13. September 2014

Nationale Identität hat nichts mit Sprache zu tun

Wer über die Grenze nach Saint-Louis spaziert, kommt durch die Avenue de Bâle in die Rue de Mulhouse – und da ist es. Auf der rechten Strassenseite steht eine historische Besonderheit, das Kriegsdenkmal von Saint-Louis, eine fürchterliche neoklassizistische Säulenskulptur mit einer trauernden Frau und ihrem Kind davor. Die Gedenktafel erinnert an die tapferen Elsässer, die im Ersten Weltkrieg bei den Einheiten des Languedoc für la patrie kämpften – und nicht aufseiten der Deutschen. Denn das Elsass gehörte nach dem Krieg von 1870/1871 zu Deutschland und kam erst 1918 zurück an Frankreich. Laut dem Historiker Bernard Vogler weigerten sich dennoch «viele junge Elsässer in der deutschen Armee ihren Wehrdienst zu leisten, sie verliessen das Elsass und traten in die französische Armee ein». Die ­Franzosen verfügen über «zahlreiche elsässische Generäle, aber nur einer war auf deutscher Seite». Was hat das mit der Schweiz zu tun? Auf den ersten Blick gar nichts, auf den zweiten mehr, als man denkt. 


Erfolglose politische Assimilierungsversuche Frankreichs und Deutschlands im Elsass, Bild: morganandfriends.ch

Das Beispiel der alemannisch sprechenden Elsässer sagt viel aus über den aktuellen Schweizer Sprachenstreit, Basler Zeitung, 13.9. von Rolf Hürzeler

Denn das Kriegsdenkmal von Saint- Louis belegt, dass sich die damals mehrheitlich alemannisch sprechenden Elsässer nicht als Deutsche fühlten, sondern als Franzosen. Vierzig Jahre deutsche Staatszugehörigkeit machte sie nicht zu Deutschen – alemannische Sprache hin oder her. Mit andern Worten: Die Sprache hat nichts mit nationaler Identität zu tun. Die Sprachkompetenz richtet sich nach der Opportunität, man spricht die Sprache der Eltern. Und man lernt nur eine zusätzliche Sprache, die einen materiellen Vorteil verspricht – unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit.
Denn die Politiker beeinflussen das Sprachverhalten der Bürger nicht und seien die Ziele noch so hehre. Wenn die Schweizer Landesregierung demnach der Überzeugung ist, die nationale Identität sei nur durch das Frühfranzösisch in der Grundschule gesichert, irrt sie sich. Ob Kinder oder Erwachsene, niemand will eine Fremdsprache aus Staatsräson lernen – schon gar nicht unter Zwang. Und sie werden sich dennoch genauso als Schweizer fühlen – und die Westschweizer als ihres­gleichen akzeptieren. Das haben Politiker in den Kantonen Thurgau und Nidwalden verstanden, die im Frühenglischen grösseren Nutzen sehen als im Französischen, ohne dass sie deswegen vaterlandslose Gesellen wären. Denn Basic English lässt sich nun mal schneller aneignen, als ein passables Schulfranzösisch.
Zurück zum Elsässisch. In der ­Zwischenkriegszeit blieb das Elsass zwar französisch, aber die Leute sprachen weiterhin alemannisch – und waren damit für Paris politisch unzuverlässig. Nach dem Sieg der Linken 1924 galt das Elsässische als politisch verdächtig. Dennoch richtete sich die Sprache nicht nach der Politik; die Leute redeten ­weiterhin ihren deutschen Dialekt, fühlten sich aber keineswegs als Deutsche. Ebenso wenig wie in der Nachkriegszeit, als Paris wiederum das Elsässische unterdrückte. Erst Präsident François Mitterrand erkannte, dass ein elsässisch sprechender Bürger genauso ein guter Franzose sein kann wie jeder Pariser.
Erfolglose Assimilierung
Und heute? Das Elsässische geht zwar zurück, auf Kosten des Französischen. Aber nicht weil sich die Leute heute «französischer» fühlen als früher, sondern weil das Französische Vorteile im Berufs- und Gesellschaftsleben verspricht. «Die Elsässer wechselten von 1869 bis 1945 vier Mal die staatliche Ordnung, aber identifizierten sich immer nur teilweise mit ihr», konstatiert die deutsche Elsass-Expertin Anne Kwaschik von der Freien Universität Berlin. Die politischen Assimilierungsversuche der Pariser Zentralregierung oder im deutschen Kaiserreich seien fruchtlos geblieben. Man konnte den Leuten Französisch oder Deutsch einhämmern, sie blieben Elsässer.
Auf die Schweiz übertragen ist das eine Binsenwahrheit: Die Bürger jeder Sprachregion identifizieren sich gleichermassen mit der Willensnation – unabhängig davon, ob sie eine oder zwei Landessprachen beherrschen. So ist es nachvollziehbar, wenn das Thurgauer Kantonsparlament in der Primarschule nur den Englischunterricht anbieten will. Kein einziger Thurgauer wird deshalb ein schlechterer Schweizer sein als einer, der zweisprachig in Biel aufgewachsen ist.

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