21. September 2014

Sprachaustausch fördern

Eine Sprache lernt man am besten dort, wo sie gesprochen wird. Ein mehrsprachiges Land wie die Schweiz sollte darum künftig unbedingt landesweite Sprachaustausche organisieren.




"Kein Kind soll seine Zeit für den nationalen Zusammenhalt absitzen müssen". Bild: NZZaS

Sprachaustausch muss für Schweizer Schüler obligatorisch werden, NZZaS, von Andreas Diethelm


Was waren das für freudlose Anlässe, diese träge dahinfliessenden Französischstunden in der Sek der sechziger Jahre. Der einzige Anreiz, der einen wachhielt, war die Versagensangst. Megafrust kannte ich, lange bevor das Wort in die Trivialsprache Einzug hielt. Erst der einjährige Welschlandaufenthalt im Anschluss daran öffnete mir Ohren und Mund, Französisch wurde vom Frust zur Lust. Fortan ging ich nur noch so an neue Sprachen heran. Und mit jedem Erfolgserlebnis wurde die Frage drängender: Wann merken das auch die Politiker? Die ereifern sich über das Was und das Wann und übergehen dabei das alles entscheidende Wie.
Um eine Sprache zu lernen, braucht es - unabhängig vom Alter - ein starkes Motiv. «Das braucht ihr später einmal» gehört nicht dazu. Die von der Lehrkraft ausgehende Faszination kann eines sein. Liebe auf den ersten Blick zwischen verschiedensprachigen Wesen ist ganz sicher ein starkes Motiv. Ein coup de foudre kann aber nur einschlagen, wenn die Beteiligten sich treffen.
Die gängige Versuchsanordnung des Fremdsprachenunterrichts weist einen entscheidenden Mangel auf. In der biologischen Forschung wird in vitro, in vivo und in situ, also im Reagenzglas, am lebenden Organismus und vor Ort experimentiert, weil man weiss, dass die Ergebnisse unter unterschiedlichen Umgebungseinflüssen unterschiedlich ausfallen können. Was im Umgang mit einfachen Organismen ohne weiteres einleuchtet, müsste eigentlich auch im Falle unserer eigenen Spezies und erst recht bei einer so komplexen Sache wie dem Spracherwerb gelten. Die Tür zu einer neuen Sprachwelt kann im Schulzimmer aufgestossen werden, hinaustreten müssen die Lernenden selber. Und oft erwacht dieser Wille zum Lernen erst vor Ort.
Für eine zweite Landessprache haben wir drei Generationen von Schulabgängern verloren, die sich im Kontakt mit dencompatriotes radebrechend durchs Leben stottern oder ihnen ganz aus dem Weg gehen. Und dies nur, weil ihnen deren Sprache frühzeitig verleidet beziehungsweise weil ihnen der nächstliegende Lernanreiz vorenthalten wurde. Kaum ein Ort in der Schweiz liegt mehr als zwei Bahnstunden von der Sprachgrenze entfernt; dennoch haben wir in den vergangenen fünfzig Jahren den obligatorischen Schüleraustausch zum Spracherwerb versäumt. Ein Land, das eine Milizarmee und eine Zivilschutzorganisation unterhalten kann, müsste aber doch über die logistische Kompetenz und die Mittel für die Organisation eines landesweiten Sprachaustauschs verfügen. Ein solcher Ortswechsel muss spätestens ein Jahr nach Unterrichtsbeginn erfolgen - bevor der Frust sich festsetzt - und mindestens sechs Wochen dauern. Auf welcher Schulstufe mit welcher Sprache begonnen wird, ist hingegen sekundär.
Es ist ja nicht so, dass bisher kein Sprachaustausch stattgefunden hätte. Nur hängt dieser eben noch immer davon ab, ob die Schülerin oder der Schüler zufälligerweise in der richtigen Gemeinde wohnt, wo die Mittel und der Wille dafür vorhanden sind.
Sprachaufenthalte können auch nicht durch Immersion ersetzt werden, das Zauberwort und Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb der Gymnasien, also zum Beispiel mit Geschichtsunterricht auf Italienisch wie in Zürich. Das ist ein reizvolles Angebot, aber nicht die Problemlösung. Im klassischen Sprachbad befinden sich nur Immigranten. Die einen nehmen darin Sprache an, andere nicht. Die Kinder aber tun es immer. Sie wollen, sie können sich die neue Welt nicht entgehen lassen: Sie sind motiviert. Umgekehrt funktioniert auf der Primarstufe etwa ein französisches Sprachbad im Turnunterricht nicht. Erstens fehlt das Personal, zweitens fehlt das Wasser. Die Sprache allein ist nur das Badesalz, das Wasser sind die leibhaftigen Romands. Die Bildungspolitik hat also viel Boden gutzumachen. Anstatt mit grossem Aufwand auf Pisa zu reagieren, müssen die Kantone endlich die Praxis in den Fremdsprachenunterricht integrieren.
Schule ist immer eine Zumutung; sie beschneidet junge Menschen in ihrer Freiheit. Anderseits macht sie mehr oder weniger verlockende Angebote und kann die Entfaltung individueller Neigungen unterstützen und fördern. Wir verbringen ein schönes Stück Lebenszeit in Schulzimmern. Eine solche Einschränkung lässt sich nur bei realistischen Erfolgsaussichten rechtfertigen. Bildungspolitische Alibiübungen sind hingegen eine Form psychischen Kindsmissbrauchs. Kein Kind soll seine Zeit für den nationalen Zusammenhalt absitzen müssen.

Unter dieser Prämisse ist das Befeuern eines Sprachenstreits nicht opportun. Qualität und Glaubwürdigkeit des Sprachunterrichts haben Vorrang, nicht der Zeitpunkt seiner Einführung. Der Prozess des Spracherwerbs passt sich nicht politischen Kohäsionswünschen an. Das Bildungsangebot muss sich der Natur der Menschen anpassen, Kohäsion folgt dann automatisch.

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