15. September 2014

Das Verschwinden des Wissens

Unter dem Deckmantel der "Kompetenzorientierung" hat sich eine Grundkonstellation des Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt.



Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Bild: SRF

Das Verschwinden des Wissens, NZZ, 15.9. von Konrad Paul Liessmann



Es ist gespenstisch: Wie von Geisterhand geführt, hat sich in den letzten Jahren, von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, eine der radikalsten Veränderungen an Schulen und Universitäten vollzogen, ein Bruch mit einer jahrhundertealten Tradition, eine völlige Neuorientierung dessen, was Bildungseinrichtungen zu leisten haben und was die Absolventen solch einer Einrichtung auszeichnen soll. «Kompetenzorientierung» lautet das Zauberwort, das nun die Lehr- und Studienpläne dominiert, das alles, was man bisher glaubte lehren und vermitteln zu müssen, hinfällig werden lässt, das endlich garantieren soll, dass anstelle toten Wissens brauchbare Fähigkeiten erworben werden, und das verspricht, dass nichts Unnützes mehr gelernt wird, sondern nurmehr das, was mit der Lebenswelt von Schülern und Studenten, mit ihren Bedürfnissen und Problemen zu tun hat oder auf diese anzuwenden ist.
Das Ziel von Bildungsprozessen ist nicht mehr eine wie auch immer definierte Bildung, sondern der umfassend kompetent gewordene Mensch, der mit Fähigkeiten ausgestattet ist, die es ihm angeblich erlauben, in jeder Situation die angemessenen Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig verspricht die Umstellung von Bildung auf Kompetenzen endlich verlässliche Instrumentarien zu schaffen, um genaue Messungen und Bewertungen dieser Fähigkeiten vornehmen zu können.
Historisch gesehen wurzelt das Kompetenzkonzept nicht in der Pädagogik oder Bildungstheorie, sondern in der Ökonomie. Die ersten Kompetenzmessungsmodelle wurden mit dem Ziel entwickelt, Prüfungsverfahren für die unterschiedlichsten Fähigkeiten, Fertigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale von Menschen zu gewinnen, um deren Einsatz für Unternehmen zu optimieren. Durchaus in diesem Geist wurde dieses Konzept dann in die Pädagogik übertragen und machte dort Karriere. Heinrich Roth, der den Begriff der Kompetenz in den Erziehungswissenschaften propagierte, hatte noch im Anschluss an klassische emanzipatorische Konzepte als zentrales Bildungsziel die «Mündigkeit» definiert und diese als «Kompetenz für verantwortliche Handlungsfähigkeit» bestimmt. Die von ihm vorgeschlagene Unterscheidung in «Selbstkompetenz», «Sachkompetenz», «Methodenkompetenz» und «Sozialkompetenz» eröffnete allerdings die verhängnisvolle Perspektive auf eine beliebige Erweiterung der Grundkompetenzen: Derzeit wird neben der «Handlungskompetenz» gerade die «Systemkompetenz» entdeckt.
Wirkmächtig wurde allerdings die Definition der Kompetenz, wie sie Erich Weinert im Auftrag der OECD entwickelt hat: Kompetenz umfasst «die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können». Was sich hinter dieser hypertrophen und vielzitierten Formulierung verbirgt: Es geht nicht nur um die Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten - von Wissen, Erkenntnis und Neugier ist ohnehin nicht mehr die Rede -, sondern auch um Bereitschaften, also Haltungen, es geht um die Kontrolle und Steuerung von inneren Beweggründen, Absichten und sozialem Verhalten; dies mit dem Ziel, Problemlösungen «nutzen» zu können - was immer dies heissen mag.
