Verhalten; dies mit dem Ziel, Problemlösungen «nutzen» zu können - was immer
dies heissen mag.
Was theoretisch noch als interessante Wende in der
pädagogischen Anthropologie diskutiert werden konnte, erwies sich - kaum
gelangten diese Konzepte in die Hände von Fachdidaktikern, empirischen
Bildungsforschern, Schulreformern und ministeriellen Bürokratien - in der
Praxis als verheerend. Abgesehen davon, dass sich durch diese folgenreiche und
massgebliche Kompetenzdefinition die Vermutung bestätigt, dass es bei der
Entwicklung und Überprüfung von Kompetenzen immer um den Zugriff auf die
Innerlichkeit und die damit verbundenen Formen von Bereitschaft geht, waren
dadurch zwei wesentliche Gesichtspunkte der Kompetenzorientierung festgelegt:
Alles dient dem Lösen von Problemen und muss deshalb als eine Form von Handlung
beschrieben werden können; und alles Problemlösen ist nur dann sinnvoll, wenn
es erfolgreich eingesetzt und genützt werden kann, also auf konkrete
Situationen unterschiedlichster Art angewandt werden kann.
Dass es Ziel eines Lernprozesses sein kann, eine
vermeintliche Selbstverständlichkeit oder erfolgreiche Praxis überhaupt erst
als - womöglich gar nicht lösbares - Problem zu erkennen, kommt diesem Konzept
nicht mehr in den Sinn. Gleichzeitig erlaubt es der Kompetenzbegriff, als
Universalkonzept eingesetzt zu werden, das nach Gutdünken differenziert und
aufgefächert werden kann. Dies führt im praktischen Umgang mit dem Begriff der
Kompetenz dann zu solchen Absurditäten wie vollkommen beliebigen
Kompetenzzuschreibungen, da ja jede menschliche Tätigkeit irgendwie auch als
eine Form von Kompetenz aufgefasst werden kann. Jede noch so einfache Aktivität
oder Lernanstrengung kann deshalb in eine Unzahl von Kompetenzen übergeordneter
und untergeordneter Art zerlegt werden.
Der für die Schweiz vorgelegte Lehrplan 21 brachte
es für die Grundschule angeblich auf 4500 Kompetenzen, die entwickelt, geübt,
getestet, überprüft und angewandt werden sollen. Das geht natürlich nur, wenn
noch jede Selbstverständlichkeit als Kompetenz gewertet und bewertet wird und
stimmige Lern- und Kommunikationsprozesse bis zur Unkenntlichkeit zergliedert
und isoliert werden. Dass Schüler «ihre Aufmerksamkeit auf sprechende Personen
richten können», wird dann gleich zu einer Kompetenz hochstilisiert. Es
verwundert wenig, dass sich zu diesem Lehrplanprojekt eine Protestbewegung aus Lehrern
und Wissenschaftern gebildet hat.
Da Kompetenzen nur als operationalisierbare
Tätigkeiten beschrieben werden dürfen, begann für die Autoren der
kompetenzorientierten Curricula die Suche nach den entsprechenden Verben - denn
einfach einen Stoff, eine Sache, eine Aufgabenstellung, ein Thema als
Gegenstand eines Unterrichts zu benennen, war von nun an verboten. Die nun
vorliegenden kompetenzorientierten Lehr- und Studienpläne sind nicht nur
Ausdruck abstruser fachlicher und didaktischer Konzepte, sondern auch ein
vorläufiger Tiefpunkt in Hinblick auf sprachlichen Ausdruck und Stil. Kein
Mensch mit Sprachgefühl kann solche Curricula lesen, ohne nicht in eine tiefe
Depression zu verfallen. Oder wie anders soll man auf Formulierungen dieser und
ähnlicher Art reagieren: «Über Lesefähigkeiten verfügen - Lebendige
Vorstellungen beim Lesen von Texten entwickeln - Schreibabsicht klären -
Inhalte (sic!) verstehend zuhören - zu Texten Stellung nehmen - bei der
Beschäftigung mit Texten Sensibilität und Verständnis für Gedanken und Gefühle
und zwischenmenschliche Beziehungen zeigen - Texte auf Wirkung überprüfen -
Lernergebnisse präsentieren.»
