Zahlreiche Studien zeigen: Aus pädagogischer Sicht macht es Sinn, den Unterricht auf die Oberstufe zu verlegen. Dies stärke sogar den nationalen Zusammenhalt, sagt ein Sprachdidaktiker.
"Wer den Fremdsprachenunterricht auf der Primarschule verteidigt, ist immun gegen Fakten", Bild: taz.blogs
Wer spät beginnt, lernt besser, Neue Luzerner Zeitung, 29.8. von Kari Kälin
Nach dem Thurgauer Parlament will auch die Nidwaldner Regierung das Frühfranzösisch abschaffen. Künftig sollen die Schüler auf der Primarstufe nur noch Englisch büffeln. Französisch sollen sie erst ab der Oberstufe lernen, dafür aber mit mehr Wochenlektionen. Der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid (SVP) will die Teenager zudem in einen zweiwöchigen, obligatorischen Sprachaufenthalt in die Westschweiz schicken. Mit solch einem Intensivkurs, ist Schmid überzeugt, parlieren die Nidwaldner künftig besser Französisch.
SP mit Aktion für Mehrsprachigkeit
Gleichwohl hat die Nidwaldner Regierung den bereits schwlenden Sprachenstreit noch verschärft. Sowohl in der Romandie als auch in der Deutschschweiz werden Stimmen laut, die um den nationalen Zusammenhalt bangen. Für heute Nachmittag hat deshalb die SP auf dem Bundesplatz Bern eine Aktion für die Mehrsprachigkeit angekündigt.
Die Losung "Je früher, desto besser" - sie basierte auf Erkenntnissen aus der Hirnforschung - bewegte die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) dazu, an der Primarschule zwei Fremdsprachen zu installieren. Doch taugt dieses Modell auch aus pädagogischer Sicht? "Nein", sagt der Bündner Sekundarlehrer und Sprachdidaktiker Urs Kalberer (52). "Schüler, die später, aber dafür mit mehr Wochenlektionen eine Fremdsprache lernen, erzielen viel bessere Ergebnisse", sagt er. Eine Vielzahl von Studien belege diesen Befund. Keine einzige Untersuchung beweise das Gegenteil. "Wer den Fremdsprachenunterricht auf der Primarstufe verteidigt, ist immun gegen Fakten", sagt Kalberer. Ältere Schüler würden die Struktur einer Sprache besser verstehen und sie daher schneller begreifen. In Kalberers Augen baut der Kanton Nidwalden den Französischunterricht mit der Verlegung auf die Oberstufe massiv aus. Der Sekundarlehrer, der früher selber die Sprache Molières unterrichtete, kann die Opposition gegen diesen Entscheid nicht nachvollziehen: "Ich begreife nicht, weshalb man sich in der Westschweiz gegen die Stärkung des Französischunterrichts wehrt."
Kalberer plädiert grundsätzlich dafür, den Fremdsprachenunterricht auf die Oberstufe zu verschieben. Schliesslich hat er in einer Studie selber nachgewiesen, dass Sekundarschüler Englisch deutlich schneller lernen als Primarschüler.
Der Sandkasten-Faktor
Das "Frühstarter" gegenüber "Spätstartern" kaum Vorteile haben, bestätigt auch Markus Kübler, Abteilungsleiter Forschung und Entwicklung der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen. "Anfängliche Vorsprünge werden durch schnelleres und effizienteres Lernen der Spätstarter in der Regel wettgemacht", schreibt er in einer Expertise, die er im Auftrag des Schaffhauser Lehrerverbandes verfasst hat. Dabei analysierte Kübler mehrere einschlägige Studien aus dem In- und Ausland.
Die EDK drängte unter anderem auf Frühenglisch und -französisch, weil kleine Kinder eine neue Sprache quasi ein passant lernen. Genau hier liegt der entscheidende Denkfehler: Diese Annahme trifft nur dann zu, wenn Kinder im Alltaag permenent mit der Fremdsprache konfrontiert sind und diese quasi aufsaugen. "Schulische Instruktion führt aber nicht dazu, dass Kinder am Ende der obligatorischen Schulzeit besser sprechen, wenn sie früher mit einer Fremdsprache beginnen", sagt Kübler. Oder anders formuliert: Zwei oder drei Lektionen im Klassenzimmer ersetzen nie und nimmer ein dauerhaftes Sprachbad im Sandkasten.
Probleme beim Zügeln
Für Markus Kübler hat die Nidwaldner Lösung aus pädagogischer Sicht "vieles für sich". Sie schaffe aber ein neues Problem, nämlich für Eltern, die von Nidwalden in einen anderen Kanton mit Frühfranzösisch zügeln wollten. Er hielte es für zielführender, wenn sich die Nidwaldner mit den anderen Zentralschweizer Kantonen auf ein Modell einigen würden. Kübler hofft, dass der Nidwaldner Entscheid eine breite Debatte über den Fremdsprachenunterricht auslöst. In seiner Expertise hat er diverse Empfehlungen formuliert. Damit der Fremdsprachenunterricht von Erfolg gekrönt sei, müssten die Schüler zuerst die Standardsprache richtig beherrschen, so Kübler. Man solle also mehr Deutsch unterrichten. Ausserdem soll der Fremdsprachenunterricht in kleineren Gruppen stattfinden. Schliesslich plädiert er auch dafür, einige Fächer, zum Beispiel Turnen, in einer Fremdsprache zu unterrichten.
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