Was theoretisch noch als interessante Wende in der pädagogischen Anthropologie diskutiert werden konnte, erwies sich - kaum gelangten diese Konzepte in die Hände von Fachdidaktikern, empirischen Bildungsforschern, Schulreformern und ministeriellen Bürokratien - in der Praxis als verheerend. Abgesehen davon, dass sich durch diese folgenreiche und massgebliche Kompetenzdefinition die Vermutung bestätigt, dass es bei der Entwicklung und Überprüfung von Kompetenzen immer um den Zugriff auf die Innerlichkeit und die damit verbundenen Formen von Bereitschaft geht, waren dadurch zwei wesentliche Gesichtspunkte der Kompetenzorientierung festgelegt: Alles dient dem Lösen von Problemen und muss deshalb als eine Form von Handlung beschrieben werden können; und alles Problemlösen ist nur dann sinnvoll, wenn es erfolgreich eingesetzt und genützt werden kann, also auf konkrete Situationen unterschiedlichster Art angewandt werden kann.
Dass es Ziel eines Lernprozesses sein kann, eine vermeintliche Selbstverständlichkeit oder erfolgreiche Praxis überhaupt erst als - womöglich gar nicht lösbares - Problem zu erkennen, kommt diesem Konzept nicht mehr in den Sinn. Gleichzeitig erlaubt es der Kompetenzbegriff, als Universalkonzept eingesetzt zu werden, das nach Gutdünken differenziert und aufgefächert werden kann. Dies führt im praktischen Umgang mit dem Begriff der Kompetenz dann zu solchen Absurditäten wie vollkommen beliebigen Kompetenzzuschreibungen, da ja jede menschliche Tätigkeit irgendwie auch als eine Form von Kompetenz aufgefasst werden kann. Jede noch so einfache Aktivität oder Lernanstrengung kann deshalb in eine Unzahl von Kompetenzen übergeordneter und untergeordneter Art zerlegt werden.
Der für die Schweiz vorgelegte Lehrplan 21 brachte es für die Grundschule angeblich auf 4500 Kompetenzen, die entwickelt, geübt, getestet, überprüft und angewandt werden sollen. Das geht natürlich nur, wenn noch jede Selbstverständlichkeit als Kompetenz gewertet und bewertet wird und stimmige Lern- und Kommunikationsprozesse bis zur Unkenntlichkeit zergliedert und isoliert werden. Dass Schüler «ihre Aufmerksamkeit auf sprechende Personen richten können», wird dann gleich zu einer Kompetenz hochstilisiert. Es verwundert wenig, dass sich zu diesem Lehrplanprojekt eine Protestbewegung aus Lehrern und Wissenschaftern gebildet hat.
Da Kompetenzen nur als operationalisierbare Tätigkeiten beschrieben werden dürfen, begann für die Autoren der kompetenzorientierten Curricula die Suche nach den entsprechenden Verben - denn einfach einen Stoff, eine Sache, eine Aufgabenstellung, ein Thema als Gegenstand eines Unterrichts zu benennen, war von nun an verboten. Die nun vorliegenden kompetenzorientierten Lehr- und Studienpläne sind nicht nur Ausdruck abstruser fachlicher und didaktischer Konzepte, sondern auch ein vorläufiger Tiefpunkt in Hinblick auf sprachlichen Ausdruck und Stil. Kein Mensch mit Sprachgefühl kann solche Curricula lesen, ohne nicht in eine tiefe Depression zu verfallen. Oder wie anders soll man auf Formulierungen dieser und ähnlicher Art reagieren: «Über Lesefähigkeiten verfügen - Lebendige Vorstellungen beim Lesen von Texten entwickeln - Schreibabsicht klären - Inhalte (sic!) verstehend zuhören - zu Texten Stellung nehmen - bei der Beschäftigung mit Texten Sensibilität und Verständnis für Gedanken und Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen zeigen - Texte auf Wirkung überprüfen - Lernergebnisse präsentieren.»
