29. August 2014

Erziehungsgilde aus dem Paralleluniversum gerissen

Der Kanton Thurgau besinnt sich auf das Primat der Pädagogik und wird dafür aus der Westschweiz kritisiert.




Die Emotionen in der Westschweiz kochen über, Bild: Schweizerseiten.ch

Erziehungsgilde aus dem Paralleluniversum gerissen, Basler Zeitung, 29.8. von Alain Pichard


Der Entscheid des Kantons Thurgau, sich vom Frühfranzösisch-Konzept zu verabschieden, löst in der Westschweiz, aber auch unter der edlen Gilde der Erziehungsdirektoren heftige Reaktionen aus. Es ist die Aufgescheuchtheit von Leuten, die jahrelang einem Mainstream gefolgt sind, empirische Resultate verdrängt und politische Erwartungen geschürt haben, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht liegen. Kurz, Erziehungsdirektoren und Bildungspolitiker sind unsanft aus ihrem Paralleluniversum gerissen worden.
Die neuste Expertise des Schaff­hauser Lehrervereins bringt es auf den Punkt: Frühstarter haben im Vergleich zu Spätstartern keine entscheidenden Vorteile, Spätstarter erlernen eine Fremdsprache wesentlich effizienter als Frühstarter.
So weit, so gut. Wenn man nun aber mangels Kenntnissen und Argumenten dazu übergeht, einen Kanton mit seinen Einwohnern pauschal als rückständig, isolationistisch und respektlos zu ­diffamieren, und am Schluss noch die alberne SVP-Verschwörungsschublade zieht, hört die sachliche Debatte auf. Den Frühfranzösisch-Befürwortern sei deshalb in Erinnerung gerufen, um was es bei der Bildungspolitik eigentlich gehen sollte.
Für den nationalen Zusammenhalt ist es nicht wichtig, wann wir mit einer Sprache beginnen, sondern wie gut die Schüler diese nach dem Ende der obligatorischen Schulzeit beherrschen.
Es wäre deshalb angezeigt, würden unsere Frühfranzösisch-Fans aus der Westschweiz die Deutschkenntnisse ihrer Schüler mit den Französisch­kenntnissen ihrer Thurgauer Alters­kameraden vergleichen. In der Auswertung der ­Pisa-Studie, die die Schweizer Kantone untereinander vergleicht, heisst es: «In allen vier Bereichen, die in Pisa 2003 getestet wurden, liegen die Mittelwerte der Thurgauer Schülerinnen und Schüler in der Spitzengruppe der Schweizer Kantone. Ausserdem gehört der Thurgau zu jenen Kantonen, in denen ein überdurchschnittlich grosser Anteil aller Schülerinnen und Schüler die hohen und höchsten Kompetenzstufen in den vier Gebieten erreicht.»
Zum Vergleich: Der Kanton Genf belegte in derselben Studie den zweitletzten und der Kanton Tessin den letzten Platz, also genau die Kantone, die den Kanton Thurgau jetzt kritisieren. Und im Kanton Basel-Stadt waren die Ergebnisse derart desaströs, dass es das Erziehungsdepartement vorgezogen hat, an diesen Studien nicht mehr teilzunehmen.
Thurgau hat Harmos zwar abgelehnt. Allerdings hat der Kanton wesentliche Elemente von Harmos schon lange eingeführt. Dieser konservative Kanton hat überdurchschnittlich viele altersgemischte Klassen, zweijährige Kindergärten, eine hervorragende Sprachförderung, progressive Schul­modelle und verfügt über eine hervorragende schulische Infrastruktur.
Der Kanton Genf und die Stadt Basel haben zwar eine fast doppelt so hohe Maturitätsquote wie der Kanton Thurgau, aber dafür auch eine dreimal höhere Jugendarbeitslosigkeit. Thurgau setzt auf das duale Berufsbildungssystem und ermöglicht es so vielen seiner Jugend­lichen, eine Karriere mit der in Genf verpönten Berufslehre zu machen. Während in unseren lateinischen Kantonen viel über Chancengleichheit und Integration schwadroniert wird, wird im Thurgau die Integration über den Arbeitsmarkt unaufgeregt vorangetrieben.
In der Liste der innovativen Schulen sind auffallend viele Schulen aus dem Kanton Thurgau zu finden. Individualisierter Unterricht mit Mass, progressive Unterrichtsmethoden, moderate Vergleichstest u.v.m. hat Thurgau bereits eingeführt, während andere Kantone in diesen Bereichen noch am Planen sind oder das Ganze aus Spargründen auf Eis gelegt haben. In Thurgau haben sie erkannt: Frühfranzösisch ist extrem teuer. Dieses Geld zu investieren, lohnt sich nur, wenn damit ein pädagogischer Mehrwert verbunden ist. Deshalb investiert der Kanton dieses Geld lieber dort, wo es dringender gebraucht wird (Früh­förderung, Muttersprache, solide ­Lohnentwicklung bei Lehrkräften).
Statt sich dem ausgelösten Dialog zu stellen, verschliessen sich die Bildungspolitiker vor den Fakten und diffamieren einen ganzen Kanton. Es ist am Leser, zu beurteilen, welche bildungspolitisch Verantwortlichen eine effektivere Leistung «für den nationalen Zusammenhalt» bringen. Der Kanton Thurgau jedenfalls hat sich aus dem Würgegriff der nationalen Politik befreit und das Primat der Pädagogik wieder eingeführt.

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