Das Schöne daran: Diese Beschreibungen geben
natürlich keine Auskunft, wann und unter welchen Bedingungen solch eine
Kompetenz zufriedenstellend zur Schau gestellt wurde. Wann und wie zeigt denn
ein Schüler Sensibilität angesichts eines literarischen Textes? Wenn er
bekundet, betroffen zu sein? Wenn er sagt, dass es ihm schon einmal ähnlich
ergangen sei? Wenn ihn das Gelesene an seine Familie oder Freunde erinnert?
Wenn er zugibt, dass das alles nicht sein Problem ist? Dass dort, wo darüber
hinaus in diese Kompetenzorientierungen gesellschaftspolitische Zielsetzungen
eingeschmuggelt werden, alles in blanke Ideologie umschlagen muss, versteht
sich fast von selbst. Denn was sonst verbirgt sich etwa hinter folgendem Punkt
des österreichischen Lehrplans für die Oberstufe der Allgemeinbildenden Höheren
Schulen (Gymnasien): «Zu sprachkritischen Diskursen (feministische
Sprachkritik, politisch korrekte Sprache) beitragen»? Der Schüler, der in solch
einer Unterrichtseinheit etwa mit Verweis auf das Buch «Genug gegendert» von
Tomas Kubelik das generische Maskulinum verteidigte, wird von seiner Lehrerin
wohl kaum die entsprechende Kompetenzbescheinigung ausgestellt bekommen. Unter
dem Titel «Kompetenz» und den damit verbundenen Versprechen objektiver
Bildungsstandards und ihrer Messbarkeit hat sich eine bisher noch nie gekannte
Subjektivität und Beliebigkeit in die Unterrichtspraxis eingeschlichen, bei
gleichzeitiger exzessiver Ausdehnung des bürokratischen Aufwands. Das erklärt,
warum die Verben, mit denen angeblich Kompetenzen exakt beschrieben werden,
sich für eine Grundschule und für eine Sekundarstufe II in nichts voneinander
unterscheiden.
Die Grundkompetenzen des Philosophieunterrichts in
Österreich heissen zum Beispiel Wahrnehmen und Verstehen, Analysieren und
Reflektieren, Argumentieren und Urteilen, Sich-Orientieren und Handeln. Anbei:
Dass diese Kompetenzen identisch sind mit jenen, die im Religionsunterricht
vermittelt werden sollen, überrascht nicht: Es ist ja alles eins. Sieht man
allerdings genauer hin, erwerben Schüler im Philosophieunterricht zum Beispiel
eine «phänomenologische Kompetenz», die allerdings nicht darin besteht, dass
sie eine Ahnung von der philosophischen Richtung der Phänomenologie, wie sie
Edmund Husserl begründet hat, bekommen, sondern sie werden in den Stand
gesetzt, «eigene Bewusstseinszustände mitzuteilen». An solch eine
Philosophiestunde, in der Bewusstseinszustände, und zwar sogar eigene,
mitgeteilt werden, möchte man ernsthaft gar nicht denken.
Stutzig könnte man allerdings werden, wenn auch
eine «dekonstruktivistische Kompetenz» vermittelt werden soll. Abgesehen von
der vielleicht pikanten Frage, ob Paul de Man oder Jacques Derrida im Besitz
dieser Kompetenz gewesen waren, verbirgt sich dahinter die Aufforderung an die
Halbwüchsigen, «kreativ mit vorgegebenen Materialien umzugehen» und dabei
«Neuartiges zu kreieren». Die Praxis der Unbildung schreckt vor nichts zurück.
Solche Kompetenzen lassen sich tatsächlich für
jeden Gegenstand beliebig generieren und vermehren. Für den
Philosophieunterricht zum Beispiel ist das Konzept massgeblich, das Anita Rösch
entworfen hat und das neben den oben genannten Grundkompetenzen bis zu 40
Teilkompetenzen kennt, die, fein säuberlich zu einer Kompetenz-Pyramide
aufgetürmt, an der Basis die «Reflexionskompetenz» und an der Spitze die
unvermeidliche «Handlungskompetenz» nennen. Man kann nur hoffen, dass es noch
Philosophielehrer gibt, die sich mit dem Denken begnügen und auf das Handeln
grosszügig verzichten. Dazwischen findet man etwa die interkulturelle Kompetenz
und die Konfliktlösungskompetenz. Was Letztere betrifft, hätte ein Blick in das
wunderbare Buch «Kampfplätze der Philosophie» von Kurt Flasch die Autorin
vielleicht dazu bringen können, zumindest für den Philosophieunterricht auch
eine Konfliktverschärfungs- oder Konfliktzuspitzungskompetenz einzufordern.