Das Schöne daran: Diese Beschreibungen geben natürlich keine Auskunft, wann und unter welchen Bedingungen solch eine Kompetenz zufriedenstellend zur Schau gestellt wurde. Wann und wie zeigt denn ein Schüler Sensibilität angesichts eines literarischen Textes? Wenn er bekundet, betroffen zu sein? Wenn er sagt, dass es ihm schon einmal ähnlich ergangen sei? Wenn ihn das Gelesene an seine Familie oder Freunde erinnert? Wenn er zugibt, dass das alles nicht sein Problem ist? Dass dort, wo darüber hinaus in diese Kompetenzorientierungen gesellschaftspolitische Zielsetzungen eingeschmuggelt werden, alles in blanke Ideologie umschlagen muss, versteht sich fast von selbst. Denn was sonst verbirgt sich etwa hinter folgendem Punkt des österreichischen Lehrplans für die Oberstufe der Allgemeinbildenden Höheren Schulen (Gymnasien): «Zu sprachkritischen Diskursen (feministische Sprachkritik, politisch korrekte Sprache) beitragen»? Der Schüler, der in solch einer Unterrichtseinheit etwa mit Verweis auf das Buch «Genug gegendert» von Tomas Kubelik das generische Maskulinum verteidigte, wird von seiner Lehrerin wohl kaum die entsprechende Kompetenzbescheinigung ausgestellt bekommen. Unter dem Titel «Kompetenz» und den damit verbundenen Versprechen objektiver Bildungsstandards und ihrer Messbarkeit hat sich eine bisher noch nie gekannte Subjektivität und Beliebigkeit in die Unterrichtspraxis eingeschlichen, bei gleichzeitiger exzessiver Ausdehnung des bürokratischen Aufwands. Das erklärt, warum die Verben, mit denen angeblich Kompetenzen exakt beschrieben werden, sich für eine Grundschule und für eine Sekundarstufe II in nichts voneinander unterscheiden.
Die Grundkompetenzen des Philosophieunterrichts in Österreich heissen zum Beispiel Wahrnehmen und Verstehen, Analysieren und Reflektieren, Argumentieren und Urteilen, Sich-Orientieren und Handeln. Anbei: Dass diese Kompetenzen identisch sind mit jenen, die im Religionsunterricht vermittelt werden sollen, überrascht nicht: Es ist ja alles eins. Sieht man allerdings genauer hin, erwerben Schüler im Philosophieunterricht zum Beispiel eine «phänomenologische Kompetenz», die allerdings nicht darin besteht, dass sie eine Ahnung von der philosophischen Richtung der Phänomenologie, wie sie Edmund Husserl begründet hat, bekommen, sondern sie werden in den Stand gesetzt, «eigene Bewusstseinszustände mitzuteilen». An solch eine Philosophiestunde, in der Bewusstseinszustände, und zwar sogar eigene, mitgeteilt werden, möchte man ernsthaft gar nicht denken.
Stutzig könnte man allerdings werden, wenn auch eine «dekonstruktivistische Kompetenz» vermittelt werden soll. Abgesehen von der vielleicht pikanten Frage, ob Paul de Man oder Jacques Derrida im Besitz dieser Kompetenz gewesen waren, verbirgt sich dahinter die Aufforderung an die Halbwüchsigen, «kreativ mit vorgegebenen Materialien umzugehen» und dabei «Neuartiges zu kreieren». Die Praxis der Unbildung schreckt vor nichts zurück.
Solche Kompetenzen lassen sich tatsächlich für jeden Gegenstand beliebig generieren und vermehren. Für den Philosophieunterricht zum Beispiel ist das Konzept massgeblich, das Anita Rösch entworfen hat und das neben den oben genannten Grundkompetenzen bis zu 40 Teilkompetenzen kennt, die, fein säuberlich zu einer Kompetenz-Pyramide aufgetürmt, an der Basis die «Reflexionskompetenz» und an der Spitze die unvermeidliche «Handlungskompetenz» nennen. Man kann nur hoffen, dass es noch Philosophielehrer gibt, die sich mit dem Denken begnügen und auf das Handeln grosszügig verzichten. Dazwischen findet man etwa die interkulturelle Kompetenz und die Konfliktlösungskompetenz. Was Letztere betrifft, hätte ein Blick in das wunderbare Buch «Kampfplätze der Philosophie» von Kurt Flasch die Autorin vielleicht dazu bringen können, zumindest für den Philosophieunterricht auch eine Konfliktverschärfungs- oder Konfliktzuspitzungskompetenz einzufordern.
