Die Emotionen in der Westschweiz kochen über, Bild: Schweizerseiten.ch
Erziehungsgilde aus dem Paralleluniversum gerissen, Basler Zeitung, 29.8. von Alain Pichard
Der Entscheid des
Kantons Thurgau, sich vom Frühfranzösisch-Konzept zu verabschieden, löst in der
Westschweiz, aber auch unter der edlen Gilde der Erziehungsdirektoren heftige
Reaktionen aus. Es ist die Aufgescheuchtheit von Leuten, die jahrelang einem Mainstream
gefolgt sind, empirische Resultate verdrängt und politische Erwartungen
geschürt haben, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht liegen. Kurz,
Erziehungsdirektoren und Bildungspolitiker sind unsanft aus ihrem
Paralleluniversum gerissen worden.
Die neuste Expertise des
Schaffhauser Lehrervereins bringt es auf den Punkt: Frühstarter haben im
Vergleich zu Spätstartern keine entscheidenden Vorteile, Spätstarter erlernen
eine Fremdsprache wesentlich effizienter als Frühstarter.
So weit, so gut. Wenn
man nun aber mangels Kenntnissen und Argumenten dazu übergeht, einen Kanton mit
seinen Einwohnern pauschal als rückständig, isolationistisch und respektlos zu diffamieren,
und am Schluss noch die alberne SVP-Verschwörungsschublade zieht, hört die
sachliche Debatte auf. Den Frühfranzösisch-Befürwortern sei deshalb in
Erinnerung gerufen, um was es bei der Bildungspolitik eigentlich gehen sollte.
Für den nationalen
Zusammenhalt ist es nicht wichtig, wann wir mit einer Sprache beginnen, sondern
wie gut die Schüler diese nach dem Ende der obligatorischen Schulzeit
beherrschen.
Es wäre deshalb
angezeigt, würden unsere Frühfranzösisch-Fans aus der Westschweiz die
Deutschkenntnisse ihrer Schüler mit den Französischkenntnissen ihrer Thurgauer
Alterskameraden vergleichen. In der Auswertung der Pisa-Studie, die die
Schweizer Kantone untereinander vergleicht, heisst es: «In allen vier
Bereichen, die in Pisa 2003 getestet wurden, liegen die Mittelwerte der
Thurgauer Schülerinnen und Schüler in der Spitzengruppe der Schweizer Kantone.
Ausserdem gehört der Thurgau zu jenen Kantonen, in denen ein
überdurchschnittlich grosser Anteil aller Schülerinnen und Schüler die hohen
und höchsten Kompetenzstufen in den vier Gebieten erreicht.»
Zum Vergleich: Der
Kanton Genf belegte in derselben Studie den zweitletzten und der Kanton Tessin
den letzten Platz, also genau die Kantone, die den Kanton Thurgau jetzt
kritisieren. Und im Kanton Basel-Stadt waren die Ergebnisse derart desaströs,
dass es das Erziehungsdepartement vorgezogen hat, an diesen Studien nicht mehr
teilzunehmen.
Thurgau hat Harmos zwar
abgelehnt. Allerdings hat der Kanton wesentliche Elemente von Harmos schon
lange eingeführt. Dieser konservative Kanton hat überdurchschnittlich viele
altersgemischte Klassen, zweijährige Kindergärten, eine hervorragende
Sprachförderung, progressive Schulmodelle und verfügt über eine hervorragende
schulische Infrastruktur.
Der Kanton Genf und die
Stadt Basel haben zwar eine fast doppelt so hohe Maturitätsquote wie der Kanton
Thurgau, aber dafür auch eine dreimal höhere Jugendarbeitslosigkeit. Thurgau
setzt auf das duale Berufsbildungssystem und ermöglicht es so vielen seiner
Jugendlichen, eine Karriere mit der in Genf verpönten Berufslehre zu machen.
Während in unseren lateinischen Kantonen viel über Chancengleichheit und
Integration schwadroniert wird, wird im Thurgau die Integration über den
Arbeitsmarkt unaufgeregt vorangetrieben.
In der Liste der
innovativen Schulen sind auffallend viele Schulen aus dem Kanton Thurgau zu
finden. Individualisierter Unterricht mit Mass, progressive
Unterrichtsmethoden, moderate Vergleichstest u. v. m. hat Thurgau bereits eingeführt, während andere Kantone in
diesen Bereichen noch am Planen sind oder das Ganze aus Spargründen auf Eis
gelegt haben. In Thurgau haben sie erkannt: Frühfranzösisch ist extrem teuer.
Dieses Geld zu investieren, lohnt sich nur, wenn damit ein pädagogischer
Mehrwert verbunden ist. Deshalb investiert der Kanton dieses Geld lieber dort,
wo es dringender gebraucht wird (Frühförderung, Muttersprache, solide Lohnentwicklung
bei Lehrkräften).
Statt sich dem
ausgelösten Dialog zu stellen, verschliessen sich die Bildungspolitiker vor den
Fakten und diffamieren einen ganzen Kanton. Es ist am Leser, zu beurteilen,
welche bildungspolitisch Verantwortlichen eine effektivere Leistung «für den
nationalen Zusammenhalt» bringen. Der Kanton Thurgau jedenfalls hat sich aus
dem Würgegriff der nationalen Politik befreit und das Primat der Pädagogik
wieder eingeführt.
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