Sollen in der Primarschule weiterhin zwei
Fremdsprachen unterrichtet werden? Der Sprachenstreit ist auch ein Streit umForschungsresultate.
Die Vermessung der Bildung, NZZ, 29.6. von Marc Tribelhorn
Einmal mehr
wird hierzulande über die «richtige» Form des Fremdsprachenunterrichts
gestritten, und zwar erbittert. «Frühenglisch» und «Frühfranzösisch» sind die
Reizwörter. Werden unsere Kinder überfordert, wenn sie bereits in der
Primarschule zwei Fremdsprachen lernen müssen? Und garantiert die
bildungspolitische Losung «Je früher, desto besser» überhaupt einen höheren
Lernerfolg? Gleich in mehreren Kantonen fordern nun Kritiker, dass die zweite
Fremdsprache nicht mehr ab der 5. Klasse, sondern erst in der Oberstufe
unterrichtet werden soll. Entsprechende Volksabstimmungen sind angekündigt; der
Sprachenkompromiss, den die kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) 2004 mühsam
ausgehandelt haben, ist in Gefahr. Damals einigte man sich darauf, in der
Ostschweiz Englisch als erste Fremdsprache zu akzeptieren, erklärte aber den
Unterricht einer zweiten Landessprache in der Primarschule für zwingend. Davon
will der Kanton Thurgau schon jetzt nichts mehr wissen. Der Lehrplan, der im
Frühling in die Vernehmlassung geschickt wurde, sieht keinen
Französischunterricht in der Primarschule mehr vor.
Erboster Berset
Innenminister Alain Berset zeigte sich denn auch besorgt über
diese Entwicklung und drohte im Sinne der «cohésion nationale» mit einer
bundesrätlichen Intervention. Zum Ärger der EDK: Eine Einmischung des Bundes in
die Sprachenfrage berge «erhebliche Risiken», heisst es in einem am Dienstag
publik gewordenen Brief an Berset. Die EDK halte an ihrer Strategie von zwei
Fremdsprachen in der Primarschule fest und plädiere für «Sachlichkeit und
Gelassenheit». Die nötige Legitimation für ihre Politik schöpft sie nicht
zuletzt aus «evidenzbasierter» Forschung: Die hehre Wissenschaft soll zeigen,
ob die Bildungspolitik auf dem richtigen Weg ist.
Bund und Kantone gaben deshalb 2014 an der Universität Århus in
Dänemark eine unabhängige systematische Übersichtsarbeit zum
Fremdsprachenlernen in Auftrag. Internationale Experten werteten in der Folge
über 7000 Publikationen aus, die für die Schweizer Fragestellungen relevant
sein könnten, und kamen Ende letzten Jahres zum Schluss: Das Erlernen einer
Fremdsprache begünstigt das Erlernen weiterer Fremdsprachen, und das Erlernen
mehrerer Sprachen überfordert die Schüler nicht. Hingegen belegen einige
Studien, die den zeitgleichen frühen Unterricht mehrerer Fremdsprachen mit
einem zeitversetzten späteren verglichen, einen schnelleren Lernfortschritt
älterer Schüler beim Erlernen der zweiten Fremdsprache.
Bedeutet die letzte Erkenntnis, dass es vorteilhaft wäre, wenn die
zweite Fremdsprache erst in der Oberstufe gelernt würde? «Keineswegs», meint
Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für
Bildungsforschung: Der Befund lasse sich mit dem höheren und sprachspezifischen
Wissensstand älterer Schüler erklären. «Das Review zeigt, dass es derzeit
keinerlei Forschungsevidenz gibt, die eine Veränderung des Schweizer Modells
nahelegen würde.»
Frühenglisch bringt
nichts?
Doch auch die Kritiker der heutigen Praxis stützen sich auf
Forschungsresultate. Seit Monaten machen sie Stimmung mit einer Studie der
Zürcher Linguistin Simone Pfenninger, die auch in den Medien mächtig Widerhall
fand: Zwischen 2008 und 2015 untersuchte sie die Englischkenntnisse von 500
Schülern zu Beginn und am Ende ihrer Gymnasialzeit. Die einen hatten schon in
der Primarschule Englisch, die anderen erst in der Oberstufe. Resultat: Schon
nach sechs Monaten Gymnasium hätten die meisten Frühlerner ihren Vorsprung
eingebüsst, bei der Matur liessen sich sogar kaum mehr Unterschiede
feststellen. Pfenningers Fazit: «Einen Langzeiteffekt von Frühenglisch gibt es
nicht.» Das Schweizer Fernsehen verkürzte: «Frühenglisch bringt nichts», und
die Gegner des Frühfremdsprachenunterrichts übertrugen Pfenningers Aussagen
sogleich auf das ungeliebte Frühfranzösisch, was die Linguistin notabene als
unzulässig bezeichnet. Die EDK musste sich zudem den Vorwurf anhören, sie
ignoriere die Resultate aus politischen Gründen.
Das lässt Stefan Wolter nicht gelten. Diejenigen Aufsätze
Pfenningers, welche die Experten aus Århus geprüft hätten, seien als qualitativ
ungenügend eingestuft und deshalb nicht berücksichtigt worden. Hingegen seien
Studien von Schweizer Forschern in das Review eingeflossen, die aber zu anderen
Ergebnissen als Pfenninger kämen. «Es geht zudem nicht nur um die Frage von
frühem oder spätem Spracherwerb, sondern immer auch um die Qualität des
Unterrichts.» Diese Meinung teilt auch Simone Pfenninger, welche die Kritik an
ihrer Arbeit scharf zurückweist. «Wir brauchen endlich eine sachliche und keine
ideologische Debatte über das Thema.»
Stefan Wolter sagt: «Das Review zeigt, dass es derzeit keinerlei Forschungsevidenz gibt, die eine Veränderung des Schweizer Modells nahelegen würde.»
AntwortenLöschen1. Das Review war nicht darauf ausgerichtet, das Schweizer Modell zu überprüfen.
2. Das Review gibt auch keine Anhaltspunkte, wonach am derzeitigen Schweizer Modell festgehalten werden müsste.