Immerhin: Auch von Sachkompetenz ist allenthalben noch die Rede, allerdings gibt es für diese weder verbindliche Inhalte noch Themen. Wenn in den Curricula solche Inhalte benannt werden, dann nur exemplarisch, als Beispiel, als eine Möglichkeit, die jederzeit durch eine andere ersetzt werden kann. Damit aber ist der Punkt erreicht, an dem die Kompetenzorientierung tatsächlich in eine Negation jedes verbindlichen Wissens umschlägt. Denn all die geforderten Kompetenzen lassen sich an jedem beliebigen Gegenstand erwerben, Reflektieren und Analysieren kann man alles Mögliche, dazu bedarf es keiner spezifischen fachlichen Inhalte. Kein Philosophielehrer verstiesse gegen die Idee der Kompetenzorientierung, der ein Jahr lang Philosophie unterrichtete, ohne dass der Name eines Philosophen fiele, ein philosophisches Buch zitiert würde, eine philosophische Theorie oder ein philosophisches Argument Erwähnung fände, und natürlich müsste auch kein philosophischer Text gelesen werden. Nach einigen Jahren kompetenzorientierten Unterrichts werden auch die grössten Namen der Philosophie, die bedeutendsten Werke der Weltliteratur, die wichtigsten Gestalten der Geschichte zu Fremdwörtern geworden sein.
Blickt man genauer hin, muss man erkennen, dass sich unter dem Deckmantel der Kompetenzorientierung eine Grundkonstellation des Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt hat. In dem Masse, in dem Kompetenzen als formale Fertigkeiten verstanden werden, die an beliebigen Inhalten erworben werden können, konterkariert man die Idee jedes durch Neugier motivierten Erkenntnis- und damit Bildungsprozesses: Kompetenzorientierte Kinder und Jugendliche werden schlicht um die Faszination gebracht, die von einer Sache, einem Thema, einem Gegenstand, einem Namen, einem Buchtitel, einer Frage ausgehen kann; sie werden damit um die Chance gebracht, überhaupt ein substanzielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können. Gerade die vielgerühmte «Selbstkompetenz» erweist sich als ungeheuerliches Betrugsmanöver, an dessen Ende die Phraseologie des Selbst jede Form der Selbsterkenntnis sabotiert.
Aber auch die Wissenschaft selbst, wie sie zumindest an Universitäten betrieben und gelehrt wird, muss sich dem Druck der Kompetenzorientierung beugen. Zumindest die Hochschuldidaktik setzt ganz auf diese neue Mode, mit zum Teil skurrilen Ergebnissen, deren Unterhaltungswert nicht gering veranschlagt werden dürfte. So kommt eine «Delphi-Studie» zur Frage der Kompetenzorientierung in der Hochschuldidaktik zu dem Ergebnis, dass für Lehre, Prüfung und akademische Selbstverwaltung mindestens 30 Kompetenzen erforderlich sind, darunter - man glaubt es kaum - «Kompetenzorientierungskompetenz», aber auch «Prüfungskompetenz» ist gefragt, ebenso «Innovationskompetenz» und «Durchhaltevermögen» - Letzteres wird bald hoch im Kurs stehen, geht die Entwicklung weiter wie bisher. Tröstlich, dass von Universitätslehrern immerhin auch eine «ethische Grundhaltung» und sogar «Fachwissen» eingefordert wird. Aber auch hier gilt: Eine Hochschule hat nicht in erster Linie Wissen zu vermitteln oder in die Arbeitsweise der Wissenschaften einzuführen, sondern die «Handlungskompetenzen» der Teilnehmer zu entwickeln.
Zukünftige Bildungsforscher werden in der Umstellung auf die Kompetenzorientierung vielleicht den didaktischen Sündenfall unserer Epoche sehen, die Praxis der Unbildung schlechthin, und womöglich zur Einsicht kommen, dass Kompetenz genau das bedeutet, was der Philosoph Odo Marquard einst manchen «kompetenten» Vertretern seiner eigenen Zunft unterstellt hatte: Sie seien für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit. Aber vielleicht ist es genau das, was intendiert ist. In der Kompetenzorientierung zeigt sich die Praxis der Unbildung in ihrer hypertrophen Gestalt.

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