22. September 2014

Ritalinverbrauch steigt weiter

Der Konsum der Leistungsdroge Ritalin ist wieder angestiegen. Der Schuldruck zwingt viele Kinder mit Konzentrationsstörungen zur Einnahme des Medikaments - doch nicht ohne Folgen. 


Kampfplatz Schule: Viele Kinder können sich nur noch mithilfe von Ritalin auf den Schulstoff konzentrieren, Bild: Fotolia

Taumeln zwischen Anspruch und Realität, Basler Zeitung, 22.9. von Franziska Laur


«In der Primarschule ist der Lehrerin aufgefallen, dass ich mich schnell ablenken lasse», sagt Sophie*. Ruhig steht sie da, blasses Gesicht, dunkle Haare. Ihre Mutter war es, die Sophie zu den Ärzten sandte. Aus Angst, dass ihre Tochter ihr intellektuelles Potenzial nicht ausschöpfen kann. So kam das Mädchen aus Basel mit acht Jahren zum Ritalin, der Leistungsdroge. Die Pille für die Pflichterfüller-Generation. Denn anders als in den Siebzigern, als Jugendliche LSD und Heroin nahmen, um dem Muff der Etablierten zu entkommen, hilft heute Ritalin, sich den Erwartungen der Gesellschaft anzupassen. Es ist die erste Generation, die eine Vernunftdroge konsumiert.
Die Kinder und Jugendlichen tun es auf Druck von Eltern und Lehrern. Sie tun es aufgrund einer Diagnose, von der Ärzte sagen, dass sie keine Krankheit, sondern eine Eigenschaft ist: AD(H)S. Kinder mit einem diagnostizierten ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) haben Mühe, sich zu konzentrieren. Kommt eine Hyperaktivität dazu, können sie kaum still sitzen. Viele erhalten dann Ritalin verschrieben. Allein zwischen 1999 und 2012 hat sich der Verbrauch von Methylphenidat, der Base von Ritalin und ähnlichen Medikamenten, fast verzehnfacht. Damals wurden 38 Kilogramm verkauft, im Jahr 2012 waren es 326 Kilogramm. Im vergangenen Jahr hat der Verbrauch nochmals um 12 Kilogramm zugenommen.
Ärzte sehen keine Gefährdung
Für den gesunden Körper sei Ritalin nicht gefährlich, sagen die Ärzte. In fast 90 Prozent der Fälle wirke das Medikament erfolgreich und verbessere die fokussierte Aufmerksamkeit und Selbststeuerung. Das Ziel der Therapie bestehe darin, das vorhandene individuelle Potenzial auszuschöpfen, um dadurch das Selbstwertgefühl zu verbessern, sagt Roland Laager, Co-Präsident der Kinder- und Jugendärzte Regio Basel mit eigener Praxis in Birsfelden. «Es geht darum, den Kindern mit einer gezielten Therapie die Erfahrung zu ermöglichen, dass sie etwas können und jemand sind.»
Was spricht gegen die Einnahme von Ritalin? Die meisten Jugendlichen wollen nicht rebellieren, Sophie gehört dazu. Und ihre Mutter war entschlossen, der Tochter trotz ihrer Unkonzentriertheit eine Aufstiegsmöglichkeit zu verschaffen. Nachdem sie Sophie zu Abklärungen geschickt hatte, stellte der Arzt ein leichtes ADS fest, die Psychiater einen erhöhten Intelligenzquotienten. Morgens nimmt sie 40 Milligramm Ritalin, nachmittags 10. «Ich selbst spürte keinen Unterschied.» Die Lehrerin sehr wohl. «Mit der Zeit merkte auch ich, dass ich mich lange konzentrieren kann und nicht abgelenkt bin», sagt Sophie.
Klara* hingegen hinterfragt die Einnahme von Ritalin. Sie bekam das Medikament wegen Unkonzentriertheit und Hyperaktivität vor drei Jahren verschrieben. «Scheisspillen!», sagt sie. Sie fühle sich «unterdrückt» durch das Medikament, sagt die 17-Jährige im Gespräch mehrmals. Sie könne nicht sich selber sein. Trotz dem gefühlten Sklavendasein: Sie nimmt das Medikament, wenn sie sich bei ihrer KV-Ausbildung konzentrieren und lernen muss. «Ich lerne dann zwar wie eine Maschine, doch meine Freude und Neugier an der Welt ist weg», sagt sie. So nimmt sie, wie Sophie auch, das Medikament nur gezielt in der Schule.
Um jeden Preis mithalten können
Dabei stellt sich eine andere Frage: Wieweit wirkt Ritalin wettbewerbsverzerrend? Noten werden nach der durchschnittlich erwartbaren Leistung vergeben. Was, wenn ein Ritalinkonsument die beste Abschlussarbeit schreibt? Verzerrt er den Notenspiegel? 
