3. September 2014

Beträchtliches Sparpotenzial

Die Stadt Zürich wagt sich an Tagesschulen. Das Modell soll die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern und kann so volkswirtschaftlich attraktiv sein.




Stadtrat Gerold Lauber ortet ein Sparpotential von 30 bis 40 Millionen Franken jährlich, Bild: SRF

Wider die Romantisierung, NZZ, 3.9. von Natalie Avanzino


In Zürcher Familien sind heute 70 Prozent der Mütter sowie 98 Prozent der Väter Teil- oder Vollzeit erwerbstätig. Von den derzeit 27 000 Stadtzürcher Schülern und Schülerinnen werden rund 13 000 am Mittag oder nach der Schule in Horten betreut. Das Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich geht davon aus, dass in wenigen Jahren bereits 70 Prozent der Zürcher Eltern einen Betreuungsplatz für ihren Nachwuchs in Anspruch nehmen werden. Um nicht das bisherige, zweigleisige Modell von Schule und Hort, das weder pädagogisch noch ökonomisch Sinn ergibt, weiter aufzublasen, will Stadtrat Gerold Lauber bis 2025 flächendeckend städtische Tagesschulen einführen. Diese sollen den Eltern eine Berufstätigkeit von mindestens 140 Stellenprozent erlauben. Am Dienstag präsentierte Lauber das Pilotprojekt «Tagesschule 2025»: Sieben Zürcher Schulen sollen im Sommer 2016 gänzlich auf bis in den Nachmittag hineinreichende Blockzeiten umstellen und Mittagstische für alle Stufen anbieten.
Ersparnis von 30 bis 40 Millionen Franken
Aus betrieblicher Sicht ist das Zusammenwachsen von Unterricht und Betreuung eine Notwendigkeit für eine effiziente Nutzung der Infrastruktur und damit dafür, dass der stetig steigenden Nachfrage nach schulergänzender Betreuung trotz begrenztem Raumangebot entsprochen werden kann. Laubers Idee ist es, das neue Modell im Rahmen eines Pilotprojekts auf städtischer und in einer zweiten Phase in einem Schulversuch auf kantonaler Ebene hinsichtlich der Akzeptanz von Tagesschulen zu erproben. In einer dritten Phase will er die flächendeckende Umsetzung einleiten.
Vorerst will dies heissen: Kinder im Pilotprojekt verbringen mittags diejenigen Tage in der Schule, an welchen sie nachmittags Unterricht haben. Da die Lektionenzahl mit dem Alter steigt, nimmt die Anzahl mit den Jahren zu. Die heutige durch die Eltern gebuchte Anzahl Horttage liegt in Kindergarten und Primarschule durchschnittlich bei etwas über drei Mittagen pro Woche. Deshalb kann der Stadtrat davon ausgehen, dass die Tagesschulen von denjenigen Eltern, welche die ausserschulischen Betreuungsangebote bereits nutzen, akzeptiert werden.
Durch die Umstellung auf das neue Angebot verspricht sich Lauber für das Schul- und Sportdepartement beträchtliche ökonomische Vorteile. Er geht von einer Kostenersparnis gegenüber dem heutigen Modell von rund 15 Prozent aus; dies entspräche 30 bis 40 Millionen Franken jährlich.
Zuerst muss allerdings der Zürcher Gemeinderat den Kredit von 19,1 Millionen Franken für das Pilotprojekt bewilligen. Positiv anzumerken ist sicherlich, dass mit dem erweiterten Schulangebot eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf angestrebt wird. Dies muss längerfristig natürlich auch volkswirtschaftlich interessant sein, da aufgrund der kompakteren Arbeitszeit der Eltern sich Arbeitspensen besser arrangieren lassen. Deswegen und durch die Erhöhung der Standortqualität für gut qualifizierte Arbeitskräfte kann sich die Stadt höhere Steuererträge erhoffen.
Privat getragenen Lösungen Hand bieten
Einstweilen ist aus pädagogischer Sicht fast unbestritten: Tagesschulen bringen durch die Mahlzeit im Klassenverband eine verbesserte Struktur in den Alltag der Kinder, die heute über Mittag im Hort auf ständig wechselnde Gruppenzusammensetzungen treffen. Davon profitiert genauso das Betreuungspersonal, das qualitativ bessere Arbeit erbringen kann. Für eine immer kleinere Gruppe von Kindern, die bisher zu Hause gegessen haben, wird die Umstellung allerdings einschneidend sein. Kann der familiäre Rahmen doch Gelegenheit bieten, ein paar ruhige Minuten im schulischen Alltag zu finden. Wer Kinder im Schulalter hat, kann die Argumente der Befürworter, aber auch die der Gegner verstehen. Nur: Die Romantisierung des Mittagessens am Familientisch steht im krassen Gegensatz zu einer Realität, die verbreitet vor allem nicht betreute Kinder kennt. Diese verbringen ihre Mittagszeit zu Hause vor dem Fernseher oder am Computer und essen vorwiegend unterwegs.
Die vom Zürcher Stadtrat präsentierte Vision will einer gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen, die kaum mehr umkehrbar ist. Beide Elternteile sind berufstätig und entsprechend auf einen Betreuungsplatz für ihre Sprösslinge angewiesen. Im Ausland sind ähnliche Schulmodelle längst selbstverständlich.

Ob allerdings der Mittagstisch an den Stadtzürcher Schulen zum Obligatorium wird, ist offen. Vorläufig gibt sich der Stadtrat wohlweislich vorsichtig. Wer zu Hause essen wolle, der werde dies voraussichtlich auch 2025 tun können, betont er. Dass diese Freiwilligkeit erhalten bleibt, ist überaus sinnvoll, nur so werden privat getragene Lösungen weiterhin ermöglicht. Durch ein Obligatorium würde auch die Möglichkeit entfallen, als Erziehungsberechtigte selbst zu entscheiden, was für das eigene Kind als opportun erachtet wird.

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