Wer über die Grenze nach Saint-Louis spaziert, kommt durch die
Avenue de Bâle in die Rue de Mulhouse – und da ist es. Auf der rechten
Strassenseite steht eine historische Besonderheit, das Kriegsdenkmal von
Saint-Louis, eine fürchterliche neoklassizistische Säulenskulptur mit einer
trauernden Frau und ihrem Kind davor. Die Gedenktafel erinnert an die tapferen
Elsässer, die im Ersten Weltkrieg bei den Einheiten des Languedoc für la patrie
kämpften – und nicht aufseiten der Deutschen. Denn das Elsass gehörte nach
dem Krieg von 1870/1871 zu Deutschland und kam erst 1918 zurück an Frankreich.
Laut dem Historiker Bernard Vogler weigerten sich dennoch «viele junge Elsässer
in der deutschen Armee ihren Wehrdienst zu leisten, sie verliessen das Elsass
und traten in die französische Armee ein». Die Franzosen verfügen über
«zahlreiche elsässische Generäle, aber nur einer war auf deutscher Seite». Was hat das mit der Schweiz zu tun? Auf den
ersten Blick gar nichts, auf den zweiten mehr, als man denkt.
Erfolglose politische Assimilierungsversuche Frankreichs und Deutschlands im Elsass, Bild: morganandfriends.ch
Das Beispiel der alemannisch sprechenden Elsässer sagt viel aus über den aktuellen Schweizer Sprachenstreit, Basler Zeitung, 13.9. von Rolf Hürzeler
Denn das Kriegsdenkmal von Saint- Louis belegt, dass sich die
damals mehrheitlich alemannisch sprechenden Elsässer nicht als Deutsche
fühlten, sondern als Franzosen. Vierzig Jahre deutsche Staatszugehörigkeit
machte sie nicht zu Deutschen – alemannische Sprache hin oder her. Mit
andern Worten: Die Sprache hat nichts mit nationaler Identität zu tun. Die
Sprachkompetenz richtet sich nach der Opportunität, man spricht die Sprache der
Eltern. Und man lernt nur eine zusätzliche Sprache, die einen materiellen
Vorteil verspricht – unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit.
Denn die Politiker
beeinflussen das Sprachverhalten der Bürger nicht und seien die Ziele noch so
hehre. Wenn die Schweizer Landesregierung demnach der Überzeugung ist, die
nationale Identität sei nur durch das Frühfranzösisch in der Grundschule
gesichert, irrt sie sich. Ob Kinder oder Erwachsene, niemand will eine
Fremdsprache aus Staatsräson lernen – schon gar nicht unter Zwang. Und sie
werden sich dennoch genauso als Schweizer fühlen – und die Westschweizer
als ihresgleichen akzeptieren. Das haben Politiker in den Kantonen Thurgau und
Nidwalden verstanden, die im Frühenglischen grösseren Nutzen sehen als im
Französischen, ohne dass sie deswegen vaterlandslose Gesellen wären. Denn Basic
English lässt sich nun mal schneller aneignen, als ein passables
Schulfranzösisch.
Zurück zum
Elsässisch. In der Zwischenkriegszeit blieb das Elsass zwar französisch, aber
die Leute sprachen weiterhin alemannisch – und waren damit für Paris
politisch unzuverlässig. Nach dem Sieg der Linken 1924 galt das Elsässische als
politisch verdächtig. Dennoch richtete sich die Sprache nicht nach der Politik;
die Leute redeten weiterhin ihren deutschen Dialekt, fühlten sich aber
keineswegs als Deutsche. Ebenso wenig wie in der Nachkriegszeit, als Paris
wiederum das Elsässische unterdrückte. Erst Präsident François Mitterrand
erkannte, dass ein elsässisch sprechender Bürger genauso ein guter Franzose
sein kann wie jeder Pariser.
Erfolglose
Assimilierung
Und heute? Das
Elsässische geht zwar zurück, auf Kosten des Französischen. Aber nicht weil
sich die Leute heute «französischer» fühlen als früher, sondern weil das
Französische Vorteile im Berufs- und Gesellschaftsleben verspricht. «Die
Elsässer wechselten von 1869 bis 1945 vier Mal die staatliche Ordnung, aber
identifizierten sich immer nur teilweise mit ihr», konstatiert die deutsche
Elsass-Expertin Anne Kwaschik von der Freien Universität Berlin. Die
politischen Assimilierungsversuche der Pariser Zentralregierung oder im
deutschen Kaiserreich seien fruchtlos geblieben. Man konnte den Leuten
Französisch oder Deutsch einhämmern, sie blieben Elsässer.
Auf die Schweiz
übertragen ist das eine Binsenwahrheit: Die Bürger jeder Sprachregion
identifizieren sich gleichermassen mit der Willensnation – unabhängig
davon, ob sie eine oder zwei Landessprachen beherrschen. So ist es
nachvollziehbar, wenn das Thurgauer Kantonsparlament in der Primarschule nur
den Englischunterricht anbieten will. Kein einziger Thurgauer wird deshalb ein
schlechterer Schweizer sein als einer, der zweisprachig in Biel aufgewachsen
ist.
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