Immerhin: Auch von Sachkompetenz ist allenthalben
noch die Rede, allerdings gibt es für diese weder verbindliche Inhalte noch
Themen. Wenn in den Curricula solche Inhalte benannt werden, dann nur
exemplarisch, als Beispiel, als eine Möglichkeit, die jederzeit durch eine
andere ersetzt werden kann. Damit aber ist der Punkt erreicht, an dem die
Kompetenzorientierung tatsächlich in eine Negation jedes verbindlichen Wissens
umschlägt. Denn all die geforderten Kompetenzen lassen sich an jedem beliebigen
Gegenstand erwerben, Reflektieren und Analysieren kann man alles Mögliche, dazu
bedarf es keiner spezifischen fachlichen Inhalte. Kein Philosophielehrer
verstiesse gegen die Idee der Kompetenzorientierung, der ein Jahr lang
Philosophie unterrichtete, ohne dass der Name eines Philosophen fiele, ein
philosophisches Buch zitiert würde, eine philosophische Theorie oder ein
philosophisches Argument Erwähnung fände, und natürlich müsste auch kein
philosophischer Text gelesen werden. Nach einigen Jahren kompetenzorientierten
Unterrichts werden auch die grössten Namen der Philosophie, die bedeutendsten
Werke der Weltliteratur, die wichtigsten Gestalten der Geschichte zu
Fremdwörtern geworden sein.
Blickt man genauer hin, muss man erkennen, dass
sich unter dem Deckmantel der Kompetenzorientierung eine Grundkonstellation des
Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt hat. In dem
Masse, in dem Kompetenzen als formale Fertigkeiten verstanden werden, die an
beliebigen Inhalten erworben werden können, konterkariert man die Idee jedes
durch Neugier motivierten Erkenntnis- und damit Bildungsprozesses: Kompetenzorientierte
Kinder und Jugendliche werden schlicht um die Faszination gebracht, die von
einer Sache, einem Thema, einem Gegenstand, einem Namen, einem Buchtitel, einer
Frage ausgehen kann; sie werden damit um die Chance gebracht, überhaupt ein
substanzielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können.
Gerade die vielgerühmte «Selbstkompetenz» erweist sich als ungeheuerliches
Betrugsmanöver, an dessen Ende die Phraseologie des Selbst jede Form der
Selbsterkenntnis sabotiert.
Aber auch die Wissenschaft selbst, wie sie
zumindest an Universitäten betrieben und gelehrt wird, muss sich dem Druck der
Kompetenzorientierung beugen. Zumindest die Hochschuldidaktik setzt ganz auf
diese neue Mode, mit zum Teil skurrilen Ergebnissen, deren Unterhaltungswert
nicht gering veranschlagt werden dürfte. So kommt eine «Delphi-Studie» zur
Frage der Kompetenzorientierung in der Hochschuldidaktik zu dem Ergebnis, dass
für Lehre, Prüfung und akademische Selbstverwaltung mindestens 30 Kompetenzen
erforderlich sind, darunter - man glaubt es kaum -
«Kompetenzorientierungskompetenz», aber auch «Prüfungskompetenz» ist gefragt,
ebenso «Innovationskompetenz» und «Durchhaltevermögen» - Letzteres wird bald
hoch im Kurs stehen, geht die Entwicklung weiter wie bisher. Tröstlich, dass
von Universitätslehrern immerhin auch eine «ethische Grundhaltung» und sogar
«Fachwissen» eingefordert wird. Aber auch hier gilt: Eine Hochschule hat nicht
in erster Linie Wissen zu vermitteln oder in die Arbeitsweise der
Wissenschaften einzuführen, sondern die «Handlungskompetenzen» der Teilnehmer
zu entwickeln.
Zukünftige Bildungsforscher
werden in der Umstellung auf die Kompetenzorientierung vielleicht den
didaktischen Sündenfall unserer Epoche sehen, die Praxis der Unbildung
schlechthin, und womöglich zur Einsicht kommen, dass Kompetenz genau das
bedeutet, was der Philosoph Odo Marquard einst manchen «kompetenten» Vertretern
seiner eigenen Zunft unterstellt hatte: Sie seien für nichts zuständig, zu
manchem fähig und zu allem bereit. Aber vielleicht ist es genau das, was
intendiert ist. In der Kompetenzorientierung zeigt sich die Praxis der
Unbildung in ihrer hypertrophen Gestalt.
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