«In neun von zehn Fällen verlieren ADHS-Kinder aufgrund ihrer Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörung den Kampf im Wettbewerb», sagt Kinderarzt Roland Laager. Doch, betont er, ADHS sei keine Krankheit, sondern eine Eigenschaft einiger Menschen. Früher, da habe man mehr Platz gehabt und sei bezüglich Stillsitzen nicht so unter Druck gewesen. «In unserer heutigen Gesellschaft mit den vielen Lernaufgaben ist es sehr viel schwieriger, mit ADHS zu leben. Ritalin gibt die Möglichkeit, den Lernstoff besser aufzunehmen, sich besser zu konzentrieren.»
Doch man gebe das Medikament nicht leichtfertig ab. Zuvor würde umfassend abgeklärt, wobei auch das Umfeld einbezogen werde. «Ob ein ADS oder ADHS behandelt werden muss oder nicht, hängt sehr stark vom Umfeld ab», sagt Laager. Ein ADHS-Schüler in einer Klasse mit straffer Führung könne vielleicht ohne Ritalin durchkommen. «Klare Strukturen helfen diesen Kindern enorm. Je mehr Unruhe und Bewegung in einer Klasse herrschen, desto schwieriger wird es für sie.»
Unruhiges Schulsystem
Heute ist das Schulsystem mit der Anwesenheit von mehreren Lehrern und Fachpersonen im Schulzimmer und dem Gruppenlernsystem sehr unruhig geworden. «Dies kann mit ein Grund sein, dass das eine oder andere Kind mehr Ritalin braucht», sagt Laager. Doch eine medikamentöse Therapie werde immer eng mit einer Verhaltenstherapie begleitet.
Kaum ein Thema der vergangenen Jahre spaltet so viele Geister wie die Einnahme von Ritalin. Viele Eltern wehren sich gegen den Verdacht, ihren Kindern gedankenlos Ritalin verschreiben zu lassen. Sie sagen, sie hätten mit ihnen zuvor eine lange Leidensphase durchgemacht und erst auf diese Weise seien ihre Kinder endlich einmal zu Erfolgserlebnissen gekommen.
Der deutsche Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky stellt das Thema ab und zu ins Zentrum seiner Referate: «Ich habe überhaupt kein Problem mit dem Medikament. Was sollte daran schlecht sein, wenn jemand mehr Anerkennung bekommt, weil er mit Ritalin mehr leistet?» Und er setzt hinzu: «Warum wollen wir es jemandem verbieten, der seine intellektuelle Leistung nicht ausspielen kann, sich mit Pillen konzentrierter und leistungsfähiger zu machen?» Er kenne keine einzige objektive Studie, die beweise, dass Ritalin süchtig oder krank mache – alle seien sie interessengeleitet.
Schaden kleiner als der Nutzen
Tatsache ist jedoch, dass das Medikament Nebenwirkungen verursacht. «Auch Kaffee, Tee oder Nikotin haben Nebenwirkungen. Der Mensch entscheidet für sich, dass der Schaden kleiner ist als der Nutzen und es steht niemandem zu, ihm diese Entscheidungsfreiheit abzusprechen», sagt Jánszky. Bei seinen Referaten frage er das Publikum ab und zu, wer eine Pille nehmen würde, wenn er durch sie mehr Erfolg haben würde. 80 Prozent würden sich melden. Diejenigen 20 Prozent, die es ablehnen, würden dies mit einer grossen Vehemenz, ja fast aggressiv tun. Ihr Argument: Die Natur stehe über allem. «Doch seien wir doch ehrlich. Wir drehen uns die Welt doch schon lange zurecht, wie wir sie gerne hätten.»
Aus Sophie hat Ritalin jedenfalls die Musterschülerin gemacht, die sie gemäss ihrer Mutter sein sollte: hellwach, fokussiert und diszipliniert. Die Schlafprobleme und der Appetitverlust hätten sich mit der Zeit eingependelt, sagt sie. Allerdings: «Meine Freundinnen sagen, dass ich mit Ritalin distanzierter bin.» In den Ferien und über das Wochenende nimmt sie es nicht: «Dann grinse ich den ganzen Tag.» Obwohl sie trauriger wird mit Ritalin, hat sie sich nie geweigert, es einzunehmen. Doch heute ist sie 18 Jahre alt und kann tun und lassen, was sie will. «Ich überlege mir, es abzusetzen», sagt sie.


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