Stadtrat Gerold Lauber ortet ein Sparpotential von 30 bis 40 Millionen Franken jährlich, Bild: SRF
Wider die Romantisierung, NZZ, 3.9. von Natalie Avanzino
In Zürcher Familien sind heute 70 Prozent der
Mütter sowie 98 Prozent der Väter Teil- oder Vollzeit erwerbstätig. Von den
derzeit 27 000 Stadtzürcher Schülern und Schülerinnen werden rund 13 000 am
Mittag oder nach der Schule in Horten betreut. Das Schul- und Sportdepartement
der Stadt Zürich geht davon aus, dass in wenigen Jahren bereits 70 Prozent der
Zürcher Eltern einen Betreuungsplatz für ihren Nachwuchs in Anspruch nehmen
werden. Um nicht das bisherige, zweigleisige Modell von Schule und Hort, das
weder pädagogisch noch ökonomisch Sinn ergibt, weiter aufzublasen, will Stadtrat
Gerold Lauber bis 2025 flächendeckend städtische Tagesschulen einführen. Diese
sollen den Eltern eine Berufstätigkeit von mindestens 140 Stellenprozent
erlauben. Am Dienstag präsentierte Lauber das Pilotprojekt «Tagesschule 2025»:
Sieben Zürcher Schulen sollen im Sommer 2016 gänzlich auf bis in den Nachmittag
hineinreichende Blockzeiten umstellen und Mittagstische für alle Stufen
anbieten.
Ersparnis von 30 bis 40 Millionen Franken
Aus betrieblicher Sicht ist das
Zusammenwachsen von Unterricht und Betreuung eine Notwendigkeit für eine
effiziente Nutzung der Infrastruktur und damit dafür, dass der stetig
steigenden Nachfrage nach schulergänzender Betreuung trotz begrenztem
Raumangebot entsprochen werden kann. Laubers Idee ist es, das neue Modell im
Rahmen eines Pilotprojekts auf städtischer und in einer zweiten Phase in einem
Schulversuch auf kantonaler Ebene hinsichtlich der Akzeptanz von Tagesschulen
zu erproben. In einer dritten Phase will er die flächendeckende Umsetzung
einleiten.
Vorerst will dies heissen: Kinder im
Pilotprojekt verbringen mittags diejenigen Tage in der Schule, an welchen sie
nachmittags Unterricht haben. Da die Lektionenzahl mit dem Alter steigt, nimmt
die Anzahl mit den Jahren zu. Die heutige durch die Eltern gebuchte Anzahl
Horttage liegt in Kindergarten und Primarschule durchschnittlich bei etwas über
drei Mittagen pro Woche. Deshalb kann der Stadtrat davon ausgehen, dass die
Tagesschulen von denjenigen Eltern, welche die ausserschulischen
Betreuungsangebote bereits nutzen, akzeptiert werden.
Durch die Umstellung auf das neue Angebot
verspricht sich Lauber für das Schul- und Sportdepartement beträchtliche
ökonomische Vorteile. Er geht von einer Kostenersparnis gegenüber dem heutigen
Modell von rund 15 Prozent aus; dies entspräche 30 bis 40 Millionen Franken
jährlich.
Zuerst muss allerdings der Zürcher
Gemeinderat den Kredit von 19,1 Millionen Franken für das Pilotprojekt
bewilligen. Positiv anzumerken ist sicherlich, dass mit dem erweiterten
Schulangebot eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf angestrebt wird.
Dies muss längerfristig natürlich auch volkswirtschaftlich interessant sein, da
aufgrund der kompakteren Arbeitszeit der Eltern sich Arbeitspensen besser
arrangieren lassen. Deswegen und durch die Erhöhung der Standortqualität für
gut qualifizierte Arbeitskräfte kann sich die Stadt höhere Steuererträge
erhoffen.
Privat getragenen Lösungen Hand bieten
Einstweilen ist aus pädagogischer Sicht fast
unbestritten: Tagesschulen bringen durch die Mahlzeit im Klassenverband eine
verbesserte Struktur in den Alltag der Kinder, die heute über Mittag im Hort
auf ständig wechselnde Gruppenzusammensetzungen treffen. Davon profitiert
genauso das Betreuungspersonal, das qualitativ bessere Arbeit erbringen kann.
Für eine immer kleinere Gruppe von Kindern, die bisher zu Hause gegessen haben,
wird die Umstellung allerdings einschneidend sein. Kann der familiäre Rahmen
doch Gelegenheit bieten, ein paar ruhige Minuten im schulischen Alltag zu
finden. Wer Kinder im Schulalter hat, kann die Argumente der Befürworter, aber
auch die der Gegner verstehen. Nur: Die Romantisierung des Mittagessens am
Familientisch steht im krassen Gegensatz zu einer Realität, die verbreitet vor
allem nicht betreute Kinder kennt. Diese verbringen ihre Mittagszeit zu Hause
vor dem Fernseher oder am Computer und essen vorwiegend unterwegs.
Die vom Zürcher Stadtrat präsentierte Vision
will einer gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen, die kaum mehr
umkehrbar ist. Beide Elternteile sind berufstätig und entsprechend auf einen
Betreuungsplatz für ihre Sprösslinge angewiesen. Im Ausland sind ähnliche
Schulmodelle längst selbstverständlich.
Ob allerdings der Mittagstisch an den
Stadtzürcher Schulen zum Obligatorium wird, ist offen. Vorläufig gibt sich der
Stadtrat wohlweislich vorsichtig. Wer zu Hause essen wolle, der werde dies
voraussichtlich auch 2025 tun können, betont er. Dass diese Freiwilligkeit
erhalten bleibt, ist überaus sinnvoll, nur so werden privat getragene Lösungen
weiterhin ermöglicht. Durch ein Obligatorium würde auch die Möglichkeit
entfallen, als Erziehungsberechtigte selbst zu entscheiden, was für das eigene
Kind als opportun erachtet